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Vollständige Version anzeigen : Das futuristische Manifest



Rowlf
21.02.2010, 16:43
1909 von Marinetti veröffentlicht:

1. Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.

2. Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesenselemente unserer Dichtung sein.

3. Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.

4. Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.

5. Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt.

6. Der Dichter muß sich glühend, glanzvoll und freigebig verschwenden, um die leidenschaftliche Inbrunst der Urelemente zu vermehren.

7. Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muß aufgefasst werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor den Menschen zu beugen.

8. Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte!... Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.

9. Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.

10. Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.

11. Wir werden die großen Menschenmengen besingen, welche die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolution in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge .

Der hat das tatsächlich erst gemeint.

Salazar
21.02.2010, 16:58
Ja und? Ist doch allgemein bekannt, dass viele Futuristen mit dem italienischen Faschismus sympathisierten. Eine sehr interessante Kunstrichtung übrigens. Gab letztens eine sehenswerte Ausstellung darüber im Tate Modern.

Humer
21.02.2010, 17:14
Diese Vorstellungen haben im Gewand sozialdarwinistischer Ideen und einem in die Technik verliebten Fortschittsglauben überlebt. Heute mit weniger Romantik, dafür mit dem Versuch die Wissenschaft zur Begründung heranzuziehen. Auf jeden Fall ist es interessant zu sehen, woher eine der Wurzeln des Fachismus kommt.

Rowlf
21.02.2010, 17:22
Diese Vorstellungen haben im Gewand sozialdarwinistischer Ideen und einem in die Technik verliebten Fortschittsglauben überlebt. Heute mit weniger Romantik, dafür mit dem Versuch die Wissenschaft zur Begründung heranzuziehen. Auf jeden Fall ist es interessant zu sehen, woher eine der Wurzeln des Fachismus kommt.

Der Futurismus ging irgendwann sogar Mussolini zu weit, sodass die Zusammenarbeit weitgehend eingestellt wurde.

Waldgänger
21.02.2010, 22:58
Zahlreiche linke Renegaten und Revisionisten schlossen mit dem Ideologiegebäude des Protofaschismus auf, oder waren gar dessen Begründer (Georges Sorel, der frühere Sozialist Benito Mussolini, allerlei futuristische Künstler u.a.). Ein blinder Fleck der von vielen Linken oftmals ausgeblendet wird. Gerade die oftmals blutleer daherkommende marxistische Analyse und die mangelnde bildliche Vision des Marxismus ließen für viele Linke den Faschismus sympathisch erscheinen, dieser verstand es nämlich das visionäre Feld zu besetzen, auch wenn es eine negative Vision absoluter Herrschaft war.

Allerlei Elemente der faschistischen Ideologie bildeten sich bereits in der alten Arbeiterbewegung heran, z.B. Autoritarismus, Avantgarde-Kult, Verkündigung absoluter Wahrheiten, Technik- und Fortschrittsverehrung, Arbeitsfetischismus usw. Und zwar ab dem Zeitpunkt, wo die Arbeiterbewegung ihren kritischen Gehalt verlor. Adorno hat dies des Öfteren thematisiert.

Wir haben es hier mit dem Phänomen der halbierten Aufklärung zu tun. Das Sinnliche wurde von der Ratio abgespalten, die Aufklärung sah in ersterem ein Manko das es zu überwinden gelte. Daraus speiste sich die Gegenaufklärung, angefangen mit der Romantik über dezidiert antiaufklärerische Gruppen und der Sehnsucht nach einem „unberührten Naturzustand”. Die Wahrnehmung der Aufklärung als Degenerationsprozess ließ wesentliche Fragmente späterer Ideologie-Elemente des Faschismus entstehen.

Auf der anderen Seite wurde „die Vernunft” zu einem abstrakten metaphysischen Dogma erhoben. Natur und Mensch sollten beherrschbar sein. Vernunft wird hier rein instrumentell verstanden. Im Faschismus kommen instrumentelle Vernunft und Gegenaufklärung zusammen. Die heilsgeschichtliche Mission des „reinen Naturzustandes” mischt sich mit der zum Selbstzweck verkommenen instrumentellen Vernunft. Der Mensch wird zum Objekt. Der weitere Verlauf dieses Denkgebäudes sollte uns bekannt sein.

Sinnlichkeit und Ratio müssen zusammen kommen. In der Synthese einer sinnlichen Vernunft. In dieser ist der Mensch und das Lebendige der höchste Wert des Menschen. Alles andere kann nur technisches Werkzeug zur Verbesserung der Lebensumstände sein. Aus dieser Analyse heraus kann Aufklärung in unserer Zeit nur eine Zukunft haben sofern sie stets Selbstkritik als Begleiterin mit sich führt.

mabac
25.02.2010, 11:41
1909 von Marinelli veröffentlicht:


Von Marinetti!

Siehe auch Gottfried Benn: Rede auf Marinetti! :D

mabac
02.03.2010, 01:17
Nun, die Italiener waren schon immer von froher Natur.
Ein ehemaliger Arbeitkollege, der im WK II einige Jahre da verbrachte, meinte, die Italiener haben nur ein Motto:


Ficki, facko, auf Matratzo in Baracko!

Das war auch in Fiume so, wo öffentliche Orgien stattfanden.

Zu Fiume:



Carta del Carnaro

Die Carta del Carnaro war eine Verfassung, die anarchistische, proto-faschistische und demokratische Elemente enthielt. D'Annunzio wird häufig als Wegbereiter der Rituale des italienischen Faschismus gesehen. Seine politischen Ideen entwickelte er in Fiume gemeinsam mit dem Anarchosyndikalisten Alceste De Ambris. De Ambris schuf den gesetzlichen und politischen Rahmen und D'Annunzio fügte seine Fähigkeiten als Poet und Redner hinzu. De Ambris war der Anführer einer Gruppe italienischer Matrosen; die gemeutert und ihre Schiffe in die Dienste D'Annunzios gestellt hatten. Die Carta sah einen korporativen Staat mit neun Korporationen vor, in denen die Mitgliedschaft Pflicht war und die als ständische Körperschaften der Berufs- und Volksgruppen die verschiedenen Bereiche des öffentlichen Lebens vertreten sollten. Eine zehnte, mystische Zunft war dem „unbekannten Genius“ geweiht.
...
Die Carta erklärte die Musik zum fundamentalen Prinzip des Staates.

http://de.wikipedia.org/wiki/Italienische_Regentschaft_am_Quarnero

Die Petze
02.03.2010, 01:28
Technikgläubigkeit und extremer Individualismus führten zu faschistischen Positionen ..........
Heil Mamanulli!

Sauerländer
02.03.2010, 15:29
Der hat das tatsächlich erst gemeint.
Im ersten Moment mag es gewiss nahezu unbegreiflich sein, wie jemand soetwas in anderer als satirischer Absicht von sich gegen kann. Aber andererseits - 1909...
Was hatte die zur vollsten Blüte gelangte Moderne denn dem zu bieten, der in der Tat auf das Alte, Gewachsene, Schöne blicken wollte? Womit konnte sie glänzen?
Ihr einziger Reiz, der dafür aber umso mächtiger, lag in der Dynamik der aufgebauten immer größeren Spannung, in der Menge an Energie, die durch die immer weiträumigere Umsetzung von wirklich allem in solche vorhanden war. Diese Energie, diese Macht, diese Geschwindigkeit konnte -mit ein wenig Einfühlungsvermögen kann man sich hineindenken- durchaus rauschhaft erlebt werden, man konnte regelrecht besoffen davon werden. Und wenn sich das nun noch mit einem gewissen nihilistischen Tatendrang verbindet, wie er in dieser zugleich extrem dynamischen, aber alle Sinnsysteme bereits weitgehend vernichtet habenden Zeit alles andere als schwer anzutreffen ist, dann ist der Schritt wahrlich nicht mehr weit, Kampf, Krieg, Attentat, Rennwagen und Industrie zu besingen und zu preisen.
Ein deutlicher Ausdruck der Tatsache, dass eine ganze Zeit dem Wahnsinn anheimgefallen ist, das gewiss, aber was bringt es, dem Boten den Kopf abzuhacken?
Eine "normalere" Reaktion auf die Zeit wäre eher eine Art trauriger, resignierter, aber umso grundsätzlicherer Ekel gewesen. Aber wieviele Leute ertragen schon die Isolation, die der mit sich gebracht hätte?

Sauerländer
02.03.2010, 16:09
Der Futurismus ging irgendwann sogar Mussolini zu weit, sodass die Zusammenarbeit weitgehend eingestellt wurde.
Nun, mit einem solchen nihilistischen Rausch kann man auf Dauer keinen Staat machen.
Wie ja umgekehrt die Nationalsozialisten ihren vergangenheitsorientierten Blut und Boden-Kult, die Propagierung des bäuerlichen Ideals und ganz allgemein diese mehrfach gebrochene spätestromantische Gegenwartsverachtung deutlich reduziert haben.
Vermeintliche oder tatsächliche ideologische Grundlagen sind eben in aller Regel nicht so stark wie die ganz pragmatischen Notwendigkeiten des alltäglichen Herrschens.