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Vollständige Version anzeigen : Christlicher Individualismus - Oscar Wilde



Apotheos
19.10.2009, 15:46
»Erkenne dich selbst!« stand am Eingang der antiken Welt geschrieben. Über dem Eingang der neuen Welt wird geschrieben stehen »sei du selbst«. Und die Botschaft Christi an den Menschen lautete einfach »sei du selbst«. Dies ist das Geheimnis Christi.

Wenn Jesus von den Armen spricht, so meint er eigentlich Persönlichkeiten, und wenn er von den Reichen spricht, meint er eigentlich diejenigen, die ihre Persönlichkeit nicht entwickelt haben. Jesus lebte in einem Staat, der die Anhäufung von Privateigentum genauso gestattete, wie es heutzutage bei uns der Fall ist; und die Botschaft, die er predigte, war nicht etwa, dass es in einer solchen Gesellschaft für den Menschen von Vorteil sei, sich von unbekömmlicher, kärglicher Speise zu nähren, zerlumpte, schmutzige Kleider zu tragen, in schrecklichen, ungesunden Wohnungen zu leben oder dass es von Nachteil sei, wenn der Mensch unter gesunden, angenehmen und angemessenen Verhältnissen lebt. Eine solche Anschauung wäre zu seiner Zeit falsch gewesen, und sie wäre natürlich erst recht falsch im heutigen England; denn je weiter man nach Norden kommt, desto wichtiger werden die materiellen Lebensvoraussetzungen, und unsere Gesellschaft ist viel komplexen und weist viel schärfere Gegensätze von Luxus und Elend auf als irgendeine Gesellschaft der antiken Welt. Was Jesus dem Menschen sagen wollte, war einfach dies: »Deine Persönlichkeit ist etwas Wertvolles. Entwickle sie. Sei du selbst. Glaube nicht, dass du durch das Anhäufen oder den Besitz von materiellen Gütern deine Vollendung erlangst. In dir selbst liegt deine Vollendung. Wenn du das nur wahrhaben könntest, würdest du nicht nach Reichtum streben. Äußere Reichtümer können dem Menschen geraubt werden. Die echten Reichtümer nicht. In der Schatzkammer deiner Seele liegen unermessliche Kostbarkeiten, die dir niemand wegnehmen kann. Und darum versuche dein Leben so einzurichten, dass Äußerlichkeiten dir nichts anhaben können. Und versuche auch, dich von deinem persönlichen Eigentum zu befreien. Es verursacht eine kleinliche Befangenheit, unendliche Mühsal, unaufhörlichen Ärger.« Das persönliche Eigentum behindert den Individualismus auf Schritt und Tritt. Man sollte sich vor Augen halten, dass Jesus niemals davon spricht, dass die armen Leute notwendigerweise gut seien und die Reichen notwendigerweise schlecht. Das wäre nicht richtig gewesen. Die Reichen sind als Klasse besser als die Armen, sie sind sittlicher, geistiger, besser erzogen. Es gibt nur eine Gesellschaftsklasse, die mehr an das Geld denkt als die Reichen, und das sind die Armen. Die Armen können an nichts anderes denken. Darin liegt ihr Unglück. Jesus will sagen, dass der Mensch nicht durch das, was er hat, nicht einmal durch das, was er tut, sondern nur durch das, was er ist, zu seiner Vollendung gelangt. Und so wird der reiche Jüngling, der zu Jesus kommt, als ein untadeliger Bürger dargestellt, der kein Gesetz seines Staates gebrochen, keine Vorschrift seiner Religion verletzt hat. Er ist höchst achtbar in der gewöhnlichen Bedeutung dieses außergewöhnlichen Wortes. Jesus sagt zu ihm: „Du solltest dich deines Besitzes entledigen. Er hält dich von deiner Selbstverwirklichung ab. Er umstrickt dich wie ein Netz. Er ist eine Last. Deine Persönlichkeit bedarf seiner nicht. In dir und nicht außerhalb deiner selbst, wirst du finden, was du in Wirklichkeit bist und was du wirklich brauchst.« Zu seinen eigenen Freunden sagt er das gleiche. Er gibt ihnen den Rat, sie selbst zu sein. Und sich nicht immer mit anderen Dingen zu quälen. Was ist schon daran gelegen. Der Mensch ist in sich vollkommen. Wenn sie in die Welt hinausgehen, wird sich die Welt im Widerspruch zu ihnen befinden. Das ist unvermeidlich. Die Welt hasst den Individualismus. Aber das soll sie nicht bekümmern. Sie sollten gelassen in sich ruhen. Nimmt ihnen jemand den Mantel, so sollten sie ihm auch noch den Rock geben, nur um zu zeigen, dass materielle Dinge ohne Bedeutung sind. Wenn die Menschen sie schmähen, so sollten sie nichts entgegnen. Was bedeutet es schon. Was über einen Menschen gesagt wird, ändert ihn nicht. Er bleibt, was er ist. Die öffentliche Meinung ist von keinerlei Wert. Selbst wenn ihnen die Menschen mit offener Gewalt begegnen, sollen sie auf jede Gewalt verzichten. Das hieße, sich auf die gleiche niedrige Stufe zu begeben. Schließlich kann der Mensch auch im Gefängnis frei sein. Seine Seele kann frei sein. Seine Persönlichkeit kann unbehelligt bleiben. Er kann mit sich in Frieden sein. Und vor allen Dingen sollen sie sich nicht mit anderen Leuten einlassen und sich ein Urteil über sie anmaßen. Die Persönlichkeit ist etwas sehr Geheimnisvolles. Man kann einen Menschen nicht immer nach seinen Handlungen beurteilen. Er mag das Gesetz achten und doch schlecht sein. Er mag das Gesetz brechen und ist doch edel. Er ist vielleicht verdorben, ohne je etwas Böses getan zu haben. Er begeht vielleicht eine Sünde gegen die Gesellschaft und erreicht durch dieses Vergehen seine wahre Selbstvollendung.

Da war ein Weib, das hatte Ehebruch begangen. Die Geschichte ihrer Liebe wird uns nicht berichtet. Aber sie muss sehr groß gewesen sein; denn Jesus sagte, ihre Sünden seien ihr vergeben, nicht weil sie bereue, sondern weil ihre Liebe so stark und wundervoll sei. Später, kurze Zeit vor seinem Tod, als er bei einem Mahle saß, trat das Weib ein und goss Wohlgerüche auf sein Haar. Seine jünger versuchten, sie daran zu hindern und sagten, das sei Verschwendung, und das Geld für die Spezereien hätte besser für ein Werk der Barmherzigkeit an notleidenden Menschen oder ähnliche Zwecke aufgewendet werden sollen. Jesus stimmte dieser Anschauung nicht zu. Er betonte, dass die materiellen Bedürfnisse des Menschen groß und sehr beständig seien, aber die geistigen Bedürfnisse des Menschen seien noch größer, und eine Persönlichkeit könne in einem göttlichen Augenblick zu ihrer Vollkommenheit gelangen, indem sie die Form ihres Ausdrucks selber wähle. Die Welt verehrt dieses Weib noch heute als eine Heilige.

Ja, es liegt sehr viel Anziehendes im Individualismus. Der Sozialismus hebt zum Beispiel das Familienleben auf. Mit der Abschaffung des Privateigentums muss die Ehe in ihrer gegenwärtigen Form verschwinden. Das ist ein Teil des Programms. Der Individualismus nimmt diesen Grundsatz auf und verfeinert ihn. Er wandelt die Abschaffung gesetzlichen Zwanges in eine Form der Freiheit um, die der vollen Entfaltung der Persönlichkeit dient und die Liebe zwischen Mann und Frau wundervoller, schöner und freier machen wird. Jesus wusste dies. Er verwarf die Ansprüche des Familienlebens, obwohl sie zu seiner Zeit und in der damaligen Gesellschaft eine sehr ausgeprägte Rolle spielten. »Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?« erwiderte er, als man ihm berichtete, dass sie mit ihm zu sprechen wünschten. Als einer seiner Jünger um die Erlaubnis bat, sich entfernen zu dürfen, um seinen Vater zu begraben, lautete seine furchtbare Antwort: »Lass die Toten die Toten begraben.« Er ließ keinen wie auch immer gearteten Anspruch gelten, der an die Persönlichkeit gestellt wurde.

Und darum führt nur der ein Leben im Sinne Christi, der ganz und gar er selbst bleibt. Er mag ein großer Dichter sein oder ein großer Gelehrter oder ein junger Universitätsstudent oder einer, der die Schafe auf der Heide hütet; ein Dramendichter wie Shakespeare oder ein Gottesgrübler wie Spinoza; oder ein Kind, das im Garten spielt, oder ein Fischer, der sein Netz ins Meer wirft. Es kommt nicht darauf an, was er ist, solange er alle Möglichkeiten seiner Seele zur Entfaltung bringt. Alle Nachahmung in Dingen der Moral und im Leben ist von Übel. Durch die Straßen von Jerusalem schleppt sich in unseren Tagen ein Wahnsinniger, der ein hölzernes Kreuz auf den Schultern trägt. Er ist ein Symbol aller Menschenleben, die durch Nachahmung zerstört sind. Vater Damien handelte im Sinne Christi, als er auszog, mit den Leprakranken zu leben, denn durch diesen Dienst brachte er das Beste in sich zur Vollendung. Doch war er Christus nicht näher als Wagner, als dieser seine Seele in der Musik verwirklichte; oder als Shelley, der seine Seele im Gesang vollendete. Die Seele des Menschen ist nicht an eine Erscheinungsform gebunden. Es gibt so viele Möglichkeiten der Vollkommenheit, wie es unvollkommene Menschen gibt. Und während man sich den Ansprüchen der Wohltätigkeit unterwerfen und doch frei bleiben kann, so bleibt niemand frei, der sich mit den Ansprüchen des Konformismus einlässt.

Den Individualismus sollen wir also durch Sozialismus erlangen. Der Staat muss infolgedessen jede Absicht zu herrschen aufgeben. Er muss sie aufgeben, weil man zwar, wie ein Weiser einmal viele Jahrhunderte vor Christus sagte, die Menschheit sich selbst überlassen kann; aber die Menschheit regieren, das kann man nicht. Alle Arten des Regierens erweisen sich als Missgriff. Der Despotismus ist ungerecht gegen alle, auch gegen den Despoten, der vielleicht zu etwas Besserem bestimmt war. Oligarchien sind ungerecht gegen die vielen, und Ochlokratien sind ungerecht gegen die wenigen. Einmal hat man große Hoffnungen in die Demokratie gesetzt; aber Demokratie ist nichts anderes als das Niederknüppeln des Volkes durch das Volk für das Volk. Das ist erwiesen. Ich muss sagen, es war höchste Zeit. Denn jede Autorität erniedrigt. Sie erniedrigt gleichermaßen Herrscher und Beherrschte. Wird sie gewalttätig, brutal und grausam ausgeübt, so ruft sie eine positive Wirkung hervor, indem sie den Geist der Revolte und den Individualismus anstachelt, der sie vernichten soll. Wird sie mit einer gewissen Großzügigkeit ausgeübt und werden Preise und Belohnungen vergeben, so ist ihre Wirkung furchtbar demoralisierend. In diesem Fall werden sich die Menschen des furchtbaren Druckes, der auf ihnen lastet, weniger bewusst und gehen in einer Art von vulgärem Wohlbehagen durch das Leben wie zahme Haustiere, ohne jemals zu erkennen, dass sie wahrscheinlich die Gedanken anderer Menschen denken, nach den Normen anderer Menschen leben, dass sie gewissermaßen nur die abgelegten Kleider der anderen tragen und niemals, auch nicht einen Augenblick lang, sie selbst sind. »Wer frei sein will«, sagt ein kluger Kopf, »darf sich nicht anpassen.« Und die Autorität, die den Menschen zum Konformismus verleitet, bewirkt unter uns eine sehr grobe Form der übersättigten Barbarei.

Quelle: Oscar Wilde; http://www.marxists.org/deutsch/archiv/wilde/1891/02/seele.htm

frodo
19.10.2009, 18:06
Guten Abend Apotheos. Ich habe das mit großem Interesse gelesen. Jesus war ja in Wirklichkeit ein Revolutionär, ein nicht angepasster, also ein Veränderer. Als Rabbi, Meister hat er für damalige Zeiten große Wagnisse eingegangen, indem er Tabus brach und neue Wege aufzeigte. Jesus als revolutionär, meinetwegen als Sozialist, brachte ein neues Denken, eine Weltveränderung. Galt bis dahin Aug um Aug, Zahn um Zahn, predigte "liebet deinen nächsten", "kehrt um" und vieles das bis dahin denkunmöglich war. Danken wir dem Herrn für diese Erlösung.