Falk
17.09.2009, 07:58
Eigentlich wollte ich nur Haffners „Preußen ohne Legende“ ordern. Aber dann entdeckte ich bei einem nicht ganz unbekannten Online-Buchhändler auch sein Buch „Der Verrat – Deutschland 1918/1919“. Seit gestern liegen beide Bücher auf meinem Tisch und ich habe den „Verrat“ bereits zur Hälfte gelesen. Dieses Buch ist spannender als jeder Krimi.
Haffner beschreibt die Revolution von 1918/19 in einer Anschaulichkeit, die ihresgleichen sucht – er analysiert die Schlüsselrolle Ludendorffs als Initiator der Kapitulation und der Abschaffung der Monarchie, sowie andererseits die Rolle der „königlich preußischen“ Sozialdemokratie als Wegbereiter der Restauration und damit letztendlich des Nationalsozialismus durch ihren Verrat an der eigenen Parteibasis. Er zeigt anschaulich auf, warum die Weimarer Republik scheitern mußte.
Meine Empfehlung: unbedingt lesen!
Nachfolgend einige Leseproben:
Es muß im Herbst oder Winter 1920 gewesen sein, daß sich bei uns der Verlobte einer älteren Cousine vorstellte, ein hübscher, blonder junger Mann namens B. Es waren noch Notzeiten, das kalte Abendbrot war nur mit einem Krabbensalat aufgebessert, den meine Mutter irgendwie gezaubert hatte, und später stellte die Familie betreten fest, daß B. nur Krabben und alle Krabben aß. Aber mir machte B. durch etwas anderes Eindruck. Es stellte sich heraus, daß er Freikorps-Mann gewesen war, und er erzählte während des ganzen Essens davon, wie hart man bei den Freikorps wurde und wie man oft seinen eigenen Gefühlen männlich Gewalt antun mußte, wenn man die Gefangenen dutzendweise an die Wand stellte, besonders bei den Kämpfen im Ruhrgebiet nach dem Kapp-Putsch. „Das war die Blüte der Arbeiterjugend, die wir da erschießen mußten.“ Er blickte blau, tat sich leid und aß Krabben...
(Sebastian Haffner in der Ankündigung für die Stern-Serie „Der große Verrat")
Franz Kafkas Legende „Vor dem Gesetz“ erzählt von einem Mann, der Einlaß begehrt und, vom Torhüter immer wieder abgewiesen, sein ganzes Leben wartend und hoffend vor der Tür verbringt, unter immer wiederholten vergeblichen Versuchen, den unerbittlichen Türhüter zu erweichen. Endlich in seiner Todesstunde, brüllt ihn der Türhüter in sein „vergehendes Gehör“: „Dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“
An diese Kafkasche Legende wird man erinnert, wenn man die Geschichte des Deutschen Reiches und der deutschen Sozialdemokratie betrachtet. Fast gleichzeitig entstanden, schienen die beiden füreinander bestimmt: Bismarck hatte den äußeren Staatsrahmen geschaffen, in dem die Sozialdemokratie sich entfalten konnte und den sie eines Tages mit dauerhafter und sinnvoller politischer Substanz auszufüllen hoffte. Wäre es ihr gelungen – vielleicht existierte das Deutsche Reich noch heute.
Bekanntlich ist es ihr nicht gelungen. Das Deutsche Reich ist in die falschen Hände gefallen und ist untergegangen. Die Sozialdemokratie, die sich von Anfang an zu seiner Führung berufen fühlte und die es vielleicht hätte retten können, hat während der 74 Jahre seiner Existenz nie den Mut und die Kraft aufgebracht, sich seiner zu bemächtigen. Wie der Mann in Kafkas Legende hatte sie sich vor der Tür häuslich eingerichtet. Und auch ihr hätte die Weltgeschichte 1945 in die Ohren brüllen können: „Dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“
Aber anders als bei Kafka gibt es in dieser Geschichte einen dramatischen Augenblick, in dem sich alles zu wenden schien. Im Angesicht der äußeren Niederlage öffneten 1918 die Türhüter des Kaiserreichs den sozialdemokratischen Führern selbst das lange versperrte Außentor und ließen sie, nicht ohne Hintergedanken, freiwillig in den Vorhof der Macht; und nun sprengten die sozialdemokratischen Massen, von draußen hereinstürmend und ihre Führer überrennend und mit sich reißend, die letzten Tore zum Machtinnersten. Nach einem halben Jahrhundert des Wartens schien die deutsche Sozialdemokratie im November 1918 endlich am Ziel.
Und dann geschah das Unglaubliche: Die sozialdemokratischen Führer, widerwillig von den sozialdemokratischen Massen auf den leeren Thron gehoben, mobilisieren unverzüglich die alten herrenlos gewordenen Palastwachen und ließen ihre eigenen Anhänger wieder hinaustreiben. Ein Jahr später saßen sie selbst wieder draußen vor der Tür – für immer.
Die deutsche Revolution von 1918 war eine sozialdemokratische Revolution, die von den sozialdemokratischen Führern niedergeschlagen wurde: ein Vorgang, der in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen hat.
Immer noch redeten die deutschen Zeitungen von Durchhalten und Endsieg. Die Parlamentarier in Berlin, böser Ahnung voll, aber fern von jedem Gedanken, daß das Ende herbeigekommen sei, berieten darüber, ob es nun nicht doch allmählich an der Zeit sei, die Regierung zu wechseln und ernsthaft einen Verständigungsfrieden zu suchen. Die Frage war: Wie bringt man es Ludendorff bei?
Ihnen stand eine furchtbare Überraschung bevor. Es war Ludendorff selbst, der von einem Tag auf den andern die Regierung wechselte, und die Verfassung gleich noch dazu. Er faßte die Entschlüsse, zu denen die Parlamentarier sich nicht hatten durchringen können. Er verordnete Deutschland die parlamentarische Demokratie, und der brachte die SPD in die Regierung und ans Ziel ihrer Wünsche. Aber als Morgengabe drückte er ihr die Niederlage in die Hand, und was er jetzt von ihr verlangte, das war nicht mehr die Suche nach einem Verständigungsfrieden, sondern die Kapitulation.
Der Tag, an dem dies alles geschah, war der 29. September 1918.
...
Der 29. September 1918 ist eines der wichtigsten Daten der deutschen Geschichte, aber er ist nicht, wie andere vergleichbare Daten - der 30. Januar 1933 etwa oder der 8. Mai 1945 -, ein fester Bestandteil des deutschen Geschichtsbewußtseins geworden. Das mag zum Teil daran liegen, daß nichts von dem, was an diesem Tage geschah, am nächsten Tag in den Zeitungen stand. Das Ereignis des 29. September 1918 blieb noch jahrelang Staatsgeheimnis ...
Der 29. September 1918 war ein 8. Mai 1945 und ein 30. Januar 1933 in einem. Er brachte zugleich Kapitulation und Staatsumbau. Und beides war das Werk eines Mannes – und zwar eines Mannes, dessen verfassungsmäßige Stellung ihm nicht die geringste Befugnis zu so ungeheuren Aktionen gab: des Ersten Generalquartiermeisters Erich Ludendorff.
Hinter dem 29. September 1918 steht immer noch das Rätsel Ludendorffs: das Rätsel seiner Macht, das Rätsel seiner Persönlichkeit und das Rätsel seiner Motive.
Ludendorffs Macht war in den letzten zwei Jahren des Krieges fast unbeschränkt geworden, und nie zeigte sich ihre Schrankenlosigkeit so grell wie an diesem Tage, da er sie weggab und ihr Instrument zerbrach. Es war eine Macht, wie sie kein anderer Deutscher vor Hitler je besessen hat, auch Bismarck nicht: diktatorische Macht.
(Sebastian Haffner: „Der Verrat")
Haffner beschreibt die Revolution von 1918/19 in einer Anschaulichkeit, die ihresgleichen sucht – er analysiert die Schlüsselrolle Ludendorffs als Initiator der Kapitulation und der Abschaffung der Monarchie, sowie andererseits die Rolle der „königlich preußischen“ Sozialdemokratie als Wegbereiter der Restauration und damit letztendlich des Nationalsozialismus durch ihren Verrat an der eigenen Parteibasis. Er zeigt anschaulich auf, warum die Weimarer Republik scheitern mußte.
Meine Empfehlung: unbedingt lesen!
Nachfolgend einige Leseproben:
Es muß im Herbst oder Winter 1920 gewesen sein, daß sich bei uns der Verlobte einer älteren Cousine vorstellte, ein hübscher, blonder junger Mann namens B. Es waren noch Notzeiten, das kalte Abendbrot war nur mit einem Krabbensalat aufgebessert, den meine Mutter irgendwie gezaubert hatte, und später stellte die Familie betreten fest, daß B. nur Krabben und alle Krabben aß. Aber mir machte B. durch etwas anderes Eindruck. Es stellte sich heraus, daß er Freikorps-Mann gewesen war, und er erzählte während des ganzen Essens davon, wie hart man bei den Freikorps wurde und wie man oft seinen eigenen Gefühlen männlich Gewalt antun mußte, wenn man die Gefangenen dutzendweise an die Wand stellte, besonders bei den Kämpfen im Ruhrgebiet nach dem Kapp-Putsch. „Das war die Blüte der Arbeiterjugend, die wir da erschießen mußten.“ Er blickte blau, tat sich leid und aß Krabben...
(Sebastian Haffner in der Ankündigung für die Stern-Serie „Der große Verrat")
Franz Kafkas Legende „Vor dem Gesetz“ erzählt von einem Mann, der Einlaß begehrt und, vom Torhüter immer wieder abgewiesen, sein ganzes Leben wartend und hoffend vor der Tür verbringt, unter immer wiederholten vergeblichen Versuchen, den unerbittlichen Türhüter zu erweichen. Endlich in seiner Todesstunde, brüllt ihn der Türhüter in sein „vergehendes Gehör“: „Dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“
An diese Kafkasche Legende wird man erinnert, wenn man die Geschichte des Deutschen Reiches und der deutschen Sozialdemokratie betrachtet. Fast gleichzeitig entstanden, schienen die beiden füreinander bestimmt: Bismarck hatte den äußeren Staatsrahmen geschaffen, in dem die Sozialdemokratie sich entfalten konnte und den sie eines Tages mit dauerhafter und sinnvoller politischer Substanz auszufüllen hoffte. Wäre es ihr gelungen – vielleicht existierte das Deutsche Reich noch heute.
Bekanntlich ist es ihr nicht gelungen. Das Deutsche Reich ist in die falschen Hände gefallen und ist untergegangen. Die Sozialdemokratie, die sich von Anfang an zu seiner Führung berufen fühlte und die es vielleicht hätte retten können, hat während der 74 Jahre seiner Existenz nie den Mut und die Kraft aufgebracht, sich seiner zu bemächtigen. Wie der Mann in Kafkas Legende hatte sie sich vor der Tür häuslich eingerichtet. Und auch ihr hätte die Weltgeschichte 1945 in die Ohren brüllen können: „Dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“
Aber anders als bei Kafka gibt es in dieser Geschichte einen dramatischen Augenblick, in dem sich alles zu wenden schien. Im Angesicht der äußeren Niederlage öffneten 1918 die Türhüter des Kaiserreichs den sozialdemokratischen Führern selbst das lange versperrte Außentor und ließen sie, nicht ohne Hintergedanken, freiwillig in den Vorhof der Macht; und nun sprengten die sozialdemokratischen Massen, von draußen hereinstürmend und ihre Führer überrennend und mit sich reißend, die letzten Tore zum Machtinnersten. Nach einem halben Jahrhundert des Wartens schien die deutsche Sozialdemokratie im November 1918 endlich am Ziel.
Und dann geschah das Unglaubliche: Die sozialdemokratischen Führer, widerwillig von den sozialdemokratischen Massen auf den leeren Thron gehoben, mobilisieren unverzüglich die alten herrenlos gewordenen Palastwachen und ließen ihre eigenen Anhänger wieder hinaustreiben. Ein Jahr später saßen sie selbst wieder draußen vor der Tür – für immer.
Die deutsche Revolution von 1918 war eine sozialdemokratische Revolution, die von den sozialdemokratischen Führern niedergeschlagen wurde: ein Vorgang, der in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen hat.
Immer noch redeten die deutschen Zeitungen von Durchhalten und Endsieg. Die Parlamentarier in Berlin, böser Ahnung voll, aber fern von jedem Gedanken, daß das Ende herbeigekommen sei, berieten darüber, ob es nun nicht doch allmählich an der Zeit sei, die Regierung zu wechseln und ernsthaft einen Verständigungsfrieden zu suchen. Die Frage war: Wie bringt man es Ludendorff bei?
Ihnen stand eine furchtbare Überraschung bevor. Es war Ludendorff selbst, der von einem Tag auf den andern die Regierung wechselte, und die Verfassung gleich noch dazu. Er faßte die Entschlüsse, zu denen die Parlamentarier sich nicht hatten durchringen können. Er verordnete Deutschland die parlamentarische Demokratie, und der brachte die SPD in die Regierung und ans Ziel ihrer Wünsche. Aber als Morgengabe drückte er ihr die Niederlage in die Hand, und was er jetzt von ihr verlangte, das war nicht mehr die Suche nach einem Verständigungsfrieden, sondern die Kapitulation.
Der Tag, an dem dies alles geschah, war der 29. September 1918.
...
Der 29. September 1918 ist eines der wichtigsten Daten der deutschen Geschichte, aber er ist nicht, wie andere vergleichbare Daten - der 30. Januar 1933 etwa oder der 8. Mai 1945 -, ein fester Bestandteil des deutschen Geschichtsbewußtseins geworden. Das mag zum Teil daran liegen, daß nichts von dem, was an diesem Tage geschah, am nächsten Tag in den Zeitungen stand. Das Ereignis des 29. September 1918 blieb noch jahrelang Staatsgeheimnis ...
Der 29. September 1918 war ein 8. Mai 1945 und ein 30. Januar 1933 in einem. Er brachte zugleich Kapitulation und Staatsumbau. Und beides war das Werk eines Mannes – und zwar eines Mannes, dessen verfassungsmäßige Stellung ihm nicht die geringste Befugnis zu so ungeheuren Aktionen gab: des Ersten Generalquartiermeisters Erich Ludendorff.
Hinter dem 29. September 1918 steht immer noch das Rätsel Ludendorffs: das Rätsel seiner Macht, das Rätsel seiner Persönlichkeit und das Rätsel seiner Motive.
Ludendorffs Macht war in den letzten zwei Jahren des Krieges fast unbeschränkt geworden, und nie zeigte sich ihre Schrankenlosigkeit so grell wie an diesem Tage, da er sie weggab und ihr Instrument zerbrach. Es war eine Macht, wie sie kein anderer Deutscher vor Hitler je besessen hat, auch Bismarck nicht: diktatorische Macht.
(Sebastian Haffner: „Der Verrat")