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Vollständige Version anzeigen : Willkür in Legislative und Jurisdiktion



Dr.Zuckerbrot
03.08.2008, 17:05
Das Urteil zur Rundfunkgebühr für PCs legt es nahe, sich noch einmal mit dem Thema "willkürliche Umdefinitionen in Gesetzen oder Urteilen" zu befassen.

Im "Radarwarnerurteil" des BGH wurden seinerzeit Funkmeßgeräte zu Funkgeräten umdefiniert, um die Benutzung von Radarwarnern mit dem Mittel des Fernmelderechts zu verbieten. Sowohl das Verkehrsradargerät als auch das Radarwarngerät sind keine Fernmeldegeräte, fallen von der Sache her also nicht in den Geltungsbereich des Fernmelderechts.

Bei den internetfähigen PCs gilt Vergleichbares, siehe http://www.politikforen.net/showpost.php?p=2283184&postcount=20

Kennt jemand weitere Beispiele, wo sachlich falsche Definitionen benutzt werden, um letztlich Recht zu beugen?

-SG-
03.08.2008, 22:51
"Sachlich falsche" kenne ich jetzt keine, aber über Umdefinitionen von unklaren Wortgebilden gibt es ganze Bücher, z.B. über den großen Zusammenhang W. Fikentscher et. al. 1997: Wertewandel - Rechtswandel.


Beispielsweise galt früher das GG-Gebot über den "Schutz der Familie" als klare Norm gegen Abtreibungen, während es später als Norm für Abtreibungen interpretiert wurde, nach dem Motto: Die Familie leidet unter nicht-gewünschten Kindern und muss daher davor geschützt werden, und sie muss das selbst entscheiden dürfen usw.usf.

Rheinlaender
03.08.2008, 23:43
"Sachlich falsche" kenne ich jetzt keine, aber über Umdefinitionen von unklaren Wortgebilden gibt es ganze Bücher, z.B. über den großen Zusammenhang W. Fikentscher et. al. 1997: Wertewandel - Rechtswandel.

Dafuer sind Richter auch da: Recht dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen. Wie kaemen wir her auf der Insel sonst mit Gesetzen zu recht, die z. T. noch aus dem Hohen Mittelalter stammen? Nach dem formalen Recht haette man Diana, Princess of Wales, sonst den Hochverratsprozess machen muessen und sie koepfen. Das waere nur dem Volk nicht verstaendlich zu machen gewesen, als liess man Gesetz Gesetz sein. Aehnliches gilt z. B. heute fuer Gesetze, die harte Strafen fuer Kritik am Monarchen verlangen.

Das Kind heisst hier "Custom of the people", das die Richter (bis heute formal des Koenigs) zu berucksichten haben, wenn sie Urteile sprechen und dabei u. U. auch ein Gesetz des Koenigs oder gar des Parlaments unberuecksicht lassen muessen, obwohl vom Wortlaut es so ein anderes Urteil erzwingen muesste.

Das laueft hier schon seit paar rund 800 Jahren ganz gut.

McDuff
04.08.2008, 05:34
Das Urteil zur Rundfunkgebühr für PCs legt es nahe, sich noch einmal mit dem Thema "willkürliche Umdefinitionen in Gesetzen oder Urteilen" zu befassen.

Im "Radarwarnerurteil" des BGH wurden seinerzeit Funkmeßgeräte zu Funkgeräten umdefiniert, um die Benutzung von Radarwarnern mit dem Mittel des Fernmelderechts zu verbieten. Sowohl das Verkehrsradargerät als auch das Radarwarngerät sind keine Fernmeldegeräte, fallen von der Sache her also nicht in den Geltungsbereich des Fernmelderechts.

Bei den internetfähigen PCs gilt Vergleichbares, siehe http://www.politikforen.net/showpost.php?p=2283184&postcount=20

Kennt jemand weitere Beispiele, wo sachlich falsche Definitionen benutzt werden, um letztlich Recht zu beugen?

Es wird halt alles so zurechtgebogen wie es dem System in den Kram passt. Die Tünche des demokratischen Anstrichs wird immer dünner.

-SG-
04.08.2008, 18:56
Das Kind heisst hier "Custom of the people", das die Richter (bis heute formal des Koenigs) zu berucksichten haben, wenn sie Urteile sprechen und dabei u. U. auch ein Gesetz des Koenigs oder gar des Parlaments unberuecksicht lassen muessen, obwohl vom Wortlaut es so ein anderes Urteil erzwingen muesste.

Das laueft hier schon seit paar rund 800 Jahren ganz gut.

Selbst wenn es seit 10 Millionen Jahren gut lief, ändert das nichts daran, dass das bald ein Ende hat, denn die atomistische Gesellschaftssicht, nach der es in GB 60 Millionen "customs of the people" gibt (klar, denn ein "Volk" kann wohl keinen "Custom" haben, denn was soll das sein, ein "Volk", nicht wahr?), die wird in ihrer vulgär-radikalen Form erst seit ca. 40 Jahren von Euch gepredigt und implementiert. Selbstverständlich kann kein Richter die customs von 60 Mio individualistischen Selbstverwirklichern berücksichtigen.

Rheinlaender
04.08.2008, 19:06
Selbstverständlich kann kein Richter die customs von 60 Mio individualistischen Selbstverwirklichern berücksichtigen.

Genau das tun Richter, indem sie z. B. Klagen wegen "salacity" oder "blasphemy" nicht mehr annehmen, die sie vielleicht vor 60 Jahren noch angenommen haetten. Es ist auch aufgabe von Rihctern solchen Wertewandel zu beruecksichtigen, bishin zu Zivilprozessen, wo zumindest teilweise, obwohl kein formales Gesetz vorhanden ist, das Common Law so weiterentwicklet wurde, dass aussereheliche Verbindungen in bestimmten Aspekten von Richtern Ehen gleichgestellt sind.

-SG-
04.08.2008, 19:29
Genau das tun Richter, indem sie z. B. Klagen wegen "salacity" oder "blasphemy" nicht mehr annehmen, die sie vielleicht vor 60 Jahren noch angenommen haetten. Es ist auch aufgabe von Rihctern solchen Wertewandel zu beruecksichtigen, bishin zu Zivilprozessen, wo zumindest teilweise, obwohl kein formales Gesetz vorhanden ist, das Common Law so weiterentwicklet wurde, dass aussereheliche Verbindungen in bestimmten Aspekten von Richtern Ehen gleichgestellt sind.

In diesem Beispiel sprechen sie denjenigen Individuen, welche ihrer subjektiven Wertepräferenz nach Blasphemie für bestrafungswürdig halten, das Recht ab, für die "Customs of the people" konstitutiv zu sein, und beschränken es auf andere. Geht natürlich nicht anders, klar. Aber das dann Freiheit des Einzelnen zu nennen, ist doch wohl dann gewagt.

Rheinlaender
04.08.2008, 19:39
In diesem Beispiel sprechen sie denjenigen Individuen, welche ihrer subjektiven Wertepräferenz nach Blasphemie für bestrafungswürdig halten, das Recht ab, für die "Customs of the people" konstitutiv zu sein, und beschränken es auf andere.

Bleiben wir bei Blasphemie: Wenn heute jemand in einem Pub einen Witz ueber Jesus oder die CoE reisst, so regt sich keiner mehr auf. Das waere vielleicht vor 60 anders gewesen. Atheismus wird von Oxford Professoren offen propagiert und ist "mainstream".

Das ist von Richtern zu beruecksichtigen und das meint "custom of the people". Der Richter nicht Erzieher des Volkes.

-SG-
04.08.2008, 23:26
Bleiben wir bei Blasphemie: Wenn heute jemand in einem Pub einen Witz ueber Jesus oder die CoE reisst, so regt sich keiner mehr auf. Das waere vielleicht vor 60 anders gewesen. Atheismus wird von Oxford Professoren offen propagiert und ist "mainstream".

Das ist von Richtern zu beruecksichtigen und das meint "custom of the people". Der Richter nicht Erzieher des Volkes.

Also, mal abgesehen dass es für einen Liberalen ja schrecklich sein muss, wenn die Freiheit des Einzelnen sich einem Makrophänomen wie dem Zeitgeist (oder "mainstream") beugen muss, gibt es hier doch folgendes rechtstheoretisches Problem: Einfache Normsetzung (wie die Blasphemie unter Strafe stellen oder nicht) ist ja indirekt über Mehrheiten beeinflussbar. Man kann also argumentieren, wenn die Mehrheit über Gesetz XY mittlerweile anders denke, so kann die von ihr gewählte Legislative dies formell implementieren. Bsp. haben sich die Auffassungen über Abtreibung geändert, weshalb es die sozialliberale Koalition legalisieren konnte, ohne aus dem Amt gejagt zu werden. Das Problem dabei sind aber nicht die "normalen" Rechtssetzungen, sondern, wie in meinem ersten Beitrag erwähnt, die Verfassungsinterpretationen dazu, das Metarecht also, was sich nicht der Laune der einfachen Mehrheit, sprich dem mainstream, unterworfen sieht. Hier ging man bisher davon aus, dass der Schutz des Lebens, der Familie und die Menschenwürde in den ersten Artikeln des GG eine Legalisiernug der Abtreibung auf Basis der geltenden Verfassung nie möglich machen würde. Plötzlich, durch die Umwertung aller Werte, bezieht man die Menschenwürde auf die Mutter, verbindet das Ganze mit der Selbstverwirklichung und schafft in ein und demselben Verfassungsrahmen plötzlich die diametral entgegengesetzte Auffassung in juristische Normsetzung.

Das ist das Problem, um das es hier geht. Ich frage mich, ob im Namen der Menschenwürde, der Selbstverwirklichung und der Nichtdiskriminierung irgendwann öffentlich gesteinigt wird oder Menschenfresserei erlaubt wird?

Rheinlaender
04.08.2008, 23:42
Also, mal abgesehen dass es für einen Liberalen ja schrecklich sein muss, wenn die Freiheit des Einzelnen sich einem Makrophänomen wie dem Zeitgeist (oder "mainstream") beugen muss,

Das ist klar - ein solches Rechtfindungssystem kann auch in die "andere Richtung" ausschlagen zu weniger liberalen Verhaeltnissen. Hatten wir hier auch schon.


gibt es hier doch folgendes rechtstheoretisches Problem: Einfache Normsetzung (wie die Blasphemie unter Strafe stellen oder nicht) ist ja indirekt über Mehrheiten beeinflussbar. Man kann also argumentieren, wenn die Mehrheit über Gesetz XY mittlerweile anders denke, so kann die von ihr gewählte Legislative dies formell implementieren. Bsp. haben sich die Auffassungen über Abtreibung geändert, weshalb es die sozialliberale Koalition legalisieren konnte, ohne aus dem Amt gejagt zu werden.

Das stimmt: Aber dieser Prozess ist sehr u. U. sehr zaeh. Wie lange stand z. B. der beruehmte Prgh. 1300 im BGB ("Kranzgeld"), obwohl er von der gesellschaftlichen Realitaet schon lange ueberholt war?


Hier ging man bisher davon aus, dass der Schutz des Lebens, der Familie und die Menschenwürde in den ersten Artikeln des GG eine Legalisiernug der Abtreibung auf Basis der geltenden Verfassung nie möglich machen würde. Plötzlich, durch die Umwertung aller Werte, bezieht man die Menschenwürde auf die Mutter, verbindet das Ganze mit der Selbstverwirklichung und schafft in ein und demselben Verfassungsrahmen plötzlich die diametral entgegengesetzte Auffassung in juristische Normsetzung.

Nein, das GG ist wohl ziemlich bewusst hier mehrdeutig verfasst worden. Es ist ein Kompromispapier zwischen Liberalen, Sozialdemokraten und Konservativen. Man tat dabei das, was man gerne dann macht: Auslegenfaehige Formelkompromisse.

Die Auslegung, dass z. B. die Wuerde des Menschen die Abtreibung zwingend legal machen muesste, wurde von einigen Juristen schon 1949 vertreten. Die Mehrheit ihrer Kollegen sag dies anders und auch das BVerfG. Das hat sich heute verschoben, weil auch Juristen Teil der Gesellschaft sind, die sie umgeben.


Das ist das Problem, um das es hier geht. Ich frage mich, ob im Namen der Menschenwürde, der Selbstverwirklichung und der Nichtdiskriminierung irgendwann öffentlich gesteinigt wird oder Menschenfresserei erlaubt wird?

Sehr unwahrscheinlich - aber das hat mehr mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Realitaet zu tun als mit dem Wortlaut der Grundrechte.

Dr.Zuckerbrot
07.08.2008, 18:31
Das stimmt: Aber dieser Prozess ist sehr u. U. sehr zaeh. Wie lange stand z. B. der beruehmte Prgh. 1300 im BGB ("Kranzgeld"), obwohl er von der gesellschaftlichen Realitaet schon lange ueberholt war?



Das Kranzgeld war doch wohl ein Ersatz für einen Reputationsschaden. Wenn dieser Schaden aufgrund geänderter gesellschaftlicher Wertmaßstäbe nicht mehr auftritt, wird naturgemäß auch ein Gesetz, das den Schadensersatz regelt, obsolet.

Es geht mir aber um etwas grundlegend anderes. In den von mir genannten Beispielen werden Begriffe nach Gusto umdefiniert, überspitzt formuliert schwarz zu weiß erklärt, weil es den Verantwortlichen gerade in den Kram passt.

So etwas schafft Rechtssicherheit grundsätzlich ab. Ist die Gefahr, die so etwas mit sich bringt, nicht klar ersichtlich?