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Vollständige Version anzeigen : "Kleine Utopi oder Herr der Fliegen" - was würde aus einem autonomen Gemeinwesen?



Beverly
10.06.2008, 10:22
Man stelle sich folgendes Szenario vor:

Eine Gruppe von zunächst mehreren tausend Menschen gründet ein eigenes Gemeinwesen. Es ist politisch und wirtschaftlich autonom und kann ohne fremde Hilfe überleben und sogar wachsen. Ihnen stehen alle Erkenntnisse unserer modernen Zivilisation und alle oft leidvollen historischen Erfahrungen der Menschheit zur Verfügung. Wobei es an ihnen liegt, ob und wie sie sie nutzen und anwenden.
Schwere Handikaps wie Land zu beanspruchen, wo schon andere Menschen leben, oder ständiger Krieg mit Nachbarn (wie bei Israel) gibt es dabei nicht. Die Menschen lassen sich an einem Ort nieder, wo entweder noch niemand wohnt oder wo sie von den Bewohnern willkommen geheißen werden. Das kann auf einem anderen Planeten sein oder in einer dünn besiedelten Gegend Deutschlands. Lebensweise und Ideologie des Gemeinwesens mögen an sich auch nicht so entscheidend für Erfolg oder Misserfolg sein - solange beides zu den Menschen passt, mag es funktionieren.

Dann stellen sich zwei Fragen:

1. Was ist unerlässlich, damit das Gemeinwesen Erfolg hat?

2. Kann es überhaupt Erfolg haben?

Dem Roman resp. Film "Der Herr der Fliegen" von William Golding zufolge ist das Scheitern vorprogrammiert. In "Der Herr der Fliegen" verschlägt es eine Gruppe Schüler auf eine abgelegene und unbewohnte Insel. Da sind sie unter sich, niemand redet ihnen rein und als Schüler eines Internats verfügen sie auch über Wissen und Erfahrungen - sei es aus dem eigenen Leben, sei es aus Büchern. Anstatt zumindest bis zu ihrer Rettung ohne die lästigen Pauker einmal ausgiebig Ferien zu machen, machen sie sich das Leben zur Hölle. Käme nicht im letzten Moment die Rettung durch Erwachsenen, hätten sie sich gegenseitig umgebracht. Aus für Utopia im Kleinen!

Dem steht aber der Lebensbericht eines entflohenen französischen Sträflings gegenüber. Der floh von der Hölle einer Sträflingslkolonie in der französischen Karibik und wurde im Dschungel von einem Indianerstamm aufgenommen. Die Aufnahme war so herzlich und gastfreundlich, dass sie nahelegt, dass auch die Indianer untereinander in relativ harmonischen Verhältnissen lebten. Zwar kein perfektes Utopia, aber auch nicht jene Überfülle sinnlosen Leids, was sich heute Zivilisation schimpft. Nur wollte der Idiot zurück in eben diese Zivilisation und baute da einen Scheiß nach dem anderen X( !
Das führt zu den Schluss: was die Indianer im Amazonas können, können moderne Menschen auch. Wenn sie keine schweren Fehler machen. Wenn sie aus ihrer Zivilisation Nutzen ziehen, anstatt sich weiter von ihr deformieren zu lassen.

Also, was wird nun aus unserem Gemeinwesen? Wie gesagt, Ideologie und Lebensweise an sich ist bei der Beantwortung der Frage egal und jede/r mag die Frage mit Bezug auf ein Projekt beantworten, wo er oder sie selbst gern dabei wären. Sei es die Nazi-Kommune Wahlhalla in Vorpommern oder eine Feministinnensiedlung ;)

Beverly
10.06.2008, 10:32
Ob es auf Dauer Erfolg hat, mag ich hier nicht sagen. Damit es nicht von Anfang an zum Untergang verurteilt ist wie in Goldings "Herr der Fliegen", müssen aber einige Voraussetzungen erfüllt sein:

1. Zwischen allen Beteiligten muss es einen Konsens geben und alle müssen freiwillig an dem Projekt teilnehmen. Wer nicht oder nicht mehr will, muss das Projekt verlassen können. Neuzugängen müssen dem Konsens entsprechen.

Goldings Schüler strandeten gegen ihren Willen auf der Insel und es konnte auch keiner weg von ihr, wenn ihm seine Genossen unterträglich wurden. IMHO war dadurch das Scheitern zwar nicht vorprogrammiert, aber wahrscheinlicher geworden.

2. Es darf keine erstarrten Hierarchien und sozialen Schichtungen geben. Alle müssen im Prinzip gleich sein und Führer oder Führerinnen müssen sich als Primus / Prima inter pares verstehen, die durch ihre Person und ihre Überzeugungskraft wirken. Nicht durch Formen der Suggestion und Einschüchterung, durch Schlägertrupps und formalen, gar ererbten Status.

Im "Herr der Fliegen" bildete sich recht schnell eine Hierarchie heraus und die Schüler an iher Spitze sahen ihre Aufgabe nicht darin, zu organisieren und zu träge Klassenkameraden auf Zack zu bringen, um so das Überlegen zu sichern. Es ging ihnen vielmehr um Herrschaft um ihrer selbst willen.

3. Was immer man oder frau an eigenen Kenntnissen und Erfahrungen oder überliefertem Wissen hat - es muss bewahrt, genutzt und weiter gegeben werden. Damit Fehler, die andere Generationan machten, nicht etwig wiederholg werden. Damit der Kampf ums Überlegen nicht so zwingend wird, dass er wieder eien Eigendynamik entwickelt, die zur Herausbildung repressiver Strukturen führt.

Die Gören bei Golding waren zwar Schüler, aber ich konnte im "Herr der Fliegen" nicht erkennen, dass sie ihr Wissen gezielt nutzten, um es sich wenigstens für einige Zeit auf der Insel bequem zu machen.

Gothaur
10.06.2008, 10:43
.............................

Also, was wird nun aus unserem Gemeinwesen? Wie gesagt, Ideologie und Lebensweise an sich ist bei der Beantwortung der Frage egal und jede/r mag die Frage mit Bezug auf ein Projekt beantworten, wo er oder sie selbst gern dabei wären. Sei es die Nazi-Kommune Wahlhalla in Vorpommern oder eine Feministinnensiedlung ;).
Mal ganz abgesehen vom Herrn der Fliegen, dessen Hintergrund meines Erachtens überhaupt nichts Vergleichbares mit einem autonomen Gemeinwesen hätte, weil die Voraussetzungen völlig andere sind, - wie organisiert sich so ein Gemeinwesen?
Durch Vollversammlungen, oder Führungskader und Eliten?
Voltago
Ps.: Das Beispiel mit diesen Indios halte ich für arg fragwürdig, denn es war immer unsere Sicht, und nicht zuletzt doch Gestalten, wie Enzensberger geprägt, die davon ausging, daß diese Indios wie von selbst harmonisch zusammenleben und lebten. Das Gegenteil war und ist die Regel, strengste hierarische Strukturierung, strikte Aufgabenteilung, und brachiale Ahndung bei Verweigerung.
PPs.: Grundtenor deines zweiten Post ist die Tatsache, daß alle Beteiligten freiwillig teilnehmen müssen. Das beißt sich, und überdies, was ist mit der logischen Entwicklung, was ist mit jenen, die in dieses System hineingeboren werden und damit zurecht kommen müssen?

Beverly
10.06.2008, 11:51
wie organisiert sich so ein Gemeinwesen?
Durch Vollversammlungen, oder Führungskader und Eliten?

Obwohl ich selbst Vorstellungen habe, wie es geht und wie nicht - siehe mein letzter Post - möchte ich das offen lassen.


Das Beispiel mit diesen Indios halte ich für arg fragwürdig, denn es war immer unsere Sicht, und nicht zuletzt doch Gestalten, wie Enzensberger geprägt, die davon ausging, daß diese Indios wie von selbst harmonisch zusammenleben und lebten. Das Gegenteil war und ist die Regel, strengste hierarische Strukturierung, strikte Aufgabenteilung, und brachiale Ahndung bei Verweigerung.

Ich habe eher ein differenziertes denn ein grundsätzlich positives oder negatives Bild von den Indianerkulturen, die sich ja über schlappe 12 000 Kilometer von Alaska bis Chile erstrecken. Vielfalt scheint mit ein Grundmotiv zu sein und die Vereinheitlichung - so es sie gibt - vor allem aus materiellen Notwendigkeiten her zu rühren. Ob da ein Fremder Gott oder Götterspeise wurde, war immer sehr ungewiss ;) und wie ihre inneren Verhältnisse waren ...?
Besucher von Amazonasindianern, die sich nich selbst so daneben benahmen, dass sie nicht willkommen sein konnten, berichten da mal von Harmonie, mal von einem Horrortrip. Auch bei anderen Stämmen scheint des sehr unterschiedlich gewesen zu sein, ich denke da an den Film "Der Fluss der Irokesen", der so um 1600 in Kanda spielt.


PPs.: Grundtenor deines zweiten Post ist die Tatsache, daß alle Beteiligten freiwillig teilnehmen müssen. Das beißt sich, und überdies, was ist mit der logischen Entwicklung, was ist mit jenen, die in dieses System hineingeboren werden und damit zurecht kommen müssen?

Eine Gemeinschaft muss die Menschen an sich binden, das ist richtig. Aber ohne Freiwilligkeit und nur mit Repression ist nicht die Frage, ob sondern wann die Bindung zerreist. Dann, wenn die nur noch Geknechteten merken, dass ein anderes Leben möglich ist - sei es durch Umsturz oder Flucht.
Deshalb gehörte meines Wissens zu funktionierenden Gemeinschaften immer auch die Möglichkeit, sie zu verlassen ohne überall auf der Welt nur vom Regen in die Traufe zu kommen. Sei es mit Erlaubnis der Gemeinschaft, sei es - wie bei diversen Wikingern - auf "inoffiziellem" Wege, nachdem der Streit mit den Nachbarn gar zu arg eskaliert war :rolleyes:

Gothaur
10.06.2008, 13:27
Obwohl ich selbst Vorstellungen habe, wie es geht und wie nicht - siehe mein letzter Post - möchte ich das offen lassen.
Offen lassen: dahingehend, daß sich die Überlegungen, wie ein solches Modell strukturiert wird, und sich organisiert, hier erst in dem Strang entwickeln sollen?
Oder soll dies überhaupt nicht Thema sein?

Ich habe eher ein differenziertes denn ein grundsätzlich positives oder negatives Bild von den Indianerkulturen, die sich ja über schlappe 12 000 Kilometer von Alaska bis Chile erstrecken. Vielfalt scheint mit ein Grundmotiv zu sein und die Vereinheitlichung - so es sie gibt - vor allem aus materiellen Notwendigkeiten her zu rühren. Ob da ein Fremder Gott oder Götterspeise wurde, war immer sehr ungewiss ;) und wie ihre inneren Verhältnisse waren ...?
Besucher von Amazonasindianern, die sich nich selbst so daneben benahmen, dass sie nicht willkommen sein konnten, berichten da mal von Harmonie, mal von einem Horrortrip. Auch bei anderen Stämmen scheint des sehr unterschiedlich gewesen zu sein, ich denke da an den Film "Der Fluss der Irokesen", der so um 1600 in Kanda spielt.
Hmm, ich glaube, da mißverstehen wir uns. Mir ging es nicht darum, ein positives, oder ein ein negatives Bild zu zeichnen, sondern vielmehr darum, daß die Lebensweise dieser Indiostämme vielfach mißverstanden wurden, und das vor allen in den 70igern und 80igern des letzten Jahrhunderts, eben diese Indios, ob noch existent, oder schon ausgestorben/assimiliert, dazu dienten, eigene Hoffnungen und Ideale, - basierend auf eigene gesellschaftliche Frustrationen, in sie zu transferieren. Wie auch immer, wurde und wird auch noch das Bild verfälscht.
Und das ist eigentlich absurd, denn diese Naturvölker (und das ist es doch, was von uns oft genug idealisiert wird, und wo wir gerade die vollkommene Harmonie drin entdecken zu glauben), lebten und leben nun mal in einer Natur, die keine Schwäche verzeiht, und keine Schwachen duldet.
Wir begreifen zwar den Dschungel als einen brodelnden Kessel, in dem jedweige Kreatur im ständigen Überlebens- und Existenzkampf steckt, wo ein stetes sterben und geboren werden, jagen und gefressen werden, existiert, aber die Indios...... die Indios leben in vollkommener Harmonie und Frieden inmitten dieses Hexenkessels. :)
Mir geht es nicht um positiver, oder negativer Bewertung, sondern vielmehr darum, sich nüchtern der existenziellen Realität solcher Indios anzunähern, um so auch zu erkennen, inwieweit wir sie intellektuell, und im Grunde genommen, mißbraucht haben, halt für eigene Zwecke, um unsere nicht erreichten, oder verloren geglaubten Ideale zu verdeutlichen.

Eine Gemeinschaft muss die Menschen an sich binden, das ist richtig. Aber ohne Freiwilligkeit und nur mit Repression ist nicht die Frage, ob sondern wann die Bindung zerreist. Dann, wenn die nur noch Geknechteten merken, dass ein anderes Leben möglich ist - sei es durch Umsturz oder Flucht.
Deshalb gehörte meines Wissens zu funktionierenden Gemeinschaften immer auch die Möglichkeit, sie zu verlassen ohne überall auf der Welt nur vom Regen in die Traufe zu kommen. Sei es mit Erlaubnis der Gemeinschaft, sei es - wie bei diversen Wikingern - auf "inoffiziellem" Wege, nachdem der Streit mit den Nachbarn gar zu arg eskaliert war :rolleyes:
Zumeist bedeutet aber der Ausbruch aus einer Gesellschaft nichts anderes, als es genauso zu machen, wie jene, deren man sich entledigt hat. Sehr viel mehr wollen die Ausbrechenden garnicht.
Soweit ich es weiß, gab es eigentlich in der Vergangenheit nur einmal, in Norditalien, gegen Ende des 19.Jahrhunderts, den Versuch, eine völlig neue Gesellschaft aufzubauen. Es entstanden für kurze Zeit Stadtstaaten, die auf einer rein anarchischen STruktur aufgebaut waren, und letztendlich am eigenen Procedere ("Vollversammlungen" für sämtliche Entscheidungsprozesse) scheiterten. Und natürlich auch an der Tatsache, daß selbst dort sich in gewisser Weise Eliten entwickelten, die dann allerdings auch handfeste Formen annahmen, bishin zu einem "anarchischen Proletarier-Adel", oder wie auch immer. :)
Voltago

Gothaur
11.06.2008, 19:24
Wen es interessiert, bzw auch speziell für dich, Beverly!
Wenn er zu kaufen ist, dann solltest Du dir mal folgenden Film anschauen.

Traumstadt
Johannes Schaaf, BRD 1973, 124' D
Mit Per Oscarsson, Rosemarie Fendel, Eva-Maria Meineke, Alexander May, Heinrich Schweiger, Helen Vita
Ein Münchner Künstlerehepaar folgt einer geheimnisvollen Einladung und erlebt in einer utopischen, von der modernen Zivilisation verschonten Stadt seinen ersehnten Traum von der totalen Freiheit. Jede und jeder darf nach seinen Wünschen und Fähigkeiten leben, was jedoch zum totalen Sittenverfall und schliesslich zum Zusammenbruch des utopischen Reichs führt und in eine mörderische Serie von Libertinage, Perversionen und Gewalt mündet. Der Mann besteht dieses Abenteuer, seiner Frau bekommt es schlecht …
'Traumstadt', entstanden nach Alfred Kubins Kultroman «Die andere Seite», ist ein breit angelegtes Filmgemälde mit orgiastischen Fantasmen und mondänen Kunstreizen, das der literarischen Vorlage teils getreu folgt, sie teils umdeutet und mit surrealen Bildeinfällen und glänzend inszenierten Happenings umsetzt. «Man fragt sich im Film nie, was wohl real gemeint, was geträumt sei. Ein Märchen vielleicht, ein Tagtraum, eine surreale Vision. Ganz nüchtern und selbstverständlich wird das makabre, absurde Geschehen vorgeführt.» (Wolf Donner)
Ich habe den Film bereits 78 gesehen, und fand ihn sehr interessant. Leider wird er aber so gut wie nie wiederholt.
Ein interessanter Gegenpart zu "Herr der Fliegen", - und es gibt so wenig Beispiele, die sich künstlerisch mit den Möglichkeiten, aber auch Unmöglichkeiten der Anarchie beschäftigen.
Voltago

Sauerländer
12.06.2008, 11:47
Nach meinem Dafürhalten ist ein "Erfolg" eines solchen Gemeinwesens denkbar - soloange man unter Erfolg keine utopischen Zustände versteht.
Was ein solches Gemeinwesen nicht verwirklichen kann, ist der "neue Mensch".
Sein eigenes Fortbestehen auf Basis einer vom Herkunftsort stark abweichenden Gesellschaftsordnung jedoch ist denkbar.
Allerdings mit einer Einschränkung: Wenn der Ort der Verwirklichung dieser Gemeinschaft erreichbar ist, ist er das auch für die Kräfte der Ursprungsgesellschaft. Wird dieses Projekt zu erfolgreich, zieht es zu viele Leute an, beginnt es also aufzufallen, wird es sich früher oder später verteidigen müssen.
Als Pazifistenkommune wird es untergehen - es sei denn es begnügt sich mit einer Existenz als Projekt ausreichend geringer Größe, um nicht aufzufallen.
Natürlich hängt es auch dann doch wieder vom ideologischen Hintergrund ab, was genau man eigentlich verwirklichen will. So hat etwa die Musternazi-Kommune kein Problem mit dem Entstehen einer Hierarchie, sondern wird sie im Gegenteil fördern und bis zur Absurdität überspitzen, während ein eher anarchistisches Projekt auf manche Organisationsschwierigkeiten stoßen dürfte.
Dass die Gemeinschaft etwa Entscheidungen in der Vollversammlung trifft (Thingdemokratie), impliziert ja keineswegs eine vollständige Gleichheit der Mitglieder. Gerade auch dort wird es ältere, erfahrene Menschen geben, deren Meinung mehr Gewicht hat.
Nicht nur im Hinblick der Verteidigung nach aussen, sondern auch im Hinblick auf die innere Stabilität (bzw der Verhinderung des Entartens in dienTyrannei) scheint mir der Gedanke der Volksbewaffnung relativ wichtig.

Beverly
14.06.2008, 10:37
Nach meinem Dafürhalten ist ein "Erfolg" eines solchen Gemeinwesens denkbar - soloange man unter Erfolg keine utopischen Zustände versteht.(...)

Grundsätzlich sehe ich das auch so und das gleich aus mehreren Gründen:

1. Man muss an der "Herkunftsgesellschaft" die Dinge sauber definieren, die so unerträglich sind, dass man aus ihr ausbrechen will. Da halte ich es für sinnlos, zu sagen: "An der bisherigen Gesellschaft war alles schlecht und wenn wir alles anders machen, wird alles gut". Man lässt vielmehr die schlechten Seiten der Herkunftsgesellschaft hinter sich, muss aber auch ohne ihre guten auskommen.
Je bescheidener da man die Ziele setzt und je mehr man sich das konzentriert, was unabdingbar ist, desto wahrscheinlicher ist der Erfolg. Je nüchterner man auch seinen Platz in der "Ordnung der Dinge", historischen Prozessen sieht, desto wahrscheinlicher ist es, da vielleicht auch auf mittlerer und langer Sicht etwas zu bewirken.

2. Der Erfolg mag Neider anziehen, Opportunisten und Trittbrettfahrer und - sofern die Herkunftsgesellschaft einen totalitären Machtanspruch hat - wird sie das Projekt zerstören wollen, weil es eine existenzbedrohende Fluchtmöglichkeit und Alternative darstellt.
Palisaden und bis an die Zähne bewaffenete Kommunarden werden da aber nicht schützen können, einfach weil von einer auch militärisch hoffnungslos überlegenen Herkunftsgesellschaft auszugehen ist. So oder so kommt ein Projekt nicht darum, selbst so attraktiv und groß zu werden, dass es sich nicht mehr einfach militärisch auslöschen lässt. Weil es so viele "Schwesterprojekte" gibt, dass die sich nicht mehr beseitigen lassen, weil Menschen aus der Herkunftsgesellschaft überlaufen oder weil sich in der Herkunftsgesellschaft die Niederschlagung des Projektes nicht mehr durchsetzen lässt.

Anthill_Inside
14.06.2008, 20:55
Es erfordert eine Anstrengungen sowie gute Planung und eine zumindestens am Anfang durchgehend junge Bevölkerung sowie klare Regeln und Gesetze um eine solche Gemeinschaft zu begründen. Jedoch ist dies durchaus möglich.
Ich hatte zuerst begonnen meine Ansätze für eine solche Gesellschaft niederzuschreiben, jedoch würde ich damit ganze Seiten füllen.

Gothaur
14.06.2008, 21:09
Vielleicht sollte erst einmal geklärt werden, wie mit dem "da draußen" umgegangen werden soll, vor allen, wenn jetzt die ganze Welt nach Hause ins Wohnzimmer kommt, mittels Fernsehen, mittels Internet, selbst mittels Radio.
Was tun? Selbst strengste abgeschottete, autoritäre Hierarchien schaffen nicht die vollständige Abschottung.
Voltago

Beverly
15.06.2008, 11:23
Vielleicht sollte erst einmal geklärt werden, wie mit dem "da draußen" umgegangen werden soll, vor allen, wenn jetzt die ganze Welt nach Hause ins Wohnzimmer kommt, mittels Fernsehen, mittels Internet, selbst mittels Radio.
Was tun? Selbst strengste abgeschottete, autoritäre Hierarchien schaffen nicht die vollständige Abschottung.
Voltago

Das hängt IMHO wesentlich von der Welt "da draußen" ab. Sorgen deren Widersprüche dafür, dass Menschen an den Toren des Gemeinwesens anklopfen und man entscheiden muss, wer rein darf und wer nicht?
Oder wirbt die Außenwelt gezielt Menschen aus dem Gemeinwesen ab, um es ausbluten zu lassen?

Diese Diskussion ist alles andere als theoretisch. Praktisch hatten wir sie im Fall der DDR, die zwar nicht klein war, aber sich in vieler Hinsicht wie ein ideologisch abgeschottetes Gemeinwesen verhielt. Eines, das letztendlich daran zugrunde ging, dass die BRD massenhaft Leute aus ihm abwarb resp. die hypertrophe SED-Herrschaft noch mithalf, viele zu vergraulen. Alldiweil die Genossen Armleuchter keinen Plan hatten, ihrerseits Menschen für ihr Projekt zu rekrutieren. Meines Erachtens wäre das sogar in den ethnokulturell gleichen Staaten BRD, Österreich und Schweiz möglich gewesen. Selbst in einem so reichen Land wie der Schweiz gab es Zustände, für die das Schlagwort "Züri brännt" geprägt wurde, die Polizei als Schläger der übelsten Sorte agierte und wo der eine oder andere Eidgenosse einen Umzug nach Ost-Berlin in Erwägung gezogen hätte - wenn die nicht die Einwanderung ebenso unterbunden und abgewürgt hätten wie die Auswanderung. Ich wäre für einen Sozialismus, der diesen Namen verdient, in meiner West-Berliner Zeit und in einer West-Berlinger Bruchbude auch ein Abwerbekandidat gewesen - die Armleuchter im Osten hätten nur mit einer bewohnbaren Wohnung und Lotte Ulbricht (der Transe) locken müssen.
Und in der übrigen Welt waren die Verhältnisse so besch... und so viele Genossen und Genossinnen Opfer unmenschlicher Drangsalierung, dass die DDR da mehr als genug Ersatz für eigene Abgänge gefunden hätte. Ersatz, der im Gegensatz zu dem Menschenmüll in westlichen Gesellschaften ideologisch und lebensmäßig passte, sich angepasst und selbst bei Bewahrung eigener nationaler Indentität integriert hätte. Aber nein, die Genossen kamen nicht mal auf die Idee, unter den in Schönefeld landenden Flüchtlingen nach Neubürgern Ausschau zu halten, so dass die TAZ in den 1980ern schrieb: "Flüchtlinge sieht die DDR am liebsten von hinten".

Im Kontext dieser Diskussion ist die DDR nur noch dazu gut, zu zeigen, dass man es mit der Abschottung auch übertreiben kann. Und dass ein Projekt nicht Leute, die es nicht wollen, drin halten und Leute, die es unter Umständen wollten, draußen halten soll.

Gothaur
15.06.2008, 13:14
Wie kann die DDR ein abgeschottetes System gewesen sein, wenn bis 89 hier eine riesen Supermacht stand?
Also wenn, dann würde ich eher Nord-Korea als besonders negatives Extrem und Kuba als weniger extremes System als abgeschottet ansehen, vor allen, seitdem die Supermacht gecrashed ist.
Um so mehr drängt die Frage, was passieren soll, wenn das Draußen zu sehr ins innere strahlt und die Menschen beeinflußt.
Wie soll denn da der Sozialismus, der seinen Namen verdient (zumindest scheint jetzt indirekt geklärt, daß Anarchie und Vollversammlung, oder Rätestaat nicht das Ding deiner Utopie zu sein scheint!) existenziell bestehen, wenn drum herum jeder die Chance hat, seinen rudimentären, und doch elementaren Jäger- und Sammler Instinkten nachzukommen.
Voltago

Beverly
17.06.2008, 17:57
Wie soll denn da der Sozialismus, der seinen Namen verdient (zumindest scheint jetzt indirekt geklärt, daß Anarchie und Vollversammlung, oder Rätestaat nicht das Ding deiner Utopie zu sein scheint!) existenziell bestehen, wenn drum herum jeder die Chance hat, seinen rudimentären, und doch elementaren Jäger- und Sammler Instinkten nachzukommen.

Davon mal abgesehen, dass ich in dieser Diskussion kein auf eine bestimmte Ideologie festgelegte Modell propagiere, wäre es im Falle eines zumindest wirtschaftlich, materiell und sozial egalitären Systems ("Sozialismus") doch so, dass es die anziehen würde, die bei den elementaren Jäger-Instinkten im Kapitalismus eher die Beute als der Jäger sind :rolleyes:

Gothaur
17.06.2008, 23:31
Davon mal abgesehen, dass ich in dieser Diskussion kein auf eine bestimmte Ideologie festgelegte Modell propagiere, wäre es im Falle eines zumindest wirtschaftlich, materiell und sozial egalitären Systems ("Sozialismus") doch so, dass es die anziehen würde, die bei den elementaren Jäger-Instinkten im Kapitalismus eher die Beute als der Jäger sind :rolleyes:
Dann frage ich mich, warum diese Systeme in der Vergangenheit immer wieder zur Staats- und Systemflucht, also Kapitalflucht führten, aber auch jene, die nix hatten eher veranlaßte, diese Systeme fluchtartig zu verlassen, und sie in jene Systeme überwechseln ließ, wo ihrer Meinung nach die Chance auf Beute machen augenscheinlicher wesentlich mehr Erfolg versprach, vor allen auch in anderen Dimensionen.
Denn diese Dimensionen der Hierarchie, und Protegierung und Vergünstigung in einem System sind doch auch ganz wesentlich.
Wer im Knast den meisten Kaffee, Kippen, Seife und Drogen hat, ist der King, und hat in der Regel einen Kreis von jenen um sich, die Zucker erhalten und dafür dem King die Position sichern. Sie selber sind natürlich dann auch in einer optimaleren Position wie der Rest der Normalos, Konsummenten und Habenichte.
Und so steigert sich von System zu System die Dimension, aber das Grundprinzip bleibt das gleiche.
Und ich frage mich weiterhin, warum dann gerade diese sozialistischen Systeme immer wieder zwangsläufig zu den üblichen Regularien und Kontrollen kommen, - Totale Kontrolle, Schnüffelei, Internierung, Zwangsumerziehung, totale Einschränkgung der Freizügigkeit.
Voltago

Beverly
23.06.2008, 17:08
Dann frage ich mich, warum diese Systeme in der Vergangenheit immer wieder zur Staats- und Systemflucht, also Kapitalflucht führten, aber auch jene, die nix hatten eher veranlaßte, diese Systeme fluchtartig zu verlassen, und sie in jene Systeme überwechseln ließ, wo ihrer Meinung nach die Chance auf Beute machen augenscheinlicher wesentlich mehr Erfolg versprach, vor allen auch in anderen Dimensionen.

Du meinst sozialistische Systeme?

Ich denke, die Wanderungsbewegungen folgten da den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie auch sonst. Derjenige wanderte aus, der das Leben dahein bescheiden oder schlecht und woanders besser fand. Sofern er oder sie nicht durch Auswanderungs- oder Einwanderungsverbote daran gehindert wurde. Wobei sich hier die kapitalistischen Rivalen des Ostblocks kräftig in die Tasche logen: sie nahmen Auswanderer aus dem Realsozialismus nur so lange mit offenen Armen auf, wie Mauer und Stacheldraht oder Bambusvorhang dafür sorgten, dass sich deren Zahl in Grenzen hielt. Flüchtlinge aus der DDR halt, "Boat People" aus Vietnam. Tibeter, die über den Himalaya flohen.
Eine Milliarde Rotchinesen hätte kein kapitalistisches Land aufgenommen :rolleyes:
Und damit die Flucht aus dem Realsozialismus überhaupt zustande kam, musste das Aufnahmeland besser sein als das Herkunftsland. Etliche Kubaner sind in die USA gegangen, aber wie viele nach Haiti? Wie viele Haitianer wurden in den USA so mit offenen Armen aufgenommen wie all die Exilkubaner? Thailänder aus irgendwelchen Armendörfern im Norden hätten erst gar nicht ins Boot steigen brauchen - sie hätte niemand aufgenommen. Der Realsozialismus war schlecht, aber die Migration aus ihm ist angesichts ihrer politischen und propagandistischen Steuerung und Aufbereitung kein wirklich gutes Argument gegen ihn.