Van Moorrison
09.06.2008, 15:03
Für ökonomietheoretisch Interessierte, eine kleine Einführung in den zweiten Band des Marxschen "Kapital"
Kurzes Abstract: Der zweite Band des Marxschen Kapital behandelt Fragen des Wachstums und der wechselseitigen Verflechtung und Abhängigkeit verschiedener Produktionssphären in grundlegenden Modellen mit zwei oder drei Produktionssektoren. Das Erkenntnisinteresse ist darauf gerichtet, die notwendigen Voraussetzungen für eine einfache bzw. erweiterte Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals (also eine Ökonomie ohne bzw. mit Wachstum) kenntlich zu machen. Im Blickpunkt steht also die Frage, wie die Tauschbeziehungen zwischen privaten Produzenten gestaltet sein müssen, damit sich bei inter-industrieller Arbeitsteilung die einzelnen Kapitalien reproduzieren können.
1.)Der zweite Band des Marxschen „Kapital“ behandelt die für die individuelle Reproduktion bzw. das individuelle Wachstum notwendigen Austauschprozesse zwischen den einzelnen Kapitalien. Er ist in diesem Sinne der "modernste" Teil des Marxschen "Kapital" und behandelt praktisch nur Austauschprozesse zwischen den Produktionssektoren.
Selbst von neoklassischen Ökonomen mit besserem Bildungshintergrund wird der zweite Band des Marxschen Kapital gelobt. Für den Neoklassiker Wilhelm Krelle war "Marx' Theorie eine der wichtigsten wachstumstheoretischen Leistungen des 19. Jahrhunderts" (W. Krelle (1985): Theorie des wirtschaftlichen Wachstums, S. 43).
2.)Der Ausgangspunkt des zweiten Bandes des "Kapital" ist die wechselseitige Verflechtung der Produzenten. Unternehmen beliefern andere Unternehmen und werden wiederum beliefert - diesen Prozeß nennt man "Arbeitsteilung". Marx stellt nun die logische Frage, wie die Austauschbeziehungen zwischen den fundamentalen gesellschaftlichen Produktionssektoren beschaffen sein müssen, damit jeder Sektor die für ihn notwendigen Lieferungen erhält und selber die anderen Sektoren in ausreichender Menge mit den dort nachgefragten Waren beliefern kann.
In den Worten des marxistischen Ökonomen Michael Heinrich:
„Die Kreisläufe der Einzelkapitale sind miteinander verschlungen und setzen einander voraus: Der Kreislauf des einen Kapitals setzt voraus, dass es die Produkte anderer Kapitale, d.h., Produktionsmittel sowie Lebensmittel, welche die von ihm beschäftigten Arbeitskräfte konsumieren können, auf dem Markt vorfindet. Hat das Einzelkapital dann selbst Waren produziert, ist es darauf angewiesen, dass diese Waren als Produktions- und Lebensmittel in den Kreislauf anderer Kapitale eingehen. Die Reproduktion eines Einzelkapitals kann daher nicht isoliert betrachtet werden, sie ist nur möglich als Teil der Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, das von der Gesamtheit der Einzelkapitale gebildet wird“ ("Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung", 2004, S. 137).
3.)Die allgemeine Zirkulationsformel des Kapitals lauter nach Marx bekanntlich:
G – W (Ak+Pm) …P…W’ – G’
(Ak steht für “Arbeitskraft“, Pm für “Produktionsmittel” und P für „Produktion“)
Das einzelne Unternehmen muß also im Rahmen seines ökonomischen Aktivität erstens die Mittel seiner Produktion erwerben und zweitens seine Erzeugnisse verkaufen. Es steht folglich über Märkte ständig in Interaktion mit anderen Unternehmen, die es beliefert, und von denen es beliefert wird. Darüber besteht kein Zweifel in einer arbeitsteiligen Volkwirtschaft.
Marx hat sich nun im zweiten Band des „Kapital“ die logische Frage gestellt, wie die verschiedenen Kreisläufe der Einzelunternehmen geordnet und zusammengefasst werden können zum besseren Verständnis der Reproduktionsstruktur des gesamten Systems. Hierfür unterteilt er die Unternehmen zunächst in zwei große Gruppen: Jene welche Produktionsmittel (Pm) und jene, welche Konsumtionsmittel (Km) herstellen.
Damit sich die beiden Produktionssektoren hinreichend beliefern können und auf die entsprechende Nachfrage des anderen Sektors treffen, müssen bestimmte Proportionen zwischen diesen Sektoren bestehen. Diese Proportionen untersucht Marx nun akribisch.
Jeder Sektor setzt sich nach Marx wiederum aus drei Wertkomponenten zusammen:
Mit „c“ ("konstantes Kapital") ist bei Marx immer jener Bestandteil des kapitalistischen Unternehmens gemeint, der aus Produktionsmitteln besteht (also Maschinen jeglicher Art), mit „v“ ("variables Kapital") die Löhne als der in lebendige Arbeitskraft investierte Teil. Der Mehrwert „m“ besteht in dem Überschuß des Warenwertes über den Wert nach Ausgaben für Produktionsmittel und Löhne. Er ist die Quelle des Kapitalprofits (zur Mehrwerttheorie sh. mein ausführliches Thread http://www.politikforum.de/forum/showthread.php?threadid=129306 )
Die zwei Sektorenkapitale setzen sich also jeweils so zusammen und bilden das Brutto(sozial)produkt einer Volkswirtschaft:
(1) Sektor I Produktionsmittel: c1 + v1 + m1 = Pm
(2) Sektor II Konsumgüter : c2 + v2 + m2 = Km
Wenn wir in diesem ersten Schritt eine stationäre Wirtschaft ohne Wachstum voraussetzen, muß für das Produkt von Sektor I gelten:
(3) c1 + v1 + m1 = c1 + c2
denn Sektor I stellt ja sämtliche Produktionsmittel her, nämlich c1 und c2.
Wenn wir nun c1, das aus der rechten wie der linken Seite der Gleichung erscheint herausstreichen, bleibt als zentrale Klammer zwischen den zwei Sektoren übrig:
(4) v1 + m1 = c2
Das bedeutet, der Wert des im Konsumgütersektor verbrauchten konstanten Kapitals ist gleich dem im Produktionsmittelsektor verbrauchten variablen Kapital plus Mehrwert. Die Klammer zwischen Sektor I und Sektor II bilden also die Produktionsmittel, die Sektor I an Sektor liefert, und die genau äquivalente Lieferung von Konsumgütern (für Arbeiter und Kapitalisten) von Sektor II an Sektor I.
Das Netto(sozial)produkt der Volkswirtschaft setzt sich zusammen aus v1 + m1 + v2 + m2. Da, wie gesehen, v1 + m1 = c2 folgt, daß das Nettosozialprodukt mit dem Bruttoprodukt von Sektor II zusammen fällt. Alfred E. Ott hat in seinem Aufsatz "Marx und die moderne Wachstumstheorie" (In: Volkswirt Nr. 16 vom 21. April 1967, S. 637) auch darauf hingewiesen , daß das "konstante Kapital" aus dem gesamten Sachanlage-Kapital eines Produktionssektors jenen Teil ausmacht, der als Abschreibungen in den Produktionsprozeß eingeht. Die "Abschreibungen" markieren somit in marxistischer Terminologie das "zirkulierende konstante Kapital" im Gegensatz zu Beständen des "fixen Kapitals", die sich über mehrere Produktionsperioden verschleißen.
4.)Wie sieht dieses Schema nun aus, wenn wir von der stationären zu einer wachsenden Wirtschaft übergehen?
Nun kommen die "Akkumationsfonds" der wachsenden Kapitale ins Spiel:
mac1 und mac2 stellen den akkumulierte Mehrwert des konstanten Kapitals in Sektor I und II dar, mav1 und mav2 den akkumulierten Mehrwert des variablen Kapitals in Sektor I und II. Die Terms mr1 und mr2 markieren dann den nicht akkumulierten (also von den Kapitalisten "verfressenen") Teil des Mehrwerts von Sektor I bzw. Sektor II.
Das Ausgangsschema der „erweiterten Reproduktion“ des Kapitals lautet dann:
(5)Abteilung I: c1 + v1+ mac1 + mav1 + mr1 = Pm
(6)Abteilung II: c2 + v2 + mac2 + mav2 + mr2 = Km
Wie wir sehen können wird übergreifend die Nachfrage nach Produktionsmitteln ausgedrückt in den Terms c1 + c2 + mac1 + mac2 (welcher dann identisch ist mit c1 + v1+ mac1 + mav1 + mr1 aus Gleichung (5)). Die Gesamtnachfrage nach Waren des persönlichen Konsums geht aus von v1 + v2 + mav1 + mav2 + mr1 + mr2 (welcher dann identisch ist mit c2 + v2 + mac2 + mav2 + mr2 aus Gleichung (6)).
Jede Abteilung deckt auch ihren eigenen Bedarf in Teilen ab, denn Abteilung I verbraucht ja selber Produktionsmittel (welche sie herstellt) und Abteilung II selber Konsumtionsmittel (welche auch sie selber herstellt). Abteilung I erzeugt folglich den Gegenwert der eigenen Produktionsmittel c1 + mac1 und Abteilung II stellt selber her die Konsumgüter v2 + mav2 + mr2. Wenn diese Anteile der Eigenproduktion nun aus dem Schema gestrichen werden, ergibt sich der notwendige Austausch zwischen beiden Abteilungen in der Gleichung:
(7) v1 + mav1 + mr1 = c2 + mac2
Wir sehen, daß Gleichung (7) die wachstumstheoretisch Erweiterung ist von Gleichung (4).
Dies stellt somit auch unter der Voraussetzung sektoralen Wachstums die unbedingte “Klammer” dar zwischen den beiden Produktionsabteilungen. Abteilung I muß also die Produktionsmittel für II herstellen und gleichzeitig eine ausreichende Nachfrage nach deren für sie produzierten Konsumgütern bereitstellen. Umgekehrt muß Abteilung II ausreichend Konsumgüter für Abteilung I produzieren und gleichzeitig ausreichend Produktionsmittel von I nachfragen, so dass dort kein Überschuß oder Mangel an Produktionsmitteln im Austausch entsteht.
Die englische Ökonomin Joan Robinson hat schon wenige Jahre nach dem Erscheinen von Keynes’ „General Theory“ 1942 darauf aufmerksam gemacht, dass bei Marx bereits implizit eine Theorie der „effektiven Nachfrage“ vorliegt. Sie fasst ihre Ausführungen in ihrem Buch „Grundprobleme der Marxschen Theorie“ in dem Kapitel „Die effektive Nachfrage“ so zusammen:
„Die Konsumtion der Arbeiter wird begrenzt durch ihre Armut, während die Konsumtion der Kapitalisten begrenzt wird durch ihre Habsucht nach Kapital, welche sie veranlasst, Reichtum zu akkumulieren statt Luxusaufwendungen zu machen. Die Nachfrage nach Konsumgütern (dem Produkt der Abteilung II) ist auf diese Weise begrenzt. Aber wenn der Output der Konsumgüterindustrien durch den Markt beschränkt ist, so bestehen wiederum auch Schranken für die Nachfrage nach Kapitalgütern (Abteilung I), denn das konstante Kapital der Konsumgüterindustrien wird sich nicht rasch genug ausdehnen, um den potentiellen Output der Kapitalgüterindustrien zu beanspruchen. So ist die Einkommensverteilung zwischen Löhnen und Gewinnen dergestalt, dass sie eine chronische Tendenz zu einem mangelhaften Ausgleich zwischen den beiden Abteilungen hervorruft“ (S. 68 der „Metropolis“-Ausgabe von 1989).
Die wechselseitige Verflechtung der beiden fundamentalen Sektoren erweist sich also als überaus problematisch vor dem Hintergrund der rein mikroökonomisch ausgerichteten Motivation der Akteure. Die sattsam bekannte „Schwäche des Binnenmarktes“ (sprich: effektiver Nachfrage auf dem Binnenmarkt) lässt sich also leicht im Rahmen der Marxschen Schemata darstellen, denn hier wird ja über die Verklammerungs-Formel klargestellt, dass die Expansion von Sektor I an die Konsumtionskraft von Sektor II gebunden ist. Damit die „erweiterte Reproduktion“ des Kapitals möglich ist muß eine ausreichende Nachfrage nach Gütern des Sektors II gegeben sein, denn sonst kann Sektor I nicht wachsen und folglich der Mehrwert der vorhergehenden Periode nicht gewinnbringend re-investiert werden. Marx und Keynes reichen sich hier also durchaus die Hand.
5.)Die Marxschen Schemata können selbstverständlich erweitert werden z.B. auf 3 Sektoren, also Sektor I und II wie bereits erörtert plus eines Sektors III für Luxusgüter (welcher sich über die Revenuen mr1 und mr2 alimentiert). Ein vierter Sektor könnte eingeführt werden wenn Sektor I ebenfalls differenziert wird in einen Sektor, der Produktionsmittel zur Produktion von Produktionsmitteln herstellt und einen Sektor, der Produktionsmittel zur Herstellung von Konsumgütern hervorbringt. Schrittweise könnte so eine Annäherung an die Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsweise erreicht werden. Leontieffs Input-Output-Economics haben diese Möglichkeit bekanntlich systematisch umgesetzt. Auch könnte Sektor II so aufgespalten werden, daß der Staatskonsum berücksichtigt wird (sh. dazu: Karl-Georg Zinn: Arbeitswerttheorie, 1972, S. 103 ff.).
Die Marxschen Reproduktionsschemata verweisen also darauf, daß der Marxsche Ansatz ein reproduktionstheoretischer ist und kein ausschließlich allokationstheoretischer wie der neoklassische, obwohl Fragen der Allokation auch mittels der Reproduktionsschemata erörtert werden können. Vor dem Hintergrund des zweiten Bandes des "Kapital" sind diese Erörterungen allerdings an die Einsicht in die Struktur des kapitalistischen Produktionsprozesses gebunden.
Sh. auch:
Websites zu den Marxschen Reproduktionsschemata:
http://www.unet.univie.ac.at/~a9709070/grundrisse01/1schemata.htm
http://de.geocities.com/bixo_do_coco/kapital/kapital7.html
Viele Grüsse an alle von
Van
Kurzes Abstract: Der zweite Band des Marxschen Kapital behandelt Fragen des Wachstums und der wechselseitigen Verflechtung und Abhängigkeit verschiedener Produktionssphären in grundlegenden Modellen mit zwei oder drei Produktionssektoren. Das Erkenntnisinteresse ist darauf gerichtet, die notwendigen Voraussetzungen für eine einfache bzw. erweiterte Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals (also eine Ökonomie ohne bzw. mit Wachstum) kenntlich zu machen. Im Blickpunkt steht also die Frage, wie die Tauschbeziehungen zwischen privaten Produzenten gestaltet sein müssen, damit sich bei inter-industrieller Arbeitsteilung die einzelnen Kapitalien reproduzieren können.
1.)Der zweite Band des Marxschen „Kapital“ behandelt die für die individuelle Reproduktion bzw. das individuelle Wachstum notwendigen Austauschprozesse zwischen den einzelnen Kapitalien. Er ist in diesem Sinne der "modernste" Teil des Marxschen "Kapital" und behandelt praktisch nur Austauschprozesse zwischen den Produktionssektoren.
Selbst von neoklassischen Ökonomen mit besserem Bildungshintergrund wird der zweite Band des Marxschen Kapital gelobt. Für den Neoklassiker Wilhelm Krelle war "Marx' Theorie eine der wichtigsten wachstumstheoretischen Leistungen des 19. Jahrhunderts" (W. Krelle (1985): Theorie des wirtschaftlichen Wachstums, S. 43).
2.)Der Ausgangspunkt des zweiten Bandes des "Kapital" ist die wechselseitige Verflechtung der Produzenten. Unternehmen beliefern andere Unternehmen und werden wiederum beliefert - diesen Prozeß nennt man "Arbeitsteilung". Marx stellt nun die logische Frage, wie die Austauschbeziehungen zwischen den fundamentalen gesellschaftlichen Produktionssektoren beschaffen sein müssen, damit jeder Sektor die für ihn notwendigen Lieferungen erhält und selber die anderen Sektoren in ausreichender Menge mit den dort nachgefragten Waren beliefern kann.
In den Worten des marxistischen Ökonomen Michael Heinrich:
„Die Kreisläufe der Einzelkapitale sind miteinander verschlungen und setzen einander voraus: Der Kreislauf des einen Kapitals setzt voraus, dass es die Produkte anderer Kapitale, d.h., Produktionsmittel sowie Lebensmittel, welche die von ihm beschäftigten Arbeitskräfte konsumieren können, auf dem Markt vorfindet. Hat das Einzelkapital dann selbst Waren produziert, ist es darauf angewiesen, dass diese Waren als Produktions- und Lebensmittel in den Kreislauf anderer Kapitale eingehen. Die Reproduktion eines Einzelkapitals kann daher nicht isoliert betrachtet werden, sie ist nur möglich als Teil der Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, das von der Gesamtheit der Einzelkapitale gebildet wird“ ("Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung", 2004, S. 137).
3.)Die allgemeine Zirkulationsformel des Kapitals lauter nach Marx bekanntlich:
G – W (Ak+Pm) …P…W’ – G’
(Ak steht für “Arbeitskraft“, Pm für “Produktionsmittel” und P für „Produktion“)
Das einzelne Unternehmen muß also im Rahmen seines ökonomischen Aktivität erstens die Mittel seiner Produktion erwerben und zweitens seine Erzeugnisse verkaufen. Es steht folglich über Märkte ständig in Interaktion mit anderen Unternehmen, die es beliefert, und von denen es beliefert wird. Darüber besteht kein Zweifel in einer arbeitsteiligen Volkwirtschaft.
Marx hat sich nun im zweiten Band des „Kapital“ die logische Frage gestellt, wie die verschiedenen Kreisläufe der Einzelunternehmen geordnet und zusammengefasst werden können zum besseren Verständnis der Reproduktionsstruktur des gesamten Systems. Hierfür unterteilt er die Unternehmen zunächst in zwei große Gruppen: Jene welche Produktionsmittel (Pm) und jene, welche Konsumtionsmittel (Km) herstellen.
Damit sich die beiden Produktionssektoren hinreichend beliefern können und auf die entsprechende Nachfrage des anderen Sektors treffen, müssen bestimmte Proportionen zwischen diesen Sektoren bestehen. Diese Proportionen untersucht Marx nun akribisch.
Jeder Sektor setzt sich nach Marx wiederum aus drei Wertkomponenten zusammen:
Mit „c“ ("konstantes Kapital") ist bei Marx immer jener Bestandteil des kapitalistischen Unternehmens gemeint, der aus Produktionsmitteln besteht (also Maschinen jeglicher Art), mit „v“ ("variables Kapital") die Löhne als der in lebendige Arbeitskraft investierte Teil. Der Mehrwert „m“ besteht in dem Überschuß des Warenwertes über den Wert nach Ausgaben für Produktionsmittel und Löhne. Er ist die Quelle des Kapitalprofits (zur Mehrwerttheorie sh. mein ausführliches Thread http://www.politikforum.de/forum/showthread.php?threadid=129306 )
Die zwei Sektorenkapitale setzen sich also jeweils so zusammen und bilden das Brutto(sozial)produkt einer Volkswirtschaft:
(1) Sektor I Produktionsmittel: c1 + v1 + m1 = Pm
(2) Sektor II Konsumgüter : c2 + v2 + m2 = Km
Wenn wir in diesem ersten Schritt eine stationäre Wirtschaft ohne Wachstum voraussetzen, muß für das Produkt von Sektor I gelten:
(3) c1 + v1 + m1 = c1 + c2
denn Sektor I stellt ja sämtliche Produktionsmittel her, nämlich c1 und c2.
Wenn wir nun c1, das aus der rechten wie der linken Seite der Gleichung erscheint herausstreichen, bleibt als zentrale Klammer zwischen den zwei Sektoren übrig:
(4) v1 + m1 = c2
Das bedeutet, der Wert des im Konsumgütersektor verbrauchten konstanten Kapitals ist gleich dem im Produktionsmittelsektor verbrauchten variablen Kapital plus Mehrwert. Die Klammer zwischen Sektor I und Sektor II bilden also die Produktionsmittel, die Sektor I an Sektor liefert, und die genau äquivalente Lieferung von Konsumgütern (für Arbeiter und Kapitalisten) von Sektor II an Sektor I.
Das Netto(sozial)produkt der Volkswirtschaft setzt sich zusammen aus v1 + m1 + v2 + m2. Da, wie gesehen, v1 + m1 = c2 folgt, daß das Nettosozialprodukt mit dem Bruttoprodukt von Sektor II zusammen fällt. Alfred E. Ott hat in seinem Aufsatz "Marx und die moderne Wachstumstheorie" (In: Volkswirt Nr. 16 vom 21. April 1967, S. 637) auch darauf hingewiesen , daß das "konstante Kapital" aus dem gesamten Sachanlage-Kapital eines Produktionssektors jenen Teil ausmacht, der als Abschreibungen in den Produktionsprozeß eingeht. Die "Abschreibungen" markieren somit in marxistischer Terminologie das "zirkulierende konstante Kapital" im Gegensatz zu Beständen des "fixen Kapitals", die sich über mehrere Produktionsperioden verschleißen.
4.)Wie sieht dieses Schema nun aus, wenn wir von der stationären zu einer wachsenden Wirtschaft übergehen?
Nun kommen die "Akkumationsfonds" der wachsenden Kapitale ins Spiel:
mac1 und mac2 stellen den akkumulierte Mehrwert des konstanten Kapitals in Sektor I und II dar, mav1 und mav2 den akkumulierten Mehrwert des variablen Kapitals in Sektor I und II. Die Terms mr1 und mr2 markieren dann den nicht akkumulierten (also von den Kapitalisten "verfressenen") Teil des Mehrwerts von Sektor I bzw. Sektor II.
Das Ausgangsschema der „erweiterten Reproduktion“ des Kapitals lautet dann:
(5)Abteilung I: c1 + v1+ mac1 + mav1 + mr1 = Pm
(6)Abteilung II: c2 + v2 + mac2 + mav2 + mr2 = Km
Wie wir sehen können wird übergreifend die Nachfrage nach Produktionsmitteln ausgedrückt in den Terms c1 + c2 + mac1 + mac2 (welcher dann identisch ist mit c1 + v1+ mac1 + mav1 + mr1 aus Gleichung (5)). Die Gesamtnachfrage nach Waren des persönlichen Konsums geht aus von v1 + v2 + mav1 + mav2 + mr1 + mr2 (welcher dann identisch ist mit c2 + v2 + mac2 + mav2 + mr2 aus Gleichung (6)).
Jede Abteilung deckt auch ihren eigenen Bedarf in Teilen ab, denn Abteilung I verbraucht ja selber Produktionsmittel (welche sie herstellt) und Abteilung II selber Konsumtionsmittel (welche auch sie selber herstellt). Abteilung I erzeugt folglich den Gegenwert der eigenen Produktionsmittel c1 + mac1 und Abteilung II stellt selber her die Konsumgüter v2 + mav2 + mr2. Wenn diese Anteile der Eigenproduktion nun aus dem Schema gestrichen werden, ergibt sich der notwendige Austausch zwischen beiden Abteilungen in der Gleichung:
(7) v1 + mav1 + mr1 = c2 + mac2
Wir sehen, daß Gleichung (7) die wachstumstheoretisch Erweiterung ist von Gleichung (4).
Dies stellt somit auch unter der Voraussetzung sektoralen Wachstums die unbedingte “Klammer” dar zwischen den beiden Produktionsabteilungen. Abteilung I muß also die Produktionsmittel für II herstellen und gleichzeitig eine ausreichende Nachfrage nach deren für sie produzierten Konsumgütern bereitstellen. Umgekehrt muß Abteilung II ausreichend Konsumgüter für Abteilung I produzieren und gleichzeitig ausreichend Produktionsmittel von I nachfragen, so dass dort kein Überschuß oder Mangel an Produktionsmitteln im Austausch entsteht.
Die englische Ökonomin Joan Robinson hat schon wenige Jahre nach dem Erscheinen von Keynes’ „General Theory“ 1942 darauf aufmerksam gemacht, dass bei Marx bereits implizit eine Theorie der „effektiven Nachfrage“ vorliegt. Sie fasst ihre Ausführungen in ihrem Buch „Grundprobleme der Marxschen Theorie“ in dem Kapitel „Die effektive Nachfrage“ so zusammen:
„Die Konsumtion der Arbeiter wird begrenzt durch ihre Armut, während die Konsumtion der Kapitalisten begrenzt wird durch ihre Habsucht nach Kapital, welche sie veranlasst, Reichtum zu akkumulieren statt Luxusaufwendungen zu machen. Die Nachfrage nach Konsumgütern (dem Produkt der Abteilung II) ist auf diese Weise begrenzt. Aber wenn der Output der Konsumgüterindustrien durch den Markt beschränkt ist, so bestehen wiederum auch Schranken für die Nachfrage nach Kapitalgütern (Abteilung I), denn das konstante Kapital der Konsumgüterindustrien wird sich nicht rasch genug ausdehnen, um den potentiellen Output der Kapitalgüterindustrien zu beanspruchen. So ist die Einkommensverteilung zwischen Löhnen und Gewinnen dergestalt, dass sie eine chronische Tendenz zu einem mangelhaften Ausgleich zwischen den beiden Abteilungen hervorruft“ (S. 68 der „Metropolis“-Ausgabe von 1989).
Die wechselseitige Verflechtung der beiden fundamentalen Sektoren erweist sich also als überaus problematisch vor dem Hintergrund der rein mikroökonomisch ausgerichteten Motivation der Akteure. Die sattsam bekannte „Schwäche des Binnenmarktes“ (sprich: effektiver Nachfrage auf dem Binnenmarkt) lässt sich also leicht im Rahmen der Marxschen Schemata darstellen, denn hier wird ja über die Verklammerungs-Formel klargestellt, dass die Expansion von Sektor I an die Konsumtionskraft von Sektor II gebunden ist. Damit die „erweiterte Reproduktion“ des Kapitals möglich ist muß eine ausreichende Nachfrage nach Gütern des Sektors II gegeben sein, denn sonst kann Sektor I nicht wachsen und folglich der Mehrwert der vorhergehenden Periode nicht gewinnbringend re-investiert werden. Marx und Keynes reichen sich hier also durchaus die Hand.
5.)Die Marxschen Schemata können selbstverständlich erweitert werden z.B. auf 3 Sektoren, also Sektor I und II wie bereits erörtert plus eines Sektors III für Luxusgüter (welcher sich über die Revenuen mr1 und mr2 alimentiert). Ein vierter Sektor könnte eingeführt werden wenn Sektor I ebenfalls differenziert wird in einen Sektor, der Produktionsmittel zur Produktion von Produktionsmitteln herstellt und einen Sektor, der Produktionsmittel zur Herstellung von Konsumgütern hervorbringt. Schrittweise könnte so eine Annäherung an die Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsweise erreicht werden. Leontieffs Input-Output-Economics haben diese Möglichkeit bekanntlich systematisch umgesetzt. Auch könnte Sektor II so aufgespalten werden, daß der Staatskonsum berücksichtigt wird (sh. dazu: Karl-Georg Zinn: Arbeitswerttheorie, 1972, S. 103 ff.).
Die Marxschen Reproduktionsschemata verweisen also darauf, daß der Marxsche Ansatz ein reproduktionstheoretischer ist und kein ausschließlich allokationstheoretischer wie der neoklassische, obwohl Fragen der Allokation auch mittels der Reproduktionsschemata erörtert werden können. Vor dem Hintergrund des zweiten Bandes des "Kapital" sind diese Erörterungen allerdings an die Einsicht in die Struktur des kapitalistischen Produktionsprozesses gebunden.
Sh. auch:
Websites zu den Marxschen Reproduktionsschemata:
http://www.unet.univie.ac.at/~a9709070/grundrisse01/1schemata.htm
http://de.geocities.com/bixo_do_coco/kapital/kapital7.html
Viele Grüsse an alle von
Van