Van Moorrison
04.06.2008, 13:27
1. Der Staat in seiner modernen - sich von älteren Staatsformen unterscheidenden - Form bedarf theoretischer Erklärung. Es geht hier um den bürgerlich-kapitalistischen Staat und seine ihm eigene Synthesis von kapitalistischer Produktionsweise und politischem System. Manche erklären die kapitalistische Produktionsweise einfach zu einer "natürlichen" oder doch zumindest anthropologisch fundierten Verhaltensdisposition im Sinne rationaler (manchmal auch noch "egoistischer") Wahlhandlungen zwischen gegeben Alternativen und freier Entfaltung des Privateigentums. Der Staat als von seiner Handlungslogik her anders geartetes Ordnungssystem erscheint dann als weniger "natürlich" weil von außen intervenierend in diesen "spontanen" (Hayek) Funktionsmechanismus.
Allein, die kapitalistische Produktionsweise ist von Menschen gemacht und genauso wenig „natürlich“ wie der Staat. Ein Blick auf die Staatsform und ihren Bezug zu den „Gesetzen des Kapitalismus“ lohnt sich deshalb nach wie vor.
2. Unter „sozialen Formen“ werden in der materialistischen Gesellschaftstheorie „den Menschen äußerlich und fremd gegenüberstehende Objekte bezeichnet, in denen ihr gesellschaftlicher Zusammenhang in einer verstellten, nicht unmittelbar durchschaubaren Weise zum Ausdruck kommt und mittels deren Gesellschaftlichkeit unter den bestehenden ökonomischen Bedingungen überhaupt erst möglich wird“ (Hirsch, Joachim 1995: Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, Amsterdam-Berlin, S. 17).
Wollen wir den modernen Staat als „soziale Form“ verstehen, müssen wir ihn gesellschaftswissenschaftlich rekonstruieren aus nicht mit ihm (tautologisch) identischen materiellen Beziehungen. Diese Rekonstruktions-Operation muß zunächst auf einer sehr hohen Abstraktionsebene statt finden, da wir hier noch keine Differenzierung zwischen verschiedenen Staatstypen vornehmen können, die sich im Verlaufe der kapitalistischen Entwicklung herausgebildet haben. Eine solche historisch differenzierte Analyse kann dann erst im Anschluß an die allgemeine Rekonstruktion des kapitalistischen Staates statt finden. Sie hebt das allgemeinere Konstrukt nicht auf, sondern zeigt nur die Vielfalt der Erscheinungsformen des bürgerlich-kapitalistischen Staates in der empirischen Realität. Joachim Hirsch hat in o.g. Buch „Der nationale Wettbewerbsstaat“ beides geleistet und seine Untersuchungen sollen im Folgenden eingehend herangezogen werden.
3. Die prinzipielle, der marxistischen Staatsableitungs-Debatte zugrunde liegende Frage formuliert Joachim Hirsch so:
Zu fragen ist nach dem bestimmten Verhältnis zwischen Struktur und Reproduktionszusammenhang der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und der für sie spezifischen Form des Politischen. Staatstheorie setzt somit eine adäquate Kapitalismustheorie voraus, eine Kapitalismustheorie, die zudem in der Lage ist, die historischen Veränderungen dieser gesellschaftlichen Formation und der für sie charakteristischen politischen Strukturen zu erklären".
http://www.trend.infopartisan.net/trd0305/t330305.html
Eine solche Kapitalismustheorie liegt mit der Marxschen Gesellschaftstheorie vor. Dabei stellt die Kritik der Politischen Ökonomie zunächst die sozialen Formen Wert, Geld und Kapital in ihren Mittelpunkt. Dabei kommt in der Wert- bzw. Geldform die Gesellschaftlichkeit arbeitsteiliger, voneinander getrennt produzierender Privatarbeiten zur Geltung. „Gesellschaft“ stellt sich unter den Bedingungen kapitalistischer Arbeitsteilung und privaten Produktionsmittelbesitzes nämlich nur noch über die Wertform her, deren handgreifliche, objektivierte Form das Geld ist. Eine unmittelbare Gesellschaftlichkeit gibt es unter den Produktionsbedingungen des Kapitals nicht, nur noch eine über die Wertform vermittelte. "Gesellschaft" stellt sich hier also über den Tausch und die dergestalt hergestellte Interdependenz der Produzenten untereinander her. Das Geld wiederum zirkuliert als Kapital, denn Produktionsmittel und Arbeitskraft stehen in einem gesellschaftlichen Verhältnis, in dem das Geld beständig seine quantitative Verwertung sucht über die produktive Vernutzung von Arbeit und Technologie. Geld wird investiert um mehr Geld zu werden und somit ist jede Ware (auch die „Ware Arbeitskraft“) nur ein Moment in der Verwertungsbewegung des Kapitals. „Politik“ kann also nur innerhalb dieses systemischen Reproduktionsmechanismus gedacht werden. Wo ist nun die Stelle, an welcher der Staat in dieses kapitalistische Produktionsverhältnis eintritt und welche spezifische Funktion kommt ihm hierbei zu?
4. Joachim Hirsch hat die Debatte um die Staatsform aus den siebziger Jahren sehr anschaulich zusammen gefasst und deshalb zitiere ich seine Ausführungen im Kontext:
Ein grundlegendes, wenn auch nicht funktional vorgegebenes, sondern - wie sich gerade im vorliegenden Zusammenhang zeigen wird - immer prekäres und umkämpftes Strukturmerkmal der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist die Herausbildung einer von den gesellschaftlichen Individuen, Gruppen und Klassen formell abgesonderten politischen Instanz und damit die Trennung von "Staat" und "Gesellschaft", von "Politik" und "Ökonomie". Für eine Gesellschaft, deren Ausbeutungs- und Klassenverhältnisse wertgesetzlich und marktvermittelt, d.h. mittels arbeitsteiliger Privatproduktion, Lohnarbeit und Warentausch reproduziert werden, ist die Verselbständigung und Zentralisierung der physischen Zwangsgewalt getrennt von allen gesellschaftlichen Klassen, auch der ökonomisch herrschenden, eine grundlegende Bestands- und Reproduktionsvoraussetzung. Diese Form des Politischen, d.h. die "Besonderung" oder "relative Autonomie" des Staates ist somit ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses selbst.
http://www.trend.infopartisan.net/trd0305/t330305.html
Der kapitalistische Produktionsprozeß selbst – wenn er als gesellschaftliches Produktionsverhältnis und nicht liberal-neoklassisch als „Naturzustand“ verstanden wird – benötigt also für sein Funktionieren einen institutionellen Rahmen, der sowohl die rechtlichen Voraussetzungen des Privateigentums schafft (formale Voraussetzungen) als auch eine allgemeine Legitimation der Produktionsweise bei den eigentumslosen Klassen (substanzielle Voraussetzungen). Die Interessen der herrschenden Klasse müssen nämlich erstens auf einem institutionell-rechtlich abgesicherten und von der beherrschten Klasse selbst anerkannten Weg verallgemeinert werden. Und zweitens muß garantiert sein, daß die Interessen der herrschenden Klasse nicht die Ordnung selbst gefährden, denn die herrschende Klasse denkt eindimensional und ist mikroökonomisch borniert. Ohne eine gewisse materielle „Entschädigung“ würde allerdings der Integration der beherrschten Klasse der materielle Boden entzogen und ein offener Klassenkampf an die Stelle der staatlich organisierten Moderation treten.
Der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ muß also die Integration der beherrschten Klasse in das Kapitalverhältnis vermitteln und die partikularen Interessen einzelner Kapitalverbände kohärent zusammenführen ohne das Kapitalverhältnis als solches zu gefährden. Gewissermaßen muß der Staat also vermeiden, daß Klassenkonflikte und Borniertheiten in einen offen Krieg führen und die isolierten, konkurrenzförmig vermittelten Marktsubjekte direkt übereinander herfallen.
Der kapitalistische Staat ist „weder ein eigenständiges Subjekt, noch eine bloß zweckrationale Organisation, sondern eine Form der Institutionalisierung sozialer Verhältnisse, genauer ein Kristallisationspunkt (Poulantzas) von widersprüchlichen Sozial- und Klassenbeziehungen“ (Joachim Hirsch).
Er ist in diesem Sinne nie „neutral“, sondern ein die Kapitalverwertung institutionell absicherndes Institutionengefüge. Der bürgerliche Staat ist ein Feld sozialer Kämpfe (Sozialstaat oder „Standort“?) und als solcher in einer klassenlosen Gesellschaft undenkbar. Eine einfache „Übernahme der Macht“ stellt somit noch längst nicht eine Überwindung des Kapitalismus dar, sondern bestenfalls eine Kräfteverschiebung innerhalb der Institution. Da Staat und Kapital aber nur zwei Seiten derselben Medaille sind, können auch staatssozialistische Systeme nicht als „klassenlose Gesellschaften“ verstanden werden. Allein die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Staat wurde im sowjetischen Herrschaftsbereich tangiert, die soziale Konfiguration als solche aber nicht.
Van Moorrison
Allein, die kapitalistische Produktionsweise ist von Menschen gemacht und genauso wenig „natürlich“ wie der Staat. Ein Blick auf die Staatsform und ihren Bezug zu den „Gesetzen des Kapitalismus“ lohnt sich deshalb nach wie vor.
2. Unter „sozialen Formen“ werden in der materialistischen Gesellschaftstheorie „den Menschen äußerlich und fremd gegenüberstehende Objekte bezeichnet, in denen ihr gesellschaftlicher Zusammenhang in einer verstellten, nicht unmittelbar durchschaubaren Weise zum Ausdruck kommt und mittels deren Gesellschaftlichkeit unter den bestehenden ökonomischen Bedingungen überhaupt erst möglich wird“ (Hirsch, Joachim 1995: Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, Amsterdam-Berlin, S. 17).
Wollen wir den modernen Staat als „soziale Form“ verstehen, müssen wir ihn gesellschaftswissenschaftlich rekonstruieren aus nicht mit ihm (tautologisch) identischen materiellen Beziehungen. Diese Rekonstruktions-Operation muß zunächst auf einer sehr hohen Abstraktionsebene statt finden, da wir hier noch keine Differenzierung zwischen verschiedenen Staatstypen vornehmen können, die sich im Verlaufe der kapitalistischen Entwicklung herausgebildet haben. Eine solche historisch differenzierte Analyse kann dann erst im Anschluß an die allgemeine Rekonstruktion des kapitalistischen Staates statt finden. Sie hebt das allgemeinere Konstrukt nicht auf, sondern zeigt nur die Vielfalt der Erscheinungsformen des bürgerlich-kapitalistischen Staates in der empirischen Realität. Joachim Hirsch hat in o.g. Buch „Der nationale Wettbewerbsstaat“ beides geleistet und seine Untersuchungen sollen im Folgenden eingehend herangezogen werden.
3. Die prinzipielle, der marxistischen Staatsableitungs-Debatte zugrunde liegende Frage formuliert Joachim Hirsch so:
Zu fragen ist nach dem bestimmten Verhältnis zwischen Struktur und Reproduktionszusammenhang der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und der für sie spezifischen Form des Politischen. Staatstheorie setzt somit eine adäquate Kapitalismustheorie voraus, eine Kapitalismustheorie, die zudem in der Lage ist, die historischen Veränderungen dieser gesellschaftlichen Formation und der für sie charakteristischen politischen Strukturen zu erklären".
http://www.trend.infopartisan.net/trd0305/t330305.html
Eine solche Kapitalismustheorie liegt mit der Marxschen Gesellschaftstheorie vor. Dabei stellt die Kritik der Politischen Ökonomie zunächst die sozialen Formen Wert, Geld und Kapital in ihren Mittelpunkt. Dabei kommt in der Wert- bzw. Geldform die Gesellschaftlichkeit arbeitsteiliger, voneinander getrennt produzierender Privatarbeiten zur Geltung. „Gesellschaft“ stellt sich unter den Bedingungen kapitalistischer Arbeitsteilung und privaten Produktionsmittelbesitzes nämlich nur noch über die Wertform her, deren handgreifliche, objektivierte Form das Geld ist. Eine unmittelbare Gesellschaftlichkeit gibt es unter den Produktionsbedingungen des Kapitals nicht, nur noch eine über die Wertform vermittelte. "Gesellschaft" stellt sich hier also über den Tausch und die dergestalt hergestellte Interdependenz der Produzenten untereinander her. Das Geld wiederum zirkuliert als Kapital, denn Produktionsmittel und Arbeitskraft stehen in einem gesellschaftlichen Verhältnis, in dem das Geld beständig seine quantitative Verwertung sucht über die produktive Vernutzung von Arbeit und Technologie. Geld wird investiert um mehr Geld zu werden und somit ist jede Ware (auch die „Ware Arbeitskraft“) nur ein Moment in der Verwertungsbewegung des Kapitals. „Politik“ kann also nur innerhalb dieses systemischen Reproduktionsmechanismus gedacht werden. Wo ist nun die Stelle, an welcher der Staat in dieses kapitalistische Produktionsverhältnis eintritt und welche spezifische Funktion kommt ihm hierbei zu?
4. Joachim Hirsch hat die Debatte um die Staatsform aus den siebziger Jahren sehr anschaulich zusammen gefasst und deshalb zitiere ich seine Ausführungen im Kontext:
Ein grundlegendes, wenn auch nicht funktional vorgegebenes, sondern - wie sich gerade im vorliegenden Zusammenhang zeigen wird - immer prekäres und umkämpftes Strukturmerkmal der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist die Herausbildung einer von den gesellschaftlichen Individuen, Gruppen und Klassen formell abgesonderten politischen Instanz und damit die Trennung von "Staat" und "Gesellschaft", von "Politik" und "Ökonomie". Für eine Gesellschaft, deren Ausbeutungs- und Klassenverhältnisse wertgesetzlich und marktvermittelt, d.h. mittels arbeitsteiliger Privatproduktion, Lohnarbeit und Warentausch reproduziert werden, ist die Verselbständigung und Zentralisierung der physischen Zwangsgewalt getrennt von allen gesellschaftlichen Klassen, auch der ökonomisch herrschenden, eine grundlegende Bestands- und Reproduktionsvoraussetzung. Diese Form des Politischen, d.h. die "Besonderung" oder "relative Autonomie" des Staates ist somit ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses selbst.
http://www.trend.infopartisan.net/trd0305/t330305.html
Der kapitalistische Produktionsprozeß selbst – wenn er als gesellschaftliches Produktionsverhältnis und nicht liberal-neoklassisch als „Naturzustand“ verstanden wird – benötigt also für sein Funktionieren einen institutionellen Rahmen, der sowohl die rechtlichen Voraussetzungen des Privateigentums schafft (formale Voraussetzungen) als auch eine allgemeine Legitimation der Produktionsweise bei den eigentumslosen Klassen (substanzielle Voraussetzungen). Die Interessen der herrschenden Klasse müssen nämlich erstens auf einem institutionell-rechtlich abgesicherten und von der beherrschten Klasse selbst anerkannten Weg verallgemeinert werden. Und zweitens muß garantiert sein, daß die Interessen der herrschenden Klasse nicht die Ordnung selbst gefährden, denn die herrschende Klasse denkt eindimensional und ist mikroökonomisch borniert. Ohne eine gewisse materielle „Entschädigung“ würde allerdings der Integration der beherrschten Klasse der materielle Boden entzogen und ein offener Klassenkampf an die Stelle der staatlich organisierten Moderation treten.
Der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ muß also die Integration der beherrschten Klasse in das Kapitalverhältnis vermitteln und die partikularen Interessen einzelner Kapitalverbände kohärent zusammenführen ohne das Kapitalverhältnis als solches zu gefährden. Gewissermaßen muß der Staat also vermeiden, daß Klassenkonflikte und Borniertheiten in einen offen Krieg führen und die isolierten, konkurrenzförmig vermittelten Marktsubjekte direkt übereinander herfallen.
Der kapitalistische Staat ist „weder ein eigenständiges Subjekt, noch eine bloß zweckrationale Organisation, sondern eine Form der Institutionalisierung sozialer Verhältnisse, genauer ein Kristallisationspunkt (Poulantzas) von widersprüchlichen Sozial- und Klassenbeziehungen“ (Joachim Hirsch).
Er ist in diesem Sinne nie „neutral“, sondern ein die Kapitalverwertung institutionell absicherndes Institutionengefüge. Der bürgerliche Staat ist ein Feld sozialer Kämpfe (Sozialstaat oder „Standort“?) und als solcher in einer klassenlosen Gesellschaft undenkbar. Eine einfache „Übernahme der Macht“ stellt somit noch längst nicht eine Überwindung des Kapitalismus dar, sondern bestenfalls eine Kräfteverschiebung innerhalb der Institution. Da Staat und Kapital aber nur zwei Seiten derselben Medaille sind, können auch staatssozialistische Systeme nicht als „klassenlose Gesellschaften“ verstanden werden. Allein die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Staat wurde im sowjetischen Herrschaftsbereich tangiert, die soziale Konfiguration als solche aber nicht.
Van Moorrison