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Vollständige Version anzeigen : Konservative Staatsphilosophie



-SG-
28.04.2008, 16:22
Welches sind für Euch Grundbegriffe konservativer Staatstheorie? Welche Autoren, Paradigmen zählt ihr dazu?

Auf welchen staatsphilosophischen Eckpfeilern muss ein Staat aus konservativer Sicht aufgebaut sein, im Gegensatz zum liberalen Vertragskonzept, RationalChoice-Paradigma und dergleichen?

McDuff
28.04.2008, 18:06
Für mich sind das moralische und ethische Werte die das Verhalten in einem Staate regeln.

-SG-
29.04.2008, 12:04
Moral ist ein gutes Stichwort. Von Arisoteles über de Toqueville bis zu den modernen Klassikern wie Almond, Easton, Putnam haben wir immer so etwas wie Bürgertugend, Staatsbürgerethik, "civic culture" o.ä.

Mir scheint, die Liberalen haben das verdrängt bzw setzen es einfach stillschweigend voraus.

Aber ich will vielleicht mal einen grundsätzlicheren Punkt ansprechen, nämlich die menschliche Natur. Während bei Hobbes der Mensch böse ist und es daher den Staat benötigt, ist bei radikalen Liberalen bis Anarchisten der Mensch gut und brauch daher keine bzw möglichst wenig Herrschaft.

Kann es sein, dass das eines der prinzipiellen Axiome ist, durch die sich konservative Theoretiker von Liberalen unterscheiden? Weil der Mensch von Natur aus böse ist bzw sein kann, braucht es eine rigide Herrschaft, bindende Sitten usw., um das im Zaum zu halten...

Sauerländer
29.04.2008, 12:12
Ein grundsätzlich pessimistisches Menschenbild scheint mir in der Tat ein wesentliches Kennzeichen konservativen Denkens sein.
In sich unterschiedlich ist es dann hinsichtlich der Frage, wie die Sicherung gegen die grundsätzlich als gegeben anzusehende Korruptibilität des Menschen auszusehen hat. Denkbar sind hier der überwachende, züchtigende Staat, ebenso wie religiöse Institutionen (hier stellt sich mir am Rande die Frage, ob man es nicht ebenfalls als konservative Kerngröße begreifen kann, dass die materielle Welt an sich selbst "nicht genug" ist und irgendeiner Art von Transzendenz bedarf) oder auch Stammes- und Familienstrukturen.
Größen, die durchaus feindlich zueinander stehen können.

Rheinlaender
29.04.2008, 13:15
Aber ich will vielleicht mal einen grundsätzlicheren Punkt ansprechen, nämlich die menschliche Natur. Während bei Hobbes der Mensch böse ist und es daher den Staat benötigt, ist bei radikalen Liberalen bis Anarchisten der Mensch gut und brauch daher keine bzw möglichst wenig Herrschaft.

Das mag bei Anarchisten der Fall sein, nicht bei Liberalen: Der Liberale geht davon aus, dass jeder das tun soll, was er meint richtig zu sein, ob es ihm schadet oder nuetzt, hat den Liberalen nicht zu interessieren. Die Grenze beginnt dort, wo andere betroffen sind, hier hat der Staat, als Organ der Gesellschaft, ein klare Linie zu ziehen.

Die liberale Ideologie geht davon aus, dass jeder fuer sich Entscheidungen treffen kann und muss - und deren Folgen auch selber tragen.

Um noch weiter zu gehen: Die Begriffe "gut" und "boese" existieren als sinnvolle Begriffe nicht. Der einzige moraliche Massstab ist das Recht des anderen seine rechte auch auszuueben, werden diese nicht betroffen, so ist jede Handlung als neutral zu sehen. Nur Handlungen, die die Rechte Anderer beschraenken sind negativ zu sehen, aber nicht unter dem moralsichen Aspekt "gut"/"boese", unter dem Aspekt, dass eine schaedliche Handlung zu verhindern ist.

-jmw-
29.04.2008, 13:47
ist bei radikalen Liberalen bis Anarchisten der Mensch gut und brauch daher keine bzw möglichst wenig Herrschaft.
Wobei, dies nur als kleine Randnotiz, da, wo ich mich bewege, "der Mensch ist gut" als Position so mir kaum untergekommen ist bishe.
Sehr viel häufiger scheint mir die Ansicht, der Mensch sei beides;
oder, auch sehr häufig, dass tatsächlich der Menschen sowas wie "böse" sei, gefolgt von dem Argument, dass in diesem Falle ein starker Staat oder ein Staat überhaupt keine Lösung des Problems darstellen könne, weil - okay, ich mein, bösen Menschen Macht zu geben ist wohl gaga.

Bei Hobbes, Randnotiz 2, finden wir übrigens die Lösung (edit: Einen Versuch, besser gesagt, der m.E. scheitert) für dieses Dilemma in seiner Anthropologie und damit den Ansichten über die Art des Funktionierens des Herrschers als Mensch.

Sauerländer
29.04.2008, 15:10
(...)
Sehr viel häufiger scheint mir die Ansicht, der Mensch sei beides;
oder, auch sehr häufig, dass tatsächlich der Menschen sowas wie "böse" sei, gefolgt von dem Argument, dass in diesem Falle ein starker Staat oder ein Staat überhaupt keine Lösung des Problems darstellen könne, weil - okay, ich mein, bösen Menschen Macht zu geben ist wohl gaga.
Je nachdem, wie genau das Böse verstanden wird, ist das in der Tat ein Problem, das sich stellt.
Eine moderate konservative Antwort darauf ist in der Regel das Subsidiaritätsprinzip. Bei radikalerer Herangehensweise kann das durchaus bis in einen (nach wie vor konservativ zu interpretierenden, etwa stark religiös gefärbten) Anarchismus führen - der allerdings immer Gefahr läuft, in eine grundsätzliche Autoritätsnegation zu verfallen, womit sein konservativer Gehalt geopfert wäre.
Genauer besehen stellt sich die Frage, was genau wir unter "Macht" verstehen.
Welcher Art zum Beispiel ist die Macht des (heutigen) Papsttums? Kann der Heilige Stuhl realweltlich gegen irgendjemanden Zwang ausüben, der das nicht wünscht?
Nein, das kann er nicht. In diesem Sinne (der wohl auch Stalin bei seiner berühmten Frage nach den Divisionen des Papstes vor Augen stand) hat Rom keine Macht.
Während gleichzeitig nicht bestritten werden kann, dass dort Richtlinien aufgestellt werden, die weltweit für viele, viele Menschen in einem durchaus freiheitsbeschränkenden Sinne verbindlich sind.

-SG-
29.04.2008, 15:37
Wobei, dies nur als kleine Randnotiz, da, wo ich mich bewege, "der Mensch ist gut" als Position so mir kaum untergekommen ist bishe.
Sehr viel häufiger scheint mir die Ansicht, der Mensch sei beides;
oder, auch sehr häufig, dass tatsächlich der Menschen sowas wie "böse" sei, gefolgt von dem Argument, dass in diesem Falle ein starker Staat oder ein Staat überhaupt keine Lösung des Problems darstellen könne, weil - okay, ich mein, bösen Menschen Macht zu geben ist wohl gaga.


Dieses Problem wird von Konservativen unterschiedlich angegangen, die einen sehen darin ein Argument für, die anderen gegen die Demokratie.

Während man v.a. im 19. Jh. diese Überlegungen als Ausgangspunkt dafür nahm, dass Herrschaft überhaupt nicht von Menschen, sondern nur von Gott ausgehen könne, und ein Kaiser daher "von Gottes Gnaden" regiert, sagen neuere Konservattive: Entscheidend ist, dass überhaupt eine allgemeingültige Ordnung da ist, die für alle gilt und daher den Menschen ihre Willkür nimmt, Schlechtes zu tun. Moral, Religion, Staat dienen dazu. Wie sie genau ausgestaltet sind ist egal, hauptsache sie sind allgemein bindend. Damit diejenigen, die diese Ordnung aufbauen, ihre Macht nicht missbrauchen, sollen wir sie aber abwählen dürfen.

Sauerländer
29.04.2008, 15:53
Während man v.a. im 19. Jh. diese Überlegungen als Ausgangspunkt dafür nahm, dass Herrschaft überhaupt nicht von Menschen, sondern nur von Gott ausgehen könne, und ein Kaiser daher "von Gottes Gnaden" regiert, sagen neuere Konservattive: Entscheidend ist, dass überhaupt eine allgemeingültige Ordnung da ist, die für alle gilt und daher den Menschen ihre Willkür nimmt, Schlechtes zu tun. Moral, Religion, Staat dienen dazu. Wie sie genau ausgestaltet sind ist egal, hauptsache sie sind allgemein bindend.
Das demonstriert vortrefflich einen Teil des Elends des modernen Konservatismus, das auch am Schmitt´schen Dezisionismus deutlich wird:
Wichtig ist, DASS entschieden wird, nicht WIE entschieden wird.
Wenn aber ganz in diesem Sinne die Rechtfertigung der Macht in sich selbst liegt bzw grundsätzlich auf sie verzichtet werden kann, dann wird ein Instrument zur Verwirklichung von Inhalten selbst zum Inhalt, dann liegt der Wert des Befehls im Befehl, und kann somit willkürlich gesetzt werden.
Natürlich, "Auctoritas, non veritas facet legem" gilt faktisch immer.
Die Frage ist nur, ob in der offensive Aussprache dieser Feststellung nicht eine über die Feststellung bestehender Faktizität hinausgehende Bejahung steckt, die bereits nicht mehr weit von der Preisgabe der Veritas entfernt ist.
Schmitt konnte das tun, weil er implizit immer noch von einer ganz bestimmten Wahrheit ausging - aber wie stellt sich uns das heute dar?
Kannn ein solcher Konservatismus mehr sein als ein knallharter Etatismus? Zumindest scheinen mir Zweifel angebracht.

EDIT: Da habe ich doch tatsächlich SELBST die Wahrheit vergessen...
Danke für den Hinweis, Chanan.

-SG-
29.04.2008, 15:55
Das mag bei Anarchisten der Fall sein, nicht bei Liberalen: Der Liberale geht davon aus, dass jeder das tun soll, was er meint richtig zu sein, ob es ihm schadet oder nuetzt, hat den Liberalen nicht zu interessieren. Die Grenze beginnt dort, wo andere betroffen sind, hier hat der Staat, als Organ der Gesellschaft, ein klare Linie zu ziehen.

Die liberale Ideologie geht davon aus, dass jeder fuer sich Entscheidungen treffen kann und muss - und deren Folgen auch selber tragen.

Um noch weiter zu gehen: Die Begriffe "gut" und "boese" existieren als sinnvolle Begriffe nicht. Der einzige moraliche Massstab ist das Recht des anderen seine rechte auch auszuueben, werden diese nicht betroffen, so ist jede Handlung als neutral zu sehen. Nur Handlungen, die die Rechte Anderer beschraenken sind negativ zu sehen, aber nicht unter dem moralsichen Aspekt "gut"/"boese", unter dem Aspekt, dass eine schaedliche Handlung zu verhindern ist.

Dieses Denken funktioniert im Zwei-Bauern-zwei-Bauernhöfe-Gedankenexperiment, aber danach findet es auch schon seine Grenzen. Politik ist immer kollektiv bindende Entscheidungen (also solche, wo andere betroffen sind), sowohl etymologisch ("über die Stadt") als auch in allen neuzeitlichen Definitionen. Und sei es nur die kollekiv bindende Entscheidung, dass jeder das tun dürfe, was er wolle, solange die Rechte anderer nicht berührt sind. Gleichermaßen müssen hier dann kollektiv bindende Enscheidungen darüber getroffen werden, was denn die Rechte anderer sind. Das wiederum leitet sich nicht aus dem Nichts ab, sondern aus einer bestimmten Kultur mit bestimmten Wertvorstellungen.

Der Liberale nimmt einfach an, es sei ja ganz klar, dass jeder der selben Kultur angehöre, die selben Vorstellungen von Rechten teile, und auf dieser Basis kann man natürlich locker sagen "Jeder soll machen was er will, bis die Rechte der anderen tangiert werden", da dann ja ein Konsens darüber besteht, was denn als Rech gilt.

Der Konservative jedoch sieht ein, dass es für Mensch A ganz und gar nicht einsichtig sein muss, dass es Mensch Bs Recht ist, das große Anwesen zu besitzen, Steuern in Höhe X einzutreiben, eine Mohammedkarikatur zu zeichnen, schwul zu sein, eine Statue von Wilhelm II. auf dem Markplatz zu wollen und kein Gewerkschaftshaus, die Rotrückenkoalas per Naurschutzgebiet erhalten zu wollen oder als Jude überhaupt leben zu dürfen. Daher sagt er: Es muss allgemeinbindende Regeln geben, die verhindern, dass die Menschen ihre Dissensen offen austoben. Diese Regeln sind für alle gleichgeltende Staatsordnung, Gesetze, Moral, Sitten, Religion usw usf. Was da überall drin steht ist im Grunde egal, hauptsache es ist wirksam gewährleistet dass sich alle dran halten.

Sauerländer
29.04.2008, 16:02
Der Konservative jedoch sieht ein, dass es für Mensch A ganz und gar nicht einsichtig sein muss, dass es Mensch Bs Recht ist, das große Anwesen zu besitzen, Steuern in Höhe X einzutreiben, eine Mohammedkarikatur zu zeichnen, schwul zu sein, eine Statue von Wilhelm II. auf dem Markplatz zu wollen und kein Gewerkschaftshaus, die Rotrückenkoalas per Naurschutzgebiet erhalten zu wollen oder als Jude überhaupt leben zu dürfen. Daher sagt er: Es muss allgemeinbindende Regeln geben, die verhindern, dass die Menschen ihre Dissensen offen austoben. Diese Regeln sind für alle gleichgeltende Staatsordnung, Gesetze, Moral, Sitten, Religion usw usf. Was da überall drin steht ist im Grunde egal, hauptsache es ist wirksam gewährleistet dass sich alle dran halten.
Hier wird mir der konservative Ordnungsgedanke erheblich zu funktional, nämlich im Hinblick auf seine friedenserhaltende Funktion betrachtet.
Ohne jeden Zweifel ist diese Funktion Bestandteil, aber wenn sie zum wesentlichen Antrieb wird, ist in meinen Augen bereits der Weg in die Infunktionabilität angelegt.
Was es zu bewahren gilt, ist die Kultur, die in sich unter anderem den Fríeden ermöglicht, und das mitunter auch um den Preis, diesen Frieden zeitweilig zu opfern.

Rheinlaender
29.04.2008, 16:15
Der Liberale nimmt einfach an, es sei ja ganz klar, dass jeder der selben Kultur angehöre, die selben Vorstellungen von Rechten teile, und auf dieser Basis kann man natürlich locker sagen "Jeder soll machen was er will, bis die Rechte der anderen tangiert werden", da dann ja ein Konsens darüber besteht, was denn als Rech gilt.

Der Konservative jedoch sieht ein, dass es für Mensch A ganz und gar nicht einsichtig sein muss, dass es Mensch Bs Recht ist, das große Anwesen zu besitzen, Steuern in Höhe X einzutreiben, eine Mohammedkarikatur zu zeichnen, schwul zu sein, eine Statue von Wilhelm II. auf dem Markplatz zu wollen und kein Gewerkschaftshaus, die Rotrückenkoalas per Naurschutzgebiet erhalten zu wollen oder als Jude überhaupt leben zu dürfen. Daher sagt er: Es muss allgemeinbindende Regeln geben, die verhindern, dass die Menschen ihre Dissensen offen austoben. Diese Regeln sind für alle gleichgeltende Staatsordnung, Gesetze, Moral, Sitten, Religion usw usf. Was da überall drin steht ist im Grunde egal, hauptsache es ist wirksam gewährleistet dass sich alle dran halten.

Man ist sich durchaus bewusst, dass Toleranz nicht von jedem akzeptiert wird. Liberale Staaten ziehen daraus die Konsequenz diese Toleranz mit dem Zwangsmitteln des Staates durchzusetzen. Wenn ein Moslem in der Buchhandlung randliert, weil dort Mohamendkarrikaturen ausliegen, oder ein radikaler Schwulenrechtlicher die kath. Messe stoert, dann muss der liberale Staat eingreifen.

Das grundsaetzliche Regelsystem ist aber auf das absolute Minimum reduziert - ausgedrueckt durch die Menschenrechtskataloge. Ein konservativer Staat promoviert, z. T. durch den "grossen Hammer" Strafrecht aber noch weitergehende Moralvorstellungen zu Ehe, Sexualitaet, Lebensfuehrung ect. Der liberale Staat schweigt hierzu, weil es eben das minimale Regelsystem, dessen einzige Aufgabe es ist allen moeglichst viel Freiheit zu gewaehrleisten, nicht tangiert wird.

Im liberalen Staat sind die allgemeingueltigen Regeln immer auf dem Pruefstand: Benoetigen wir wirklich diese oder jene Einschraenkung der Handlungsfreiheit des Einzeln um "die Bude am Laufen" zu halten?

Bärwolf
29.04.2008, 16:58
Georg Quabbe hat mich in letzter Zeit sehr interessiert, man würde ihn heute wohl als einen liberal-Konservativen bezeichnen, er war jedenfalls eine interessante Ausnahmeerscheinung in der DNVP.

Bärwolf
29.04.2008, 16:59
Man ist sich durchaus bewusst, dass Toleranz nicht von jedem akzeptiert wird. Liberale Staaten ziehen daraus die Konsequenz diese Toleranz mit dem Zwangsmitteln des Staates durchzusetzen. Wenn ein Moslem in der Buchhandlung randliert, weil dort Mohamendkarrikaturen ausliegen, oder ein radikaler Schwulenrechtlicher die kath. Messe stoert, dann muss der liberale Staat eingreifen.

Das grundsaetzliche Regelsystem ist aber auf das absolute Minimum reduziert - ausgedrueckt durch die Menschenrechtskataloge. Ein konservativer Staat promoviert, z. T. durch den "grossen Hammer" Strafrecht aber noch weitergehende Moralvorstellungen zu Ehe, Sexualitaet, Lebensfuehrung ect. Der liberale Staat schweigt hierzu, weil es eben das minimale Regelsystem, dessen einzige Aufgabe es ist allen moeglichst viel Freiheit zu gewaehrleisten, nicht tangiert wird.

Im liberalen Staat sind die allgemeingueltigen Regeln immer auf dem Pruefstand: Benoetigen wir wirklich diese oder jene Einschraenkung der Handlungsfreiheit des Einzeln um "die Bude am Laufen" zu halten?

Sogesehen haben wir keinen liberalen Staat, weil er durch das Krebsgeschwür des Bürokratismus konterkariert wird.

-SG-
29.04.2008, 19:15
Man ist sich durchaus bewusst, dass Toleranz nicht von jedem akzeptiert wird. Liberale Staaten ziehen daraus die Konsequenz diese Toleranz mit dem Zwangsmitteln des Staates durchzusetzen. Wenn ein Moslem in der Buchhandlung randliert, weil dort Mohamendkarrikaturen ausliegen, oder ein radikaler Schwulenrechtlicher die kath. Messe stoert, dann muss der liberale Staat eingreifen.

Das grundsaetzliche Regelsystem ist aber auf das absolute Minimum reduziert - ausgedrueckt durch die Menschenrechtskataloge. Ein konservativer Staat promoviert, z. T. durch den "grossen Hammer" Strafrecht aber noch weitergehende Moralvorstellungen zu Ehe, Sexualitaet, Lebensfuehrung ect. Der liberale Staat schweigt hierzu, weil es eben das minimale Regelsystem, dessen einzige Aufgabe es ist allen moeglichst viel Freiheit zu gewaehrleisten, nicht tangiert wird.

Im liberalen Staat sind die allgemeingueltigen Regeln immer auf dem Pruefstand: Benoetigen wir wirklich diese oder jene Einschraenkung der Handlungsfreiheit des Einzeln um "die Bude am Laufen" zu halten?

Das ist richtig und beschreibt treffend den reaktiven Charakter des liberalen Staats, der aufgrund seiner Neutraliät zwangsläufig nur Traditionen, Werte und Normen etc. infrage stellen kann, aber keine selbs schaffen bzw legitimieren kann.

Daher benötigt er auch ein funktionierendes Gemeinwesen als "Wirt", das er dann Stück für Sück für obsolet erklären kann. Sobald aber die homogene kulurelle Grundlage entfallen ist, zerfällt auch der liberale Staat Stück für Stück, weil er keine Bemessungsgrundlage für die nun plurale Kulturordnung und ihre Streiteren hat.

Dieser Prozess ist mittlerweile im Gange und es besteht kein Zweifel, dass es so kommt. Ich denke Du bist intelligent genug diese Prognose teilen zu können, wenn Du nicht nur von Dir selbs ausgehst. Du und einige anderen werden zwar die liberal-aufklärerische Fahne hochhalten aber durch Migration, Kultur- und Bewussseinswandel mach sich eine neue Gemeinschaftsorienierung durch ethnische, sprachliche, religiöse, kulturelle oder ökonomische Abgrenzungsmerkmale breit.

Die auf relativ homogener kultureller Grundlage installierten Nationalstaaten sehen ab ca. den 1960ern diese Grundlage nicht mehr als handlungsrelevant an. Sie entscheiden sich für eine liberale Neutralität und überlassen von da an den sozial-evoluttionären Kräften das Feld, die die Nachfolge aushandeln. Dieser Prozess zeichnet sich erst durch Wiedereinführung sozial bindender Normen für einzelne soziale Gruppen aus, bsp. durch Autonomiezugeständnisse im Familienrecht für Sikhs oder Muslime. Hier wird deutlich: Der Liberalismus, der keine Normen schaffen kann, hat zuerst die alten "Sitten&Gebräuche" z.B. in GB aufgebrochen und das Feld für beliebig erklärt, nun fordern einzelne Gruppen das Normsetzungsrecht, was er ihnen aufgrund seiner Neuralität zugesteht. Nun aber ist der Einzelne mehr und mehr in diese Bindungen der sozialen Gruppe, mit der er sich idenifiziert (Ethnie, Nationalität, Religion...) eingebunden. Gewinnen diese sozialen Gruppen an Gewicht (in den nächsten 20 Jahren bemerkbar), so beginnt die Konkurrenz um die Nachfolge des liberalen, neutralen Staates.

Man braucht wirklich kein Hellseher zu sein um das vorhersagen zu können.

-SG-
29.04.2008, 19:21
Des Weiteren können Liberale wie gesagt Kollektivinteressen wie Umweltschutz nur über Aggregierung von Eigeninteressen erklären.

Was aber, wenn A den einheimischen Buntspecht retten will aber B nicht? A kann es nicht alleine und will Steuergelder verwenden, das greift aber in Bs "Rechte" ein, C dagegen findet, dass es keine Eigentumsrechte geben sollte und D findet, es solle weder Menschen noch Buntspechte geben.

Der Liberale verdrängt das Problem indem er denkt: Ach in der Realität ist man sich doch meistens einig.

-SG-
29.04.2008, 19:28
Das demonstriert vortrefflich einen Teil des Elends des modernen Konservatismus, das auch am Schmitt´schen Dezisionismus deutlich wird:
Wichtig ist, DASS entschieden wird, nicht WIE entschieden wird.
Wenn aber ganz in diesem Sinne die Rechtfertigung der Macht in sich selbst liegt bzw grundsätzlich auf sie verzichtet werden kann, dann wird ein Instrument zur Verwirklichung von Inhalten selbst zum Inhalt, dann liegt der Wert des Befehls im Befehl, und kann somit willkürlich gesetzt werden.
Natürlich, "Auctoritas, non veritas facet legem" gilt faktisch immer.
Die Frage ist nur, ob in der offensive Aussprache dieser Feststellung nicht eine über die Feststellung bestehender Faktizität hinausgehende Bejahung steckt, die bereits nicht mehr weit von der Preisgabe der Veritas entfernt ist.
Schmitt konnte das tun, weil er implizit immer noch von einer ganz bestimmten Wahrheit ausging - aber wie stellt sich uns das heute dar?
Kannn ein solcher Konservatismus mehr sein als ein knallharter Etatismus? Zumindest scheinen mir Zweifel angebracht.

EDIT: Da habe ich doch tatsächlich SELBST die Wahrheit vergessen...
Danke für den Hinweis, Chanan.

Ja, im Grunde richtig nachvollzogen, das ist auch der Grund warum Schmitt anfangs dem NS neutral gegenüberstehen muss. Aus dieser Erfahrung heraus sagt man heute daher: Ein Kontrollmechanismus ist nowendig, und den stellt die demokratische Methode dar. Die "Ewigkeitsklausel" löst das nicht besonders elegant, meiner Ansicht nach auch nicht unbedingt wirksam, aber es ist ein symbolträchtiger Versuch.

Klar ist damit dann auch, dass Demokratie nicht liberaler Parlamenarismus heißen muss. Die Demokratie sei die beste Staatsform, hieß es, nicht aber unbedingt die liberale parlamentarische Demokratie.

Pandulf
29.04.2008, 19:41
Das ist richtig und beschreibt treffend den reaktiven Charakter des liberalen Staats, der aufgrund seiner Neutraliät zwangsläufig nur Traditionen, Werte und Normen etc. infrage stellen kann, aber keine selbs schaffen bzw legitimieren kann.

Daher benötigt er auch ein funktionierendes Gemeinwesen als "Wirt", das er dann Stück für Sück für obsolet erklären kann. Sobald aber die homogene kulurelle Grundlage entfallen ist, zerfällt auch der liberale Staat Stück für Stück, weil er keine Bemessungsgrundlage für die nun plurale Kulturordnung und ihre Streiteren hat.

Dieser Prozess ist mittlerweile im Gange und es besteht kein Zweifel, dass es so kommt. Ich denke Du bist intelligent genug diese Prognose teilen zu können, wenn Du nicht nur von Dir selbs ausgehst. Du und einige anderen werden zwar die liberal-aufklärerische Fahne hochhalten aber durch Migration, Kultur- und Bewussseinswandel mach sich eine neue Gemeinschaftsorienierung durch ethnische, sprachliche, religiöse, kulturelle oder ökonomische Abgrenzungsmerkmale breit.

Die auf relativ homogener kultureller Grundlage installierten Nationalstaaten sehen ab ca. den 1960ern diese Grundlage nicht mehr als handlungsrelevant an. Sie entscheiden sich für eine liberale Neutralität und überlassen von da an den sozial-evoluttionären Kräften das Feld, die die Nachfolge aushandeln. Dieser Prozess zeichnet sich erst durch Wiedereinführung sozial bindender Normen für einzelne soziale Gruppen aus, bsp. durch Autonomiezugeständnisse im Familienrecht für Sikhs oder Muslime. Hier wird deutlich: Der Liberalismus, der keine Normen schaffen kann, hat zuerst die alten "Sitten&Gebräuche" z.B. in GB aufgebrochen und das Feld für beliebig erklärt, nun fordern einzelne Gruppen das Normsetzungsrecht, was er ihnen aufgrund seiner Neuralität zugesteht. Nun aber ist der Einzelne mehr und mehr in diese Bindungen der sozialen Gruppe, mit der er sich idenifiziert (Ethnie, Nationalität, Religion...) eingebunden. Gewinnen diese sozialen Gruppen an Gewicht (in den nächsten 20 Jahren bemerkbar), so beginnt die Konkurrenz um die Nachfolge des liberalen, neutralen Staates.

Man braucht wirklich kein Hellseher zu sein um das vorhersagen zu können.

Sehr guter Beitrag, Chanan! Besonders deine Prognose inspiriert, daß die nächsten 20 Jahre im Zeichen des Kampfes um die Nachfolge des liberalen Staates stehen werden. Das ist unser Kampf!

Rheinlaender
29.04.2008, 19:58
Das ist richtig und beschreibt treffend den reaktiven Charakter des liberalen Staats, der aufgrund seiner Neutraliät zwangsläufig nur Traditionen, Werte und Normen etc. infrage stellen kann, aber keine selbs schaffen bzw legitimieren kann.

Es kann nicht seine Aufgabe sein - wer sollte den Staat legitimieren fuer mich Werte zu setzen?

Was Traditionen angeht, ein kl. Einwurf: Die meisten Traditionen entpuppen sich bei naehren Hinsehen als nicht so traditionell. Was hier im UK als Tradition verkauft wird ist zum guten Teil eine Erfindung der victorianischen Epoche, das gilt insbesondere auch fuer Fragen der oeffentliche Moral.


Daher benötigt er auch ein funktionierendes Gemeinwesen als "Wirt", das er dann Stück für Sück für obsolet erklären kann.

Fragen wir doch mal welche Funktion dieses Gemeinwesen haben muss: Aufrechterhaltung der oeffentliche Ruhe und Ordnung, gewisse Mindestversorgung etc. Jeder hat an dieser Funktion ein unmittelbare Interesse. Diese Interesse ist der Kitt, der die Gesellschaft und den Staat zusammenhaelt.


Sobald aber die homogene kulurelle Grundlage entfallen ist, zerfällt auch der liberale Staat Stück für Stück, weil er keine Bemessungsgrundlage für die nun plurale Kulturordnung und ihre Streiteren hat.

Eben nicht - die homogene kulturelle Grundlage ist nicht noetig, noetig ist aber das Interesse am Funktionieren der Gesellschaft. Diese kann in einer pluralen Gesellschaft mit unterschiedlichsten Lebensentwuerfen nur funktionieren, wenn die Geschaeftsgrundlage klar vermittelt wird als gemeinsames Interesse. Deshalb gewinnt die formale Verfassung eines Landes ein ganz anderes Gewicht - das ist ein Abstraktionprozess. Ein "St. George and England" ist nicht mehr mehrheitfaehig, ein Aufruf, den Frieden in dieser Stadt zu aller Einwohner zu erhalten schon.


Dieser Prozess zeichnet sich erst durch Wiedereinführung sozial bindender Normen für einzelne soziale Gruppen aus, bsp. durch Autonomiezugeständnisse im Familienrecht für Sikhs oder Muslime. Hier wird deutlich: Der Liberalismus, der keine Normen schaffen kann, hat zuerst die alten "Sitten&Gebräuche" z.B. in GB aufgebrochen und das Feld für beliebig erklärt, nun fordern einzelne Gruppen das Normsetzungsrecht, was er ihnen aufgrund seiner Neuralität zugesteht.

Hier kann der liberale Staat auf seinen legitimen Vorgaenger zurueckgreifen: Den absolutistischen Staat, indem er, wie dieser direkt auf jeden Buerger zugreift. Es gibt Tendenzen, z. B. Gruppen Sonderrechte einzugestehen. Das ist aber mit dem liberalen Staat nicht zu vereinen.

Der liberale Staat darf bei der Anwendung der Gesetze nicht fragen, ob jemand Moslem oder Sikh oder sonstetwas ist, sondern muss diese direkt bei jedermann unmittelbar durchsetzen. Man kann z. B. ueber die Abschaffung der Ehe als staatliche sanktionierte Lebensverbindung reden, aber nicht ueber die Einfuehrung eines speziellen Eherechtes fuer eine religoese Gruppe, weil hier die Gleichheit aller Buerger wieder gefaehrdet ist.

Pandulf
29.04.2008, 21:14
Eben nicht - die homogene kulturelle Grundlage ist nicht noetig, noetig ist aber das Interesse am Funktionieren der Gesellschaft. Diese kann in einer pluralen Gesellschaft mit unterschiedlichsten Lebensentwuerfen nur funktionieren, wenn die Geschaeftsgrundlage klar vermittelt wird als gemeinsames Interesse. Deshalb gewinnt die formale Verfassung eines Landes ein ganz anderes Gewicht - das ist ein Abstraktionprozess. Ein "St. George and England" ist nicht mehr mehrheitfaehig, ein Aufruf, den Frieden in dieser Stadt zu aller Einwohner zu erhalten schon.



Wodurch unterscheidet ihr Liberalen euch denn mit eurem System von anderen Herrschaftssystemen? Ihr fordert, daß jeder machen kann, was er will, sofern er als Höchstes eure liberale Verfassung achtet. Die Kommunisten waren auch tolerant gegenüber vielen, sofern man als höchstes den Kommunismus anerkannt hat. Gleiches bei vielen anderen politischen Systemen. Und selbst Religionen funktionieren so. Sofern man den Glaubenkanon öffentlich akzeptiert, kann man sich so manche Freiheit leisten.

Rheinlaender
29.04.2008, 21:25
Wodurch unterscheidet ihr Liberalen euch denn von anderen Herrschaftssystemen? Ihr fordert, daß jeder machen kann, was er will, sofern er als Höchstes eure liberale Verfassung achtet. Die Kommunisten waren auch tolerant gegenüber vielen, sofern man als höchstes den Kommunismus anerkannt hat. Gleiches bei vielen anderen politischen Systemen. Und selbst Religionen funktionieren so. Sofern man den Glaubenkanon öffentlich akzeptiert, kann man sich so manche Freiheit leisten.

Da gibt es einen Unterschied: Jedes der von Dir beschriebenen Herrschaftssysteme verlangte unbedingte Gehorsam in allen Fragen und Einfuegung in eine bestimmte Ordnung. Das verlangt ein liberaler Staat nicht. Du kannst Deine Frreiheit ausueben, du kannst auch in eine Form Kloster eintretten und Dir Dein Leben bis ins Detail reglementieren lassen. Deine Entscheidung, du magst mit einer Person in Treue zusammenleben, oder einen taeglichen Ruddelbums haben - Deine Entscheidung.

Es gibt kein abstraktes Prinzip, dem Du folgen musst, ausser der Freiheit des anderen nicht gegen seinen Willen zu gefaehrden oder einzuschraenken. Adaptier einen Glaubenskanon, glaube, dass taegliches spinatinshaarschmieren Deine Seeligkeit erhoeht oder lasse es bleiben, Deine Entscheidung. Solange Du nicht versuchst diese Entscheidung der Gesellschaft oder anderen aufzuzwingen ist das Dein Bier.

Sauerländer
30.04.2008, 09:34
Daher benötigt er auch ein funktionierendes Gemeinwesen als "Wirt", das er dann Stück für Sück für obsolet erklären kann. Sobald aber die homogene kulurelle Grundlage entfallen ist, zerfällt auch der liberale Staat Stück für Stück, weil er keine Bemessungsgrundlage für die nun plurale Kulturordnung und ihre Streiteren hat.
Moeller van den Bruck zufolge schmarotzt jeder Liberalismus von einem Konservatismus, der vorher da war. Damit ist exakt dieses Phänomen getroffen.

Sauerländer
30.04.2008, 09:36
Sogesehen haben wir keinen liberalen Staat, weil er durch das Krebsgeschwür des Bürokratismus konterkariert wird.
Wir haben die größte Seuche, die es gibt: Ein liberales Systen, dass sich verbindet mit einer (häufig sehr linksgewirkten) Regelungs- und Verwaltungswut, und damit aus beiden Lagern zielsicher die schlimmsten Aspekte miteinander verbindet.

Sauerländer
30.04.2008, 09:53
Aus dieser Erfahrung heraus sagt man heute daher: Ein Kontrollmechanismus ist nowendig, und den stellt die demokratische Methode dar. Die "Ewigkeitsklausel" löst das nicht besonders elegant, meiner Ansicht nach auch nicht unbedingt wirksam, aber es ist ein symbolträchtiger Versuch.
Nur ist damit im Grunde ein innerer Widerspruch vollzogen. Mit der Garantie der Verfassung durch sich selbst wird letztlich in wesentlichen Fragen dem (theoretischen) demokratischen Souverän die Souveränität entzogen und auf diesen abstrakten Rechtsgewährleistungsgegenstand übertragen.
Womit eigentlich bereits das Prinzip der Volkssouveränität ausgehöhlt ist.
Andererseits beweist die Geschichte, dass die schrankenlose, die wirkliche
Demokratie keineswegs zum Wohle des Volkes sein muss, sondern im Gegenteil einen hysterischen Hühnerhaufen hinter jedem beliebigen Demagogen herrennen lässt. Wobei man auch das begreifen kann als Ergebnis des Verfalls, nicht als den Verfall selbst.
Der Wert der Demokratie, wo wir ihr einen positiven zuerkennen wollen, besteht darin, besser als andere Formen ein WIR stiften zu können. WIR wollen diese Ordnung, WIR wollen über UNSER Schicksal/UNSEREN Staat entscheiden, WIR nehmen an ihm Anteil, WIR wollen Weichen für die Zukunft stellen.
In diesem Sinne kann durchaus bestritten werden, dass -hinsichtlich der politischen Mentalität- bei uns heute eine Demokratie vorliegt.

Klar ist damit dann auch, dass Demokratie nicht liberaler Parlamenarismus heißen muss. Die Demokratie sei die beste Staatsform, hieß es, nicht aber unbedingt die liberale parlamentarische Demokratie.
Grundsätzlich bewegt sich zwar auch deren System im Rahmen einer liberalen Ordnung, aber in wesentlichen Punkten exerzieren uns die Schweizer vor, wie Demokratie auch (und besser) organisiert werden kann.
Gleichzeitig würde ich Einspruch anmelden gegen die Festlegung der Demokratie als bester Staatsform. Aus der Antike ist uns das Modell der "Mischverfassung" übergeben, das man ihr zumindest entgegenhalten kann.
Ganz abgesehen vom unvermeidlichen Dávila, der uns belehrt, die Aristokratien seien die natürlichen, die Demokratien jedoch die Fehlgeburten der Geschichte.

Sauerländer
30.04.2008, 10:16
Fragen wir doch mal welche Funktion dieses Gemeinwesen haben muss: Aufrechterhaltung der oeffentliche Ruhe und Ordnung, gewisse Mindestversorgung etc. Jeder hat an dieser Funktion ein unmittelbare Interesse. Diese Interesse ist der Kitt, der die Gesellschaft und den Staat zusammenhaelt.
Zunächstmal ist die Funktion des Gemeinwesens mindestens innerweltlich nicht, irgendein abstraktes Gut zu garantieren, das schwerer wiegt als dieses Gemeinwesen selbst, sondern den Selbsterhalt des Gemeinwesens, der Gruppe derer, die etwas gemein haben, zu gewährleisten. DANN kommen zu garantierende Werte, die instrumentell diesem obersten Prinzip Untertan sind.

Verfährt man anders, landen wir schließlich bei Zuständen, wo eben kein Gemeinwesen mehr besteht, weil die Menschen nichts mehr miteinander gemein haben. Dann zerfällt die Gesellschaft in Subgemeinschaften, die nun eigentlicher Loyalitätsgegenstand werden, und die Überbaugesellschaft wird ein Kampfplatz.

Eben nicht - die homogene kulturelle Grundlage ist nicht noetig, noetig ist aber das Interesse am Funktionieren der Gesellschaft. Diese kann in einer pluralen Gesellschaft mit unterschiedlichsten Lebensentwuerfen nur funktionieren, wenn die Geschaeftsgrundlage klar vermittelt wird als gemeinsames Interesse. Deshalb gewinnt die formale Verfassung eines Landes ein ganz anderes Gewicht - das ist ein Abstraktionprozess. Ein "St. George and England" ist nicht mehr mehrheitfaehig, ein Aufruf, den Frieden in dieser Stadt zu aller Einwohner zu erhalten schon.
Wenn das mehrheitsfähig ist - wozu bedarf es dann der Kameraüberwachung allerorten, die bereits mehr als einen Zug von 1984 aufweist?
Kann es möglicherweise sein, dass fernab der strahlenden Hochhäuser und Großraumbüros in den Schatten, in den Straßen und Hinterhöfen etwas wächst, was der Wohlstandsbürger zwar zu ignorieren bemüht ist, von dem er aber unterschwellig doch ahnt, dass es da ist - nämlich der Bruch mit dieser Art Zivilisation, der WEIT über das hinausgeht, was man auf der Insel von jedem Fußballwochenende gewohnt ist?
Man unterstellt ein gemeinsames Interesse aller am Frieden als selbstverständlich.

Man wird sich noch wundern.

-SG-
30.04.2008, 19:59
Nur ist damit im Grunde ein innerer Widerspruch vollzogen. Mit der Garantie der Verfassung durch sich selbst wird letztlich in wesentlichen Fragen dem (theoretischen) demokratischen Souverän die Souveränität entzogen und auf diesen abstrakten Rechtsgewährleistungsgegenstand übertragen.
Womit eigentlich bereits das Prinzip der Volkssouveränität ausgehöhlt ist.
Andererseits beweist die Geschichte, dass die schrankenlose, die wirkliche
Demokratie keineswegs zum Wohle des Volkes sein muss, sondern im Gegenteil einen hysterischen Hühnerhaufen hinter jedem beliebigen Demagogen herrennen lässt. Wobei man auch das begreifen kann als Ergebnis des Verfalls, nicht als den Verfall selbst.
Der Wert der Demokratie, wo wir ihr einen positiven zuerkennen wollen, besteht darin, besser als andere Formen ein WIR stiften zu können. WIR wollen diese Ordnung, WIR wollen über UNSER Schicksal/UNSEREN Staat entscheiden, WIR nehmen an ihm Anteil, WIR wollen Weichen für die Zukunft stellen.
In diesem Sinne kann durchaus bestritten werden, dass -hinsichtlich der politischen Mentalität- bei uns heute eine Demokratie vorliegt.

Grundsätzlich bewegt sich zwar auch deren System im Rahmen einer liberalen Ordnung, aber in wesentlichen Punkten exerzieren uns die Schweizer vor, wie Demokratie auch (und besser) organisiert werden kann.
Gleichzeitig würde ich Einspruch anmelden gegen die Festlegung der Demokratie als bester Staatsform. Aus der Antike ist uns das Modell der "Mischverfassung" übergeben, das man ihr zumindest entgegenhalten kann.
Ganz abgesehen vom unvermeidlichen Dávila, der uns belehrt, die Aristokratien seien die natürlichen, die Demokratien jedoch die Fehlgeburten der Geschichte.

Ja, im Grunde ist es einfach eine mangelhafe Selbststilisierung, man sollte die Fantasierereien von der allen Staatsgewalt, die vom Volke ausginge, aus dem GG streichen und klarmachen, dass es sich nicht um eine Volkssouveränität handelt, denn Souveränität heißt der gängigen Definition zufolge unabgeleitete Macht und die Macht des Volkes ist begrenzt - meiner Ansicht nach aus gutem Grunde, aber dann sollte man es nicht Volkssouveränität nennen.

Das Gute wie Schlechte an Davila ist, dass er keine Erklärungen zu seinen Thesen bietet, daher sind die zwar eingängig, aber teilweise auch nicht nachvollziehbar wie in diesem Fall. Meiner Ansicht nach sollen sehr wohl die herrschen, die sich am verdientesten gemacht haben, aber wer das ist muss ja irgendjemand enscheiden, am besten also ich selbst per Wahl.

-jmw-
30.04.2008, 20:51
Das hier so'n interessanter Faden eröffnet wird, kurz bevor ich verschwinde, werd ich mir übrigens merken! X( ;)

-SG-
30.04.2008, 22:26
Fragen wir doch mal welche Funktion dieses Gemeinwesen haben muss: Aufrechterhaltung der oeffentliche Ruhe und Ordnung, gewisse Mindestversorgung etc. Jeder hat an dieser Funktion ein unmittelbare Interesse. Diese Interesse ist der Kitt, der die Gesellschaft und den Staat zusammenhaelt.



Eben nicht - die homogene kulturelle Grundlage ist nicht noetig, noetig ist aber das Interesse am Funktionieren der Gesellschaft. Diese kann in einer pluralen Gesellschaft mit unterschiedlichsten Lebensentwuerfen nur funktionieren, wenn die Geschaeftsgrundlage klar vermittelt wird als gemeinsames Interesse. Deshalb gewinnt die formale Verfassung eines Landes ein ganz anderes Gewicht - das ist ein Abstraktionprozess. Ein "St. George and England" ist nicht mehr mehrheitfaehig, ein Aufruf, den Frieden in dieser Stadt zu aller Einwohner zu erhalten schon.


Träumereien. Indem Du anderen unterstellst, was ihre "Interessen" seien, willst Du also die nur bei der Freiheit des Anderen Grenzen findende Freiheit demonstrieren? Aufrechterhaltung des Friedens, mit dieser Interessenunterstellung werden die meisten noch leben können, aber was darüber hinausgeht schon nicht mehr. Nehmen wir mal einige Politikfelder: Migration, Atomenergie, Umweltschutz. Politik, ich sage es noch mal, ist per definitionem IMMER kollektiv bindende Enscheidung, also das Gräuel eines Liberalen: Bevormundung, Einschränkung der ind. Freiheit usw. Bei diesen Poliikfeldern gibt es kein irgendwie aus dem Nichts hergeleitetes "gemeinsames Interesse", gleichwohl ist eine Entscheidung nötig, z.B. für oder gegen Atomenergie. Ein Liberaler kann jetzt hergehen und vorfantasieren, wie es dem aggregierten Interesse aller Individuen entspricht, auf Atomstrom zu verzichten, Flüsse zu renaturalisieren, die Feldhasenpopulation konstant zu halten oder 200.000 Einwanderer pro Jahr aufzunehmen, aber dass da nur Unsinn herauskommen würde versteht sich von selbst.

Stattdessen muss man einfach einsehen: Die "Freiheit des Individuums, alles zu tun, was nicht die Freiheit des Anderen berührt" gibt es nicht, hat es nie gegeben, wird es nie geben, ist eine Bauernvölkerillusion die in der Realiät nie existiert hat.

Bärwolf
01.05.2008, 16:44
Des Weiteren können Liberale wie gesagt Kollektivinteressen wie Umweltschutz nur über Aggregierung von Eigeninteressen erklären.

Was aber, wenn A den einheimischen Buntspecht retten will aber B nicht? A kann es nicht alleine und will Steuergelder verwenden, das greift aber in Bs "Rechte" ein, C dagegen findet, dass es keine Eigentumsrechte geben sollte und D findet, es solle weder Menschen noch Buntspechte geben.

Der Liberale verdrängt das Problem indem er denkt: Ach in der Realität ist man sich doch meistens einig.

Nö, nö. Es herrscht auch indirekt das Recht des Stärkeren. Der Liberale weiß das und einige Konservative auch. Die Methoden der Entschärfung zum extremen Egoismus sind da durchaus unterschiedlich.
Sog. Kollektivinteressen gibt es aber gar nicht (auch nicht beim Umweltschutz), allenfalls gleichlautende Interessen von Einzelnen. ;)
Meist ist es aber so, das die sog. Kollektivinteressen dem eigentlichen Interesse eines Einzelnem unterliegen, auch wenn der seine Günstlinge dann wohlwollend bedengt. Wird das vergessen bricht so ein Kollektiv ganz schnell auseinander :D
Es läuft heute etwas subtiler in Parteien, Verbänden, Institutionen, etc. - gutes Beispiel die sog. Lobbygruppen, die nochmals Spezialinteressen übergreifend (und eingreifend) formulieren. Die ehrlichste (aber halt kriminelle) Struktur diesbezüglich herrscht bei der Mafia.

Rheinlaender
01.05.2008, 16:52
Ja, im Grunde ist es einfach eine mangelhafe Selbststilisierung, man sollte die Fantasierereien von der allen Staatsgewalt, die vom Volke ausginge, aus dem GG streichen und klarmachen, dass es sich nicht um eine Volkssouveränität handelt, denn Souveränität heißt der gängigen Definition zufolge unabgeleitete Macht und die Macht des Volkes ist begrenzt - meiner Ansicht nach aus gutem Grunde, aber dann sollte man es nicht Volkssouveränität nennen.

Zu anderen spaeter mehr:

Souveraenitaet bedeutet staatsrechtlich nur die Quelle der staatlichen Gewalt. Hier ist der Souveraen der Monarch, vom Ihm leitet sich alle staatliche Gewalt, d. h. aber nicht, dass dieser diese noch unbegrenzt ausueben kann, sondern nur dass die demokratischen Institutionen aufgrund Deines Rechtes diese Gewalt ausueben. Er hat als Quelle aller Gewalt diese Gewalt unwiderruflich an diese Institutionen abgetretten.

-SG-
05.05.2008, 20:05
Zu anderen spaeter mehr:

Souveraenitaet bedeutet staatsrechtlich nur die Quelle der staatlichen Gewalt. Hier ist der Souveraen der Monarch, vom Ihm leitet sich alle staatliche Gewalt, d. h. aber nicht, dass dieser diese noch unbegrenzt ausueben kann, sondern nur dass die demokratischen Institutionen aufgrund Deines Rechtes diese Gewalt ausueben. Er hat als Quelle aller Gewalt diese Gewalt unwiderruflich an diese Institutionen abgetretten.
Ja das hatten wir ja schon. Das ist zwar eine recht unelegante Lösung aber in Ordnung. In Deutschland aber spricht man explizit von Volkssouveränität, was nur zwei Möglichkeiten zulässt:

a) Es gibt Volkssouveränität. Damit ist die "Ewigkeitsklausel" genauso sinnentleert wie der "Verfassungsschutz", denn wie will er vom Souverän gesetztes und in allen Punkten veränderbares Recht gegen eben diesen Souverän "schützen"? Analytisch unsinnig. Wenn das Volk "souverän" ist, dann kann alles gesetzte Recht vom Volk geändert werden, also gibt es keinen änderungsfesten Kern, der besonders durch BVerfG oder VS geschützt werden kann. Es gibt dann keine "wehrhafte Demokratie" und keine Möglichkeit, eine vom Souverän installierte andere Staatsform abzuwenden.

Oder b) Es gibt einen änderungsfesten Verfassungskern. Damit steht letzterer über dem Gesetzgeber. Dieser ist somit nicht souverän. Es gibt also keine Volkssouveränität, sondern eine Art. 1ff. u. 20 GG-Souveränität. Dann muss man das aber auch ausdrücklich so hinschreiben, denn "alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" ist dann Augenwischerei.
Das ist das Dilemma jeder Demokratie, aber man sollte wenigstens ehrlich sein.

Rheinlaender
05.05.2008, 20:30
Ja das hatten wir ja schon. Das ist zwar eine recht unelegante Lösung aber in Ordnung. In Deutschland aber spricht man explizit von Volkssouveränität, was nur zwei Möglichkeiten zulässt:

a) Es gibt Volkssouveränität. Damit ist die "Ewigkeitsklausel" genauso sinnentleert wie der "Verfassungsschutz", denn wie will er vom Souverän gesetztes und in allen Punkten veränderbares Recht gegen eben diesen Souverän "schützen"? Analytisch unsinnig. Wenn das Volk "souverän" ist, dann kann alles gesetzte Recht vom Volk geändert werden, also gibt es keinen änderungsfesten Kern, der besonders durch BVerfG oder VS geschützt werden kann. Es gibt dann keine "wehrhafte Demokratie" und keine Möglichkeit, eine vom Souverän installierte andere Staatsform abzuwenden.

Oder b) Es gibt einen änderungsfesten Verfassungskern. Damit steht letzterer über dem Gesetzgeber. Dieser ist somit nicht souverän. Es gibt also keine Volkssouveränität, sondern eine Art. 1ff. u. 20 GG-Souveränität. Dann muss man das aber auch ausdrücklich so hinschreiben, denn "alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" ist dann Augenwischerei.
Das ist das Dilemma jeder Demokratie, aber man sollte wenigstens ehrlich sein.

Das "Dilema" wurde schon im 19. Jahrhundert ausfuehrlich diskutiert und zwar in zwei Faellen: Der eine Fall war der der Hannoeversche Verfassungkonflikt, wo der Monarch, und damit der Souveraen, Koenig Ernst August von Hannover, 1837 die Verfassung aufhob. Das andere mal als 1884 in die Franz. Verfassung ein Satz eingefuehrt wurde "Die republikanische Staatsform darf nicht Gegenstand eines Änderungsvorschlages [der Verfassung] sein."

In einem Falle hat der Souveraen, der Monarch, seine Verfassungsentscheidung wiederrufen, im anderen Falle hat sich der Souveraen, das franz. Volk, vertreten durch seine Verfassungsorgane selber eine bestimmte Aenderung der Verfassung verboten.

Um zu verstehen, was hier passierte, muss die Theorie des Verfassungsgebens sehen. Die Verfassungsgebende Gewalt, die die "Pouvoir constituant" kann in zwei gestalten vom Souveraen ausgeuebt werden: In der Gestalt der "Pouvoir constituant originaire", der urspruenglichen Verfassungsgebung und der "Pouvoir constituant derive", der abgeleiteten Verfassungsgebenden Gewalt.

Die urspruengliche verfassungsgebende Gewalt kann ein Souveraen, sei es das Volk oder ein Monarch, nur einmal ausueben. Er kann diese Entscheidung nicht widerrufen (weshalb der Akt von Koenig Ernst August als illegal betrachtet wurde - siehe Goettinger Sieben).

Die abgeleitete Verfassungsgebende Gewalt leitet nach den Vorschriften die die urspruengliche Verfassungsgebende Gewalt festlegte ihre Gewalt ab, die Verfassung zu aendern, kann aber nicht aus den Schranken, die die urspruengliche Verfassungsgebende Gewalt ihr gesetzt hat ausbrechen, kann aber neue Schranke errichten (siehe Frankreich 1884).

Welche dieser Gewalten auch immer wirksam sind, es nur der Souveraen, im Falle Deutschlands das Volk, in der Lage einen solchen Akt der Selbstbeschraenkung durchzufuehren. Die Beschraenkung z. B. des Artikels 79 (3) GG bestaetigt deshalb die Souveraenitaet des Volkes, da nur der Souveraen in der Lage war eine solche Beschraenkung seiner Gewalt zu erlassen.

---

Der Begriff des "Souveraens" stammt zwar aus dem Barock und dem Absolutismus, man hat ihn jedoch im Zuge der Verfassungsdebatten in 19. Jahrhundert erheblich erweitern und modifizieren muessen.

-SG-
05.05.2008, 21:07
Wenn man der gängigen Definition nach Souveränität als "nicht abgeleitete Macht" ansieht dann ist das Volk in D. nicht souverän.
Abgesehen von der rein rhetorischen Spielerei der Aufteilung von pouvoir constiuant und pouvoir constiuant originaire, die nicht das Problem der Souveränität löst, war in D. a) das Volk nur durch die Vertretungen ursprüngliche verfassungsgebende Gewalt und b) das Volk ohnehin als pouvoir const. or. einer "Verfassung" vorgesehen, was bekanntlich nie eingelöst wurde.

Aber natürlich würde mich brennend interessieren was Du "zum anderen mehr" zu sagen hast.

Rheinlaender
05.05.2008, 21:38
Wenn man der gängigen Definition nach Souveränität als "nicht abgeleitete Macht" ansieht dann ist das Volk in D. nicht souverän.

Die Souveraenitaet des Volkes leitet sich nicht weiter ab, hier ist eben die Gemeinsamkeit mit der Souveraenitaet eines Monarchen, dessen Suveraenitaet sich auch nicht weiter ableitet (zumindest in der Theorie).


Abgesehen von der rein rhetorischen Spielerei der Aufteilung von pouvoir constiuant und pouvoir constiuant originaire, die nicht das Problem der Souveränität löst, war in D. a) das Volk nur durch die Vertretungen ursprüngliche verfassungsgebende Gewalt und b) das Volk ohnehin als pouvoir const. or. einer "Verfassung" vorgesehen, was bekanntlich nie eingelöst wurde.

Das ist eben "rein rhetorische Spielerei", sondern die Staatsrechtler mussten versuche zu verstehen, was eben seit 1789 passiert ist wie man dies in Begrifflichkeit der Souveraene, die noch aus dem Absolutismus stammt, giessen kann. Dies war nur moeglich durch "Splittung" des Souveraens beim Akt des Verfassungsgebens und die Frage, wie sich ein unumschraenkter Herrscher selber binden und warum er diese Bindung nicht mehr loesen kann.


Aber natürlich würde mich brennend interessieren was Du "zum anderen mehr" zu sagen hast.

Im Laufe des Abends.

Rheinlaender
05.05.2008, 23:39
Zunächstmal ist die Funktion des Gemeinwesens mindestens innerweltlich nicht, irgendein abstraktes Gut zu garantieren, das schwerer wiegt als dieses Gemeinwesen selbst, sondern den Selbsterhalt des Gemeinwesens, der Gruppe derer, die etwas gemein haben, zu gewährleisten. DANN kommen zu garantierende Werte, die instrumentell diesem obersten Prinzip Untertan sind.

Eine in gewisserweise unausgesprochne Grundlage einer liberalen Staatsordnung ist der halbwegs rational handelnde Buerger, der erkennt, dass die Ausrechterhaltung der oeffentlichen Ordnung in seinem ureigensten Interesse ist.


Dann zerfällt die Gesellschaft in Subgemeinschaften, die nun eigentlicher Loyalitätsgegenstand werden, und die Überbaugesellschaft wird ein Kampfplatz.

Eine der Praemissen ist eben das keine Subgesellschaft Herrschaft ausueben kann. Weder kann ein schwuler Lederclub die Gesellschaft dominieren und seine Moralvorstellungen durchsetzen, noch die Katholische Kirche. D. h. der Staat ist hier neutral und laesst Subculkturen gewaehren, solange sie sich an die Gesetze halten. Er muss auch jeden Uebergriff einer Subkultur abwehren.

Das Gebot der allgemeine Toleranz ist ein Kernelement einer liberalen Staats- und Gesellschaftsordnung.


Kann es möglicherweise sein, dass fernab der strahlenden Hochhäuser und Großraumbüros in den Schatten, in den Straßen und Hinterhöfen etwas wächst, was der Wohlstandsbürger zwar zu ignorieren bemüht ist, von dem er aber unterschwellig doch ahnt, dass es da ist - nämlich der Bruch mit dieser Art Zivilisation, der WEIT über das hinausgeht, was man auf der Insel von jedem Fußballwochenende gewohnt ist?

Das hatte man eher in den Slums in den Grossstaedten des 19. Jahrhunderts (nicht nur hier im UK, hier ist es nur besser dokumentiert).

Sauerländer
06.05.2008, 14:33
Eine in gewisserweise unausgesprochne Grundlage einer liberalen Staatsordnung ist der halbwegs rational handelnde Buerger, der erkennt, dass die Ausrechterhaltung der oeffentlichen Ordnung in seinem ureigensten Interesse ist.
Während der Konservative dem Menschen das grundsätzliche Gegebensein von Friedenswille bestreitet, unbedingten Friedenswillen auch als in sich nicht tragfähig ansieht und den Frieden dadurch gewährleisten möchte, dass die Bruchlinien in der Gesellschaft möglichst klein gehalten werden - was eben Antipluralismus bedingt, jedenfalls auf grundsätzlicher Lebensführungsebene.

Eine der Praemissen ist eben das keine Subgesellschaft Herrschaft ausueben kann. Weder kann ein schwuler Lederclub die Gesellschaft dominieren und seine Moralvorstellungen durchsetzen, noch die Katholische Kirche. D. h. der Staat ist hier neutral und laesst Subculkturen gewaehren, solange sie sich an die Gesetze halten. Er muss auch jeden Uebergriff einer Subkultur abwehren.
Das Gebot der allgemeine Toleranz ist ein Kernelement einer liberalen Staats- und Gesellschaftsordnung.
Ja, man geht vom Bestehen einer neutralen Obrigkeit aus, die sich selbst trägt, von einem Recht, das sich selbst zeugt und schützt, von einer Verbindlichkeit, die dadurch, dass sie sich auf niemanden festlegt, von allen anerkannt und getragen würde.
In Verkennung der Tatsache, dass man damit allseitig nur auf Desinteresse beruhende Duldung erlangt, da es nun niemanden mehr gibt, der existierendes Recht als das seine begreift.
Auf diesem Weg entsteht auch der radikale Formalismus, der dem Geist und Sinn eines Gesetzes völlig gleichgültig gegenübersteht.

Das hatte man eher in den Slums in den Grossstaedten des 19. Jahrhunderts (nicht nur hier im UK, hier ist es nur besser dokumentiert).
Neu ist das Phänomen ganz gewiss nicht.
Aber offenbar hat in der Zwischenzeit so mancher viel vergessen.