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Vollständige Version anzeigen : "Flucht ins Private" - gibt es ein richtiges Leben im falschen System?



Beverly
24.01.2008, 22:57
Des öfteren habe ich den Satz gelesen "Es gibt kein richtiges Leben im Falschen".

Dieser Satz besagt, dass man in einem als falsch, repressiv oder ungerecht angesehen System (sofern man nicht zu seinen Trägern oder Nutznießern gehört) kein normales, gar glückliches Leben führen kann. Auch bei Verzicht auf umstürzlerische Bestrebungen, wo man mit Sanktionen rechen muss, wird die eigene Lebensgestaltung an Umständen scheitern, die von außen kommen. Ein mehr oder weniger mieses Leben, vielleicht mit einem vorzeitigen Ende, ist auch ohne eigenes Verschulden vorprogrammiert.

Die Gegenthese lässt sich in Begriffen wie "Innere Emigration" in der Nazi-Zeit, "Nischengesellschaft DDR" oder "Flucht ins Private" in der BRD zusammenfassen.

Wenn man sich aus der Politik heraushält und keine allzugroßen Ambitionen hat, kann man mit etwas Glück auch unter mehr oder weniger katastrophalen politischen und gesellschaftlichen Umständen normal leben. Man ist dann schlimmstenfalls der Mitläufer, der an Feiertagen die Fahne heraus hängt, egal ob er daran glaubt oder nicht. Man vergeudet seine Zeit nicht mit Politik, sondern kümmert sich um Beruf und Familie.

Hier nun meine Frage: ist ein richtiges Leben im falschen System möglich?

Rheinlaender
24.01.2008, 23:16
Es gibt das einen Unterschied: Das DDR-System, wie wie jedes Totalitaere System griff in alle Lebensbeeiche ein. Selbst der Taubenzuechterverein musste doch regelmaessig die Vorteile des Sozialismus herausstellen oder die die neuste Friedenspetition der Parteileitung unterstuetzen.

Ein liberales System verlangt dies nicht, es ist ihm ziemlich egal, was Du tust und wie Du es tust, solange Du Dich an die Gesetze haelst.

Brutus
24.01.2008, 23:24
Des öfteren habe ich den Satz gelesen "Es gibt kein richtiges Leben im Falschen".

Der Satz ist von Theodor W. Adorno.



Hier nun meine Frage: ist ein richtiges Leben im falschen System möglich?

Das dürfte die falsche Frage sein. Richtig oder falsch kann eine Aussage oder Theorie sein. Ein Leben ist entweder glücklich oder unglücklich, erfolgreich-erfolglos, lang-kurz ... etc. pp.

Drehen wir die Sache um, und die Absurdität wird klar:
"Es gibt keine glückliche Wissenschaft in der unglücklichen."

Beide Sätze sind bei genauerer Betrachtung sinnlos.

klartext
24.01.2008, 23:24
Bürgerliche Freiheiten sind ein unverzichtbarer Bestandteil der persönlichen Lebensqualität. Ein zufriedenes Leben ohne sie kann es nicht geben, wenn man seine Existenz nicht nur als Konsumorgie begreift.
Auch ein goldener Käfig ist nur ein Käfig.

Beverly
24.01.2008, 23:42
Ich neige immer mehr zu der Meinung, dass es kein richtiges Leben im falschen System geben kann. Alle mir bekannten Versuche in dieser Richtung sind letztendlich gescheitert.

Deutschland zwischen 1933 und '45

Ich denke, dass da viele Menschen versucht haben, unter der Nazi-Herrschaft ein "nichtböses" Leben zu führen. Die allgegenwärtigen Nazi-Funze wollte man möglichst ignorieren, nahm sie nicht richtig ernst. Kleine dumme Braune halt, die sich wichtig machten.
Das ist aber an der vom System offen angestrebten totalen Vereinnahmung der Menschen gescheitert. Wer als Soldat eingezogen wurde, stand nur vor dem Entweder-Oder: entweder für das System kämpfen oder sich dem verweigern und damit gegen es kämpfen. Ein "ist mir egal" gab es da nicht.
Den Zivilisten dürfte die staatliche Durchdringung aller Lebensbereiche immer mehr Fluchtwege ins Private abgeschnitten haben. So richtig konnte das wohl nur deswegen nicht durchschlagen, weil das System nach 12 Jahren zusammenbrach.

Die DDR

Irgendwann war da auch gutwilligen Zeitgenossen klar, dass die Staatsideologie mehr mit gequirltem Mist als mit lebbarem, gar dem Kapitalismus überlegenen Sozialismus zu tun hatte. Wer in der SED resp. als Linker versuchte, da etwas zum Guten zu wenden, verschwendete bestenfalls seine Zeit. Schlimmstenfalls wurde er aus dem System gemobbt. Viele blieben kleine Lichter, wie der Gysi, der in der DDR nie so eine Karriere hätte machen können wie nach ihrem Zusammenbruch.
Da zogen sich viele in die Nische zurück. Das System mag die Flucht ins Private sogar gefördert haben, andererseits war da die allgegenwärtige Stasi. Deren IMs, der von ihr im Familien- und Freundeskreis geförderte gegenseitige Verrat stellen die Flucht ins Private in Frage. Was war denn noch "privat" und nicht vom System durchseucht, wenn selbst der Ehepartner für die Stasi spitzeln konnte?
Ehe sich die Flucht ins Private im Falle der DDR ebenso als Illusion entpuppen konnte wie bei den Nazis, brach auch dieses System zusammen.

Womit wir beim Thema sind: die Nazi-Herrschaft ertrugen oder trugen die meisten Deutschen scheinbar schaftsgeduldig. Kein Aufstand, sondern die totale Niederlage ließen das System zusammenbrechen. Wobei sich die Frage stellt, ob ohne den Einmarsch der Alliierten die Menschen ein System, dem man nicht ins Private entkommen kann, so satt gehabt hätten, dass sie es gestürzt hätten.
So wie sie es mit der DDR gemacht haben, die infolge eines Umsturzes zusammenbrach. Hitler glaubte sich noch bis Kriegsende der Loyalität der Deutschen sicher, nach dem 8. Mai 1945 mochten die Menschen ihren Kindern nicht einmal mehr den Vornamen "Adolf" geben. Honecker faselte noch kurz vor dem Mauerfall vom Lauf des Sozialismus ... sic transit gloria mundi :D

Die Islamische Republik Iran

Viele Iraner und Iranerinnen lehnten den Glaubensterror und die Wertediktatur der Mullahs ab. Vor allem nach dem Tod Chomeinis wollten Iraner, die Deutschland satt hatten, wieder in den Iran zurückkehren. "Ich werde mich anpassen", sagte einer. Doch das erwies sich als unmöglich, vor allem Frauen hielten es da nicht aus. Heute scheint der Iran eine ungute Mischung aus Verfallserscheinungen westlicher Gesellschaften und islamistischem Glaubensterror zu sein. Man kann dort ebenso drogensüchtig werden und sich trotz Verbotes ein Messer zulegen wie hierzulande. Zugleich kann man wegen unsittlichem Lebenswandel ausgepeitscht oder hingerichtet werden. Danke Chomeini, noch viel Spaß in der Hölle dafür, so ein System geschaffen zu haben. Zaghafte Reformbestrebungen unter Präsident Khatamit scheiterten.
Sich als einfacher Mensch vor diesem doppeltem Dreck ins Private zurück zu ziehen, stelle ich mir noch unmöglicher vor als unter Nazis oder Stalinisten.

Die BRD

In ihr wurde mit Bezug auf das Verhalten von Linken, die ihre politischen Ambitionen als gescheitert ansahen, der Begriff "Flucht ins Private" geprägt. War nicht die BRD eines der reichsten Länder der Welt und hatten nicht auch Linke, von denen viele intelligent und Akademiker waren - gute berufliche Chancen?
Doch da gab es in den 1970er Jahren den "Radikalenerlass", den ein Grüner als Antwort der SPD auf den "Marsch durch die Institutionen" der APO charakterisierte. Nix mit Flucht ins Private und beschaulichem Dasein im öffentlcihen Dienst, wenn die Gesinnung nicht passte. Dabei waren die 1970er Jahre trotz solcher Dinge am Arbeitsmarkt noch Utopia verglichen mit heute. Aus dem öffentlichen Dienst gemobbte Genossen konnten sich wenigstens noch überlegen, es in der Privatwirtschaft zu versuchen. Oder eine Wirtschaft aufzumachen - unbestätigten Gerüchten zufolge konnte man damals noch von Gastronomie leben :rolleyes:

Heute holt einen "das System" in der BRD immer wieder ein. Mit einem Eifer, der Stasi und Gestapo in nichts nachsteht, haben die neoliberalen Gehirnwäscher alle Lebensbereiche unterwandert. Die Privatisierung des Totalitären hat sich sogar als viel, viel effizienter erwiesen als seine Monopolisierung durch den Staat. Staatlicher Totalitarismus ist leicht zu identifizieren, selbst wenn seine Agenten mit einem im Ehebett liegen. So eine Erfahrung lässt alle Illusionen über das System zerplatzen, dass so tief sinkt. Der privatisierte Totalitarismus der Neoliberalen ist viel penetranter und auch viel schwerer zu beseitigen. Beim staatlichem Totalitarismus war '45 und '89 recht schnell ultimo: NSDAP verbieten, das Reich exteminieren resp. Stasi und SED auflösen. Der privatisierte Totalitarismus dagegen hat unzählige organisatorische Träger: Parteien, Verbände, Religionsgemeinschaften ... eigentlich alle. Was sie sind merkt man dafür um so schneller, wenn man mit ihnen zu tun hat: die gleichen neoliberalen Phrasen und postmodernen Diskurse, der gleiche Bürokratismus, die gleiche Dummheit und die gleichen Intrigen. Etatistische Regime sind so blöd, alles, was der Staat nicht kontrollieren kann, zu verbieten. Damit züchten sie nicht nur ihre Opposition, sondern haben trotz Geheimdienst keinen wirklich guten Zugriff auf deren Strukturen. Wer oppositionelle Strukturen zerschlägt, kann sie nicht unterwandern und bei der ersten schweren Krise ist es dann halt eine amorphe Masse, die auf die Barrikaden geht und sich ratzfatz neu organisiert. In der BRD ist alles erlaubt, damit alles unterwandert werden kann. Die Träger von Widerstand hat man so unter Kontrolle, anstatt sie in ein Dunkel zu treiben, wo sie gefährlich werden können. Die Kader der Organisationen werden ferner von ihrer Klientel getrennt, die dadurch gerade angesichts der Vielfalt scheinbar autonomer Organisationen völlig unorganisiert und hilflos ist.

Beverly
24.01.2008, 23:43
Es gibt das einen Unterschied: Das DDR-System, wie wie jedes Totalitaere System griff in alle Lebensbeeiche ein. Selbst der Taubenzuechterverein musste doch regelmaessig die Vorteile des Sozialismus herausstellen oder die die neuste Friedenspetition der Parteileitung unterstuetzen.

Ein liberales System verlangt dies nicht, es ist ihm ziemlich egal, was Du tust und wie Du es tust, solange Du Dich an die Gesetze haelst.

du bist ein Träumer, tut mir Leid - in liberalen Systemen werden die gesellschaftlichen Organisationen ebenso von den herrschenden Diskursen durchdrungen wie etwa im Fall der DDR

Brutus
24.01.2008, 23:54
du bist ein Träumer, tut mir Leid - in liberalen Systemen werden die gesellschaftlichen Organisationen ebenso von den herrschenden Diskursen durchdrungen wie etwa im Fall der DDR

Im Kasperletheater des liberalen Systems zappeln mehr Hampelmänner herum. Das ist alles.

Beverly
24.01.2008, 23:56
Bürgerliche Freiheiten sind ein unverzichtbarer Bestandteil der persönlichen Lebensqualität. Ein zufriedenes Leben ohne sie kann es nicht geben, wenn man seine Existenz nicht nur als Konsumorgie begreift.

Unfreiheit gepaart mit relativem Wohlstand mag es in der DDR gegeben haben. In Saudi-Arabien gibt es sie noch. Hier trifft die Unfreiheit durch staatlichen Zwang auch relativ wohlhabende Menschen - DDR-Bürger, die nicht frei reisen konnten, saudische Frauen, die sich ein Auto leisten könnten, es aber nicht fahren dürfen.

Doch in so genannten "liberalen" Systemen gibt es eine strenge Korrelation zwischen Unfreiheit und materiellem Besitz - je ärmer, desto unfreier. In unserer durchliberalisierten Welt würde es eigentlich schon reichen, jedem Menschen 10 000 Dollar in die Hand zu drücken, um die schlimmsten Formen von Unfreiheit resp. materieller Abhängigkeit zu eliminieren. Durch Investition und Konsum würde das die Weltwirtschaft flächendeckend ankurbeln und sich so refinanzieren. Aber das ist nicht gewollt - materielle Abhängigkeit ist die Knute, welche die "Sieger der Geschichte" über die Besiegten schwingen - so lange, bis die den Kommunismus wieder haben wollen :rolleyes:



Auch ein goldener Käfig ist nur ein Käfig.

Ich habe eine Geschichte geschrieben, wo die Protagonistin dem goldenen Käfig nur durch Selbstmord entkommen ist

Rheinlaender
24.01.2008, 23:57
du bist ein Träumer, tut mir Leid - in liberalen Systemen werden die gesellschaftlichen Organisationen ebenso von den herrschenden Diskursen durchdrungen wie etwa im Fall der DDR


Ach? Und wie? Wer sind die "gesellschaftlichen Organisationen"? Wenn Du einen Transvestiten Klub aufmachst, wo wird er vom "herrschenden Diskursen durchdrungen"?

Beverly
24.01.2008, 23:58
Im Kasperletheater des liberalen Systems zappeln mehr Hampelmänner herum. Das ist alles.

Wobei Rheinlaender einer der wenigen Intelligenten ist, die da verblieben sind.

Komisch.

Es hat mal Zeiten gegeben, wo sehr viele intelligente Menschen in der westlichen Welt als "liberal" definiert wurden. Was ist aus denen geworden?

Beverly
25.01.2008, 00:01
Ach? Und wie? Wer sind die "gesellschaftlichen Organisationen"? Wenn Du einen Transvestiten Klub aufmachst, wo wird er vom "herrschenden Diskursen durchdrungen"?

Es gibt mehr Möglichkeiten, unliebsame Projekte ins Leere laufen zu lassen, als sie einfach zu verbieten (um sie vielleicht nur in einen unkontrollierbaren Untergrund ab zu drängen).

So würde ich in Berlin schon deshalb keinen sich selbst tragenden Klub aufmachen wollen, weil es dafür keine zahlungskräftige Nachfrage gibt. Was natürlich nur an mir als unfähiger Gastronomin liebt und überhaupt nichts damit zu tun hat, dass seit Jahr und Tag die Binnenwirtschaft und die Kaufkraft der einfachen Menschen ruiniert werden.