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Vollständige Version anzeigen : Öffentlichkeit, öffentliches Interesse



-SG-
07.12.2007, 14:33
Was kann Öffentlichkeit oder öffentliches Interesse in einer pluralistischen, individualistischen Gesellschaft darstellen? Gibt es ein öffentliches Interesse? Wenn ja, worauf beruht es, aus der Summe von 82 Millionen Partikularinteressen?

Meine Überlegung wäre, dass Öffentlichkeit ein Minimum an Wertekonsens bzw. gemeinsamer Identität benötigt. Politische, also gesamtgesellschaftlich verbindliche Entscheidungen, Rechtsauslegungen, benötigen wiederum diese öffentliche Meinung zur Legitimierung.

Wer entscheidet, ob eine Statue saniert wird, wie sich eine Lehrerin anzuziehen hat, was auf dem Lehrplan von Schulen steht, bis wann Abtreibung straffrei ist, welche Sprache in Kindergärten gesprochen wird, welche Wochentage arbeitsfrei sind? Meine These wäre, dass es eine öffentliche Meinung, welche Entscheidungen zu solchen Fragen legitimiert, NOCH in ausreichender Größe gibt, diese aber a) im Verschwinden begriffen ist, da sie im Kern durch die noch wenig pluralisierte Generation der 45-65jährigen getragen wird, welche aber zeitnah abgelöst werden wird, und b) durch die fehlerhafte Selbstwahrnehmung der Gesellschaft, die einen solche Grundkonsens nicht wahrhaben will bzw für obsolet erklärt, auch keine Maßnahmen zur Erhaltung dieser Öffentlichkeit eingeleitet werden.

Wie seht ihr das Problem? Kann ein freier Markt, wenn er erst einmal auch vollständig auf Werte, Identitäten, Kulturen, Erziehung, Stadtplanung, Architektur usw. ausgedehnt ist, eine einen Grundkonsens beinhaltende Öffentlichkeit ablösen? Haben dann Begriffe und Konstrukte wie Repräsentation, Legitimität, Verfassung noch einen Sinn?

-SG-
10.12.2007, 14:36
hier ist doch das Politische Theorien-Forum, hat keiner Meinung/Ahnung dazu?;)

Skald
10.12.2007, 17:51
Was wir brauchen ist die Wiederkehr des Primat des Politischen und eine partizipatorische Demokratie, in der es möglich ist, daß der einfache Volkszugehörige mitwirken kann. Die Wirtschaft ist Mittel zur Sicherstellung des Lebens und des Wohlstandes eines Volkes, nicht mehr und nicht weniger. Dabei gehört der Markt den Bedürfnissen angepasst, reguliert und reglementiert, wirtschaftsdemokratisch durch Arbeiter und Konsumenten versteht sich.

SteveFrontera
13.12.2007, 14:32
Die politischen Parteien sorgen für Diskussion, so bildet sich ein Konsens heraus.

-SG-
14.12.2007, 12:03
Was wir brauchen ist die Wiederkehr des Primat des Politischen und eine partizipatorische Demokratie, in der es möglich ist, daß der einfache Volkszugehörige mitwirken kann. Die Wirtschaft ist Mittel zur Sicherstellung des Lebens und des Wohlstandes eines Volkes, nicht mehr und nicht weniger. Dabei gehört der Markt den Bedürfnissen angepasst, reguliert und reglementiert, wirtschaftsdemokratisch durch Arbeiter und Konsumenten versteht sich.

gut, aber das Primat des Politischen ist nur auf Basis eines gesellschaftlichen Konsens herstellbar, worin auch immer dieser besteht. Die Wirtschaft hat es da einfacher: Gibt es X Interessen, dann gibt es auch X Güter, um diese Interessen zu befriedigen.

Aber in der Politik denkt man zwar noch:

Die politischen Parteien sorgen für Diskussion, so bildet sich ein Konsens heraus.

Aber die liberalistisch-individualistische Doktrin besagt, dass es in einem Staat mit 82 Millionen Menschen 82 Millionen Interessen gibt, folglich ist ein Begriff wie "Repräsentation" sinnlos, denn zwischen 600 Abgeordneten und 82 Millionen Interessen fehlen 5 Zehnerpotenzen, und zwischen 5 Parteien und 82 Mio noch mehr.

In grundlegenden Fragen genügen ohnehin schon 2 gegensätzliche, komplementäre Meinungen, um einen Konsens durch Diskussion unmöglich zu machen. Worauf einigt man sich im Kopftuchstreit, wenn die einen sagen: Kein Kopftuch für Lehrerinnen, und die anderen sagen: Doch? Auf 1/2 Kopftuch, ein bisschen Kopftuch, manchmal Kopftuch? Nein, ohne eine gewisse Wertehomogenität geht es nicht, und zur Not muss diese Homogenität dadurch erreicht werden, dass man Abweichungen nicht zulässt.

leuchtender Phönix
16.12.2007, 20:42
Aber die liberalistisch-individualistische Doktrin besagt, dass es in einem Staat mit 82 Millionen Menschen 82 Millionen Interessen gibt, folglich ist ein Begriff wie "Repräsentation" sinnlos, denn zwischen 600 Abgeordneten und 82 Millionen Interessen fehlen 5 Zehnerpotenzen, und zwischen 5 Parteien und 82 Mio noch mehr.

Aber diese 82 Millionen Interessen sind ja nicht alle ganz verschieden. Viele ähneln sich. Personen mit ähnlichen Interessen finden sich dann in den Parteien zusammen. Parteien die viel zu wenige auf ihrer Seite haben verschwinden in der Bedeutungslosigkeit.


In grundlegenden Fragen genügen ohnehin schon 2 gegensätzliche, komplementäre Meinungen, um einen Konsens durch Diskussion unmöglich zu machen. Worauf einigt man sich im Kopftuchstreit, wenn die einen sagen: Kein Kopftuch für Lehrerinnen, und die anderen sagen: Doch? Auf 1/2 Kopftuch, ein bisschen Kopftuch, manchmal Kopftuch? Nein, ohne eine gewisse Wertehomogenität geht es nicht, und zur Not muss diese Homogenität dadurch erreicht werden, dass man Abweichungen nicht zulässt.

Bei solchen Ja-Nein-Fragestellungen ist ein Konsens kaum, oder nicht möglich. Aber viele Frasgen sind komplexer und bieten mehr Antwortmöglichkeiten.

-SG-
17.12.2007, 14:50
Aber diese 82 Millionen Interessen sind ja nicht alle ganz verschieden. Viele ähneln sich. Personen mit ähnlichen Interessen finden sich dann in den Parteien zusammen. Parteien die viel zu wenige auf ihrer Seite haben verschwinden in der Bedeutungslosigkeit.



Bei solchen Ja-Nein-Fragestellungen ist ein Konsens kaum, oder nicht möglich. Aber viele Frasgen sind komplexer und bieten mehr Antwortmöglichkeiten.

Politik heißt Entscheidungen treffen, die allgemeinverbindlich sind, im Bereich des Rechtes ist diese Verbindlichkeit am höchsten, bei Konventionen, Traditionen usw. geringer. Aber bei der Rechtssprechung etwa gibt es nur Recht oder Unrecht und nicht "ein bisschen Recht" oder einen komplexen Konsens. Rechtssprechung setzt Werte voraus, an denen sie sich orientieren kann.

Eine allzu plurale Gesellschaft kann damit nicht zurecht kommen weil ihnen der Wertekonsens dafür fehlt. Eine allzu plurale Gesellschaft hat auch keinen Identifikationsbezugspunkt, hier ist fraglich ob das Konzept der repräsentativen Demokratie dieser Pluralität Rechnung tragen kann. Da reicht es nicht, dass eine Verfassung da ist, gegenüber der man einen "Verfassungspatriotismus" entwickeln könnte, weil Normen kollidieren können oder interpretiert werden müssen, siehe im ersten Beitrag genannte Beispiele.

Die Parteien werden auch zunehmend unsinniger. Parteien setzen voraus, dass es einen Grundkonsens, und nur z.B. durch die Spaltung in Arbeitnehmer und Selbstständige ein Interessenkonflikt zustande kommt, der dann politisch wird und 2 Parteien bildet (SPD, CDU). Durch andere Konflikte (z.B. Umwelt) entstehen dann andere Parteien (Grüne). Mittlerweile aber redet man schon innerhalb einer Partei vom "linken" und "rechten Flügel", von den Wirtschaftsliberalen oder den Einwanderungsbefürwortern usw. innerhalb einer Partei, was soll das ganze dann noch. Die Parteien haben eingesehen dass wir zu plural sind, um etwas wie einer Partei eine Daseinsberechtigung zu geben, also drängen sie zum Volksparteienstatus, was auch ein unsinniges Wort gibt, weil es auch etwas wie ein Volk nicht geben kann ohne Grundkonsens bzw Differenz gegenüber anderen, das aber will man auf keinen Fall aussprechen.