Siran
03.06.2003, 17:36
Eine Lehrerin mit Kopftuch oder die Frage des wahren Islams
Von Reinhard Müller, Karlsruhe
03. Juni 2003 "Wieviel fremde Religiosität verträgt unsere Gesellschaft?" fragte der Vorsitzende des Zweiten Senats, Hassemer, zu Beginn der mündlichen Verhandlung. Womöglich ist das tatsächlich die Kernfrage im Kopftuch-Streit - und nicht das Zusammenspiel von Religionsfreiheit, Zugang zum öffentlichen Dienst, Erziehungsauftrag und staatlicher Neutralität. Deshalb hatte das Bundesverfassungsgericht am Dienstag eine Menge Fragen an Sachverständige: Wie nehmen Schulkinder eine Lehrerin mit Kopftuch wahr? Warum trägt eine junge Muslimin diese Kopfbedeckung? Was ist "der wahre Islam"?
Die Antworten der Wissenschaftler waren nur begrenzt ergiebig, nicht zuletzt weil eine breite Forschungsgrundlage fehlt. Doch läßt sich offenbar sagen, daß Kinder im Grundschulalter wohl keinen Schaden nehmen, wenn sie von einer Lehrerin wie Fereshta Ludin unterrichtet werden. Sie war mit ihren Eltern aus Afghanistan über Saudi-Arabien nach Deutschland eingewandert und hat mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit. Nachdem sie die Lehramtsprüfung für Deutsch und Englisch erfolgreich abgelegt hatte, bewarb sie sich für den baden-württembergischen Schuldienst. Das Land lehnte das ab, da Frau Ludin darauf bestand, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. An ihrer sonstigen Eignung bestand kein Zweifel. Es gab offenbar auch keine Beschwerden von Kindern oder Eltern. Gleichwohl unterlag sie in allen Instanzen.
Sie schämt sich ohne Kopftuch
In Karlsruhe beklagte Frau Ludin (mit hellblauem Kopftuch), es sei vom Oberschulamt fortwährend unterstellt worden, das Kopftuch sei ein Symbol für die Unterdrückung der Frau. Doch habe sie mit ihrer Familie auch deshalb Saudi-Arabien verlassen, weil sie mit der dortigen Diskriminierung der Frauen nicht einverstanden gewesen sei. Sie betrachte sich als Deutsche, werde jedoch in Deutschland vorwiegend nach ihrer Herkunft beurteilt. Ihre Haare wolle sie nicht zeigen, weil sie sich sonst schäme, wie ihr Anwalt sagte. Das wiederum leitet sie aus islamischen Grundsätzen ab.
Aber kommt es überhaupt auf ihre innere Einstellung an? Trägt nicht vielmehr in diesem Fall der Staat das Kopftuch, wie es der Verfassungsrechtler Ferdinand Kirchhof als Vertreter Baden-Württembergs zuspitzte? Tatsächlich hat auch das Oberschulamt nie behauptet, Frau Ludin mißachte etwa die freiheitliche demokratische Grundordnung. Es geht um die Außenwirkung auf die Schüler einer staatlichen Schule, die zum Besuch dieser Einrichtung verpflichtet sind.
Der Staat soll neutral bleiben
Kirchhof relativierte Hassemers Eingangsfrage: Es sei unerheblich, ob es sich um eine "eigene" oder eine "fremde" Religion handele. Tatsächlich gibt es verfassungsrechtliche das Gebot der Neutralität des Staates in religiösen Fragen, auch wenn es keine strikte Trennung von Staat und Religion gibt. Immerhin hatte das Verfassungsgericht früher entscheiden, daß Kruzifixe in Klassenzimmern gegen die Religionsfreiheit der Schüler verstoßen können. Das muß nach Ansicht des Landes erst recht für eine Lehrerin mit religiöser Kopfbedeckung gelten, die schließlich aktiv auf die Kinder einwirke.
Dem Argument der Beschwerdeführerin, Kopftücher bei Frauen gehörten heute zum Erscheinungsbild auf Straßen und in Klassenzimmern, entgegnete Kichhof, je offener die Gesellschaft sei, desto strikter müsse die Neutralität des Staates beachtet werden. Die Religionsfreiheit Frau Ludins werde im öffentlichen Raum nicht angetastet, ja sie könne sogar an Privatschulen unterrichten. An einer staatlichen Schule jedoch sei sie ein Amtswalter. Und dieses Amt sei nicht zur Selbstverwirklichung da. Frau Ludin bediene sich der Schule, um ihre Religionsfreiheit durchzusetzen; und verletze dadurch die Religionsfreiheit ihrer Schüler.
Ist ein Kopftuch wie ein Piercing?
Ob das so ist, darüber kann man jedenfalls solange zweifeln, als die Trägerin des Kopftuchs nicht den Kindern ihre religiösen Ansichten aufzwingt. Freilich legten die Sachverständigen glaubhaft dar, daß hier auch die Haltung der Eltern zu berücksichtigen ist, die Fragen stellen, Zweifel äußern und dadurch die Kinder verwirren würden. Deshalb geht es wohl doch um eine Frage "fremder" Religiosität. Das Land bestätigte das indirekt. Ja, es gebe noch eine Schule "in Abwicklung", an der katholische Ordensleute in entsprechender Kleidung unterrichteten. Das bereite aber dort "überhaupt keine Schwierigkeiten", sagte Kirchhof. Von Schwierigkeiten war aber auch im Fall Ludin nicht berichtet worden.
Fördert es nicht geradezu den Erziehungsauftrag des Staates, wenn eine Lehrerin, die der drittgrößten Glaubensgemeinschaft in Deutschland angehört, sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit "einbringe", wie Ludins Anwalt sagte? Die Richter des Zweiten Senats haben nun nach eigener Anschauung zu entscheiden, ob das Kopftuch einer Lehrerin wie ein beliebiges anderes Kleidungsstück oder ein Piercing wirkt oder ob der Staat dadurch seine Neutralitätspflicht verletzt.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.06.2003
Von Reinhard Müller, Karlsruhe
03. Juni 2003 "Wieviel fremde Religiosität verträgt unsere Gesellschaft?" fragte der Vorsitzende des Zweiten Senats, Hassemer, zu Beginn der mündlichen Verhandlung. Womöglich ist das tatsächlich die Kernfrage im Kopftuch-Streit - und nicht das Zusammenspiel von Religionsfreiheit, Zugang zum öffentlichen Dienst, Erziehungsauftrag und staatlicher Neutralität. Deshalb hatte das Bundesverfassungsgericht am Dienstag eine Menge Fragen an Sachverständige: Wie nehmen Schulkinder eine Lehrerin mit Kopftuch wahr? Warum trägt eine junge Muslimin diese Kopfbedeckung? Was ist "der wahre Islam"?
Die Antworten der Wissenschaftler waren nur begrenzt ergiebig, nicht zuletzt weil eine breite Forschungsgrundlage fehlt. Doch läßt sich offenbar sagen, daß Kinder im Grundschulalter wohl keinen Schaden nehmen, wenn sie von einer Lehrerin wie Fereshta Ludin unterrichtet werden. Sie war mit ihren Eltern aus Afghanistan über Saudi-Arabien nach Deutschland eingewandert und hat mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit. Nachdem sie die Lehramtsprüfung für Deutsch und Englisch erfolgreich abgelegt hatte, bewarb sie sich für den baden-württembergischen Schuldienst. Das Land lehnte das ab, da Frau Ludin darauf bestand, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. An ihrer sonstigen Eignung bestand kein Zweifel. Es gab offenbar auch keine Beschwerden von Kindern oder Eltern. Gleichwohl unterlag sie in allen Instanzen.
Sie schämt sich ohne Kopftuch
In Karlsruhe beklagte Frau Ludin (mit hellblauem Kopftuch), es sei vom Oberschulamt fortwährend unterstellt worden, das Kopftuch sei ein Symbol für die Unterdrückung der Frau. Doch habe sie mit ihrer Familie auch deshalb Saudi-Arabien verlassen, weil sie mit der dortigen Diskriminierung der Frauen nicht einverstanden gewesen sei. Sie betrachte sich als Deutsche, werde jedoch in Deutschland vorwiegend nach ihrer Herkunft beurteilt. Ihre Haare wolle sie nicht zeigen, weil sie sich sonst schäme, wie ihr Anwalt sagte. Das wiederum leitet sie aus islamischen Grundsätzen ab.
Aber kommt es überhaupt auf ihre innere Einstellung an? Trägt nicht vielmehr in diesem Fall der Staat das Kopftuch, wie es der Verfassungsrechtler Ferdinand Kirchhof als Vertreter Baden-Württembergs zuspitzte? Tatsächlich hat auch das Oberschulamt nie behauptet, Frau Ludin mißachte etwa die freiheitliche demokratische Grundordnung. Es geht um die Außenwirkung auf die Schüler einer staatlichen Schule, die zum Besuch dieser Einrichtung verpflichtet sind.
Der Staat soll neutral bleiben
Kirchhof relativierte Hassemers Eingangsfrage: Es sei unerheblich, ob es sich um eine "eigene" oder eine "fremde" Religion handele. Tatsächlich gibt es verfassungsrechtliche das Gebot der Neutralität des Staates in religiösen Fragen, auch wenn es keine strikte Trennung von Staat und Religion gibt. Immerhin hatte das Verfassungsgericht früher entscheiden, daß Kruzifixe in Klassenzimmern gegen die Religionsfreiheit der Schüler verstoßen können. Das muß nach Ansicht des Landes erst recht für eine Lehrerin mit religiöser Kopfbedeckung gelten, die schließlich aktiv auf die Kinder einwirke.
Dem Argument der Beschwerdeführerin, Kopftücher bei Frauen gehörten heute zum Erscheinungsbild auf Straßen und in Klassenzimmern, entgegnete Kichhof, je offener die Gesellschaft sei, desto strikter müsse die Neutralität des Staates beachtet werden. Die Religionsfreiheit Frau Ludins werde im öffentlichen Raum nicht angetastet, ja sie könne sogar an Privatschulen unterrichten. An einer staatlichen Schule jedoch sei sie ein Amtswalter. Und dieses Amt sei nicht zur Selbstverwirklichung da. Frau Ludin bediene sich der Schule, um ihre Religionsfreiheit durchzusetzen; und verletze dadurch die Religionsfreiheit ihrer Schüler.
Ist ein Kopftuch wie ein Piercing?
Ob das so ist, darüber kann man jedenfalls solange zweifeln, als die Trägerin des Kopftuchs nicht den Kindern ihre religiösen Ansichten aufzwingt. Freilich legten die Sachverständigen glaubhaft dar, daß hier auch die Haltung der Eltern zu berücksichtigen ist, die Fragen stellen, Zweifel äußern und dadurch die Kinder verwirren würden. Deshalb geht es wohl doch um eine Frage "fremder" Religiosität. Das Land bestätigte das indirekt. Ja, es gebe noch eine Schule "in Abwicklung", an der katholische Ordensleute in entsprechender Kleidung unterrichteten. Das bereite aber dort "überhaupt keine Schwierigkeiten", sagte Kirchhof. Von Schwierigkeiten war aber auch im Fall Ludin nicht berichtet worden.
Fördert es nicht geradezu den Erziehungsauftrag des Staates, wenn eine Lehrerin, die der drittgrößten Glaubensgemeinschaft in Deutschland angehört, sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit "einbringe", wie Ludins Anwalt sagte? Die Richter des Zweiten Senats haben nun nach eigener Anschauung zu entscheiden, ob das Kopftuch einer Lehrerin wie ein beliebiges anderes Kleidungsstück oder ein Piercing wirkt oder ob der Staat dadurch seine Neutralitätspflicht verletzt.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.06.2003