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Vollständige Version anzeigen : Aufklärung, Neuzeit und Moderne: Fluch, Segen oder beides?



Beverly
02.09.2007, 22:01
"Aufklärung ist der Weg aus selbst verschuldeter Unmündigkeit" - lautet das berühmte Zitat von Kant.

Man kann das ganze, je nach Standpunkt großartige oder monströse Projekt in drei Abschnitte unterteilen:

1. Spätes Mittelalter und frühe Neuzeit

Der Buchdruck wird auch in Europa erfunden, die koprnikanische Wende in der Kosmologie, das "Zeitalter der Entdeckungen", aber auch Schwarzpulver und Feuerwaffen, so 15. bis 17. Jahrhundert. Die Gesellschaft mag oft noch "feudalistisch" sein, so nicht schon Manufakturwesen besteht. Doch Dinge wie Fernrohr oder Reisen über Ozeane und um die Welt zeigen, dass es nicht mehr das gleiche System wie im Mittelalter ist.

2. Die eigentliche Aufklärung

Philosophen wie Voltaire oder eben Kant lösen sich geistig endgültig von den tradierten Autoritäten, Ethik wird z. B. bei Kant auf eine rationale Grundlage gestellt; so um das 18. Jahrhundert. Im Schoße einer noch vom Adel bestimmten Gesellschaft wachsen die Kräfte heran, die den Adel stürzen werden.

3. Die Moderne

Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts. Massenproduktion, das Zeitalter der Maschinen beginnt. Mit der Dampfmaschine gehören Zivilisationen, die noch auf Muskelkraft angewiesen waren, endgültig der Vergangenheit an. Wissenschaft und Technik erreichen nie gekannte Höhen. Der Adel verliert seine Macht, Bürgertum und Arbeiter drängen nach vorn.

Die Befürworter der Aufklärung sehen ihr Projekt als epochalen Meilenstein in der Menschheitsgeschichte: die Menschen lösen sich aus tradierten, oft irrationalen Abhängigkeiten, um einander endlich frei und ungebunden gegenüber zu stehen. Wissenschaft und kritische Reflexion treten an die Stelle der von religiösen und anderen Autoritäten verordneten Wahrheiten. Materieller Fortschritt ermöglicht den Menschen ein besseres und längeres Leben und macht sie auch klüger und gebildeter als ihre Vorfahren.

Doch immer wieder gibt es auch Wellen der Kritik an der Aufklärung, ja der Verdammung des ganzen Projektes. Religiös-konservativ ist die Aufklärung die mit Zähnen und Klauen zu bekämpfende Abkehr vom rechten Wege, aus einer selbst eher rationalen Perspektive werden Aufklätung und Moderne die Schaffung eines für frühere Epochen unvorstellbaren Zerstörungspotenzials vorgeworfen. "So ein Chaos wie wir hat keine Epoche vor uns geschaffen", sagte jemand schon vor etlichen Jahren zu mir.

Die Frage ist allerdings, ob es sich Befürworter und Gegner der Aufklärung nicht zu einfach machen. Es gibt auch die "Dialektik der Aufklärung" und mehr Sichtweisen als nur ja und nein. Etwa so:

1. Die Aufklärung hat mehr Schaden als Nutzen angerichtet, ohne sie wären die meisten Menschen besser dran
2. In Aufklärung und Moderne wurden künstlich Bedürfnisse geschaffen, ohne die die Menschen auch und sogar besser zurecht gekommen sind. Wer war glücklicher: Robinson, der auf der Jagd nach Profit Schiffbruch erlitt oder der "Wilde" Freitag?
3. Die Auflärung war unvermeidlich, aber in ihr ist viel Unheil geschehen, vielleicht mehr als in jeder anderen Epoche der Menschheitsgeschichte
4. Die Aufklärung war im Großen und Ganzen richtig
5. Das Projekt der Aufklärung ist noch lange nicht vollendet
6. Die Aufklärung gerät immer wieder in schwere Krisen und stekct gerade in einer
7. Wer die Aufklärung beenden will, sorgt nur dafür, dass Millionen Menschen umsonst gestorben sind, ohne am angerichteten Schaden etwas gut machen zu können
8. Die Moderne hat noch gar nicht begonnen, wir stecken tiefer in der Barbarei, als wir wahr haben wollen

Diese Aussagen scheinen mir zu komplex und zu sehr miteinander verwoben, um sie zum Thema einer Klickumfrage zu machen, deshalb lasse ich sie so stehen.

Klopperhorst
02.09.2007, 22:06
Aufklärung ist die Rückschau auf sich selbst, das Selbstbewusstsein einer Kultur, die zum Erwachen kommt. Doch muss es auch zur Synthese kommen. Was kam nach der Aufklärung? Der Nihilismus und der Materialismus als Ersatz für den verlorenen Gott, grenzenlose Welteroberung und Weltzerstörung, Auflüchte in extraterrestrische Welten, ansatt in jenseitige.

Aufklärung zwar der Sieg des Mammons über die Kultur.


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Beverly
02.09.2007, 23:05
Aufklärung ist die Rückschau auf sich selbst, das Selbstbewusstsein einer Kultur, die zum Erwachen kommt.

Demnach war die Aufklärung aus historischer Sicht so etwas wie die Selbstfindung Europas. Vor der Aufklärung war Europa z. B. nur zu oft Gastgeber für Invasionen gewesen:

Von 711 bis 1492 die Araber in Spanien, zeitweise auch in Frankreich und Süditalien.
Im 13. Jahrhundert drangen die Mongolen bis nach Mitteleuropa vor, in Russland blieben sie mehrere Jahrhunderte.
Vom 14. bis 18. Jahrhundert drangen die Osmanen in den Balkan und bis Mitteleuropa vor.
Piraten resp. Kriegsflotten moslemischer Staaten beherrschten das Mittelmeer und drangen bis Island vor.

So es im Hochmittelalter wirklich eine halbwegs intakte Welt gegeben hat, war sie IMHO vielleicht schon durch die "Kleine Eiszeit" vorbei. Europa musste sich etwas Neues einfallen lassen, sonst wäre es bestenfalls nur bergab gegangen, schlimmstenfalls hätten sich Osmanen und Araber den Kontinent aufgeteilt. Da kam die Aufklärung gerade recht, um den Spieß umzudrehen.


Doch muss es auch zur Synthese kommen.

Was meinst du damit.


Was kam nach der Aufklärung? Der Nihilismus und der Materialismus als Ersatz für den verlorenen Gott, grenzenlose Welteroberung und Weltzerstörung, Auflüchte in extraterrestrische Welten, ansatt in jenseitige.

Ich glaube, dass "der Gott" schon vor der Aufklärung verloren war. Irgendwann hatten die Menschen vielleicht den Straf- und Rachegott der Monotheisten über und beschlossen, ohne ihn zu leben. Den mechanistischen Materialismus hat die Moderne meines Erachtens überwunden. "Welteroberung und Weltzerstörung" gingen schon bei Dschinghis Khan Hand in Hand.
Was die extraterrestrischen Welten betrifft, so ist die Science Fiction und alles, was sich darum rankt, auch die Mythologie der Moderne. Der Weltraum hat das Jenseits als Projektionsfläche von Hoffnungen und Ängsten abgelöst, die Funktion ist wohl ähnlich. Früher wurde das Jenseits mit Monstern und erhabenen Wesen bevölkert, heute der Weltraum.

Walter Hofer
02.09.2007, 23:16
Was kam nach der Aufklärung?

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Hegel, Marx, Einstein, die Existentialphilosophie mit Heidegger, Heisenberg, Horkheimers Kritische Theorie, Hawking auf der Suche nach der Einheit der Physik,
was die moderne Philosophie einschließt)

Rheinlaender
03.09.2007, 07:38
Aufklärung ist die Rückschau auf sich selbst, das Selbstbewusstsein einer Kultur, die zum Erwachen kommt. Doch muss es auch zur Synthese kommen. Was kam nach der Aufklärung?

Noch garnichts - das "Projekt Aufklaerung" hat gerade erst begonnen. Immer stecken Menschen, auch in den westlichen Laender in von Religion und Tradition vorgebenen Denkstrukturen, immer noch geben Leute an , an einen Gott zu glauben, immer noch meine Menschen, dass uebernatuerliche Dinge passieren, immer noch meinen Menschen, dass die Menschenrechte nicht zentral fuer jede Gesellschaft sein muessen, die lebenwert ist.

Das aufgeklaerte Zeitalter befindet sich erst in seinen Anfaengen. Ich bin der Uberzeugung, dass die Menschheit erst in ihren Kinderschuhen steckt und das zukuenftige Generationen ueber Religionen und aehnliche Vorurteile lachen werden ... gelingt dies nicht, sehe ich fuer das Ueberleben der Menschheit schwarz.

Klopperhorst
03.09.2007, 08:21
Demnach war die Aufklärung aus historischer Sicht so etwas wie die Selbstfindung Europas. Vor der Aufklärung war Europa z. B. nur zu oft Gastgeber für Invasionen gewesen: .... Synthese...Was meinst du damit.

Es wurde vom Agieren einer Kultur zum Reflektieren übergegangen. Bestes Beispiel sind die Dogmen der Kirche. Diese wurden in der Aufklärung zum ersten Mal wirklich hinterfragt, mittels der Wissenschaften. Daneben die Hinterfragung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der staatlichen Organisationsformen (Feudalismus, Absolutismus...). Die Kultur wurde sich bewusst, auch durch Rückschau (auf die antike Kultur) Renaissance. Die Gesellschaften sind sozusagen in der Aufklärung erwacht.

Aber es fehlt jetzt ein neues Sein. Es wurde ja nur revidiert. Die Leibeigenschaft wurde abgeschafft, die Demokratien haben zumindestens im Westen gesiegt, das Individuum ist hier freier denn je, es wurde entfesselt, nicht nur gesellschaftlich sondern auch energetisch. Ein Mensch braucht heute eine Unmenge mehr Eneregie zum Leben als noch im Mittelalter usw. usf.

Eine Synthese wäre nun eine neue Form aktiven Handelns im Sinne einer Kultur, vielleicht ein aktives demokratisches Bewusstsein des Einzelnen und der Masse. Dies wäre eine wahrhafte Synthese, nicht nur eine Reflektion und eine Demontage alter Verhältnisse. Eine Synthese wäre auch, Wissenschaft und Religion, Vernunft und Glaube miteinander zu verbinden!



"Welteroberung und Weltzerstörung" gingen schon bei Dschinghis Khan Hand in Hand.

Naja. Wirklich konnte der Mensch erst durch die entfesselten Energie die Welt erobern und unterwerfen und zerstören. Aber in der Tat, es gibt keinen Vergleichsmaßstab. Ich denke aber, daß es die fehlenden Disziplinierungen durch eine auf das Jenseits ausgerichtete Weltanschauung (Mittelalterliches Weltbild) war, die dies ermöglichte. Bestes Beispiel ist ja die protestantische Arbeitsethik.


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Rheinlaender
03.09.2007, 08:54
Ich glaube, dass "der Gott" schon vor der Aufklärung verloren war. Irgendwann hatten die Menschen vielleicht den Straf- und Rachegott der Monotheisten über und beschlossen, ohne ihn zu leben.

Kaum - die Religion spielte im Denken bis zur aufklaerung eine zu zentrale Rolle. Genau genommen hat Darwin und die moderne Physik ihn entgueltig getoetet in der Vorstellung der Menschen (jedenfalls vieler Menschen).


Den mechanistischen Materialismus hat die Moderne meines Erachtens überwunden.

Das mechanische Weltbild Descartes ist tod, weil es eben die Wirklichkeit nicht mehr beschreibt, wie wir sie messen koennen. Das zeigt aber gerade die Staerke der Aufklaerung, selbst ihrer eigenen Erkenntnisse der regieden Ueberpruefung zu unterwerfen. Die kritische und skeptische Methode als Motor der staendigen Umwaelzung und gleichzeitig als einzig Konstantes.

Beverly
03.09.2007, 10:04
das "Projekt Aufklaerung" hat gerade erst begonnen. Immer stecken Menschen, auch in den westlichen Laender in von Religion und Tradition vorgebenen Denkstrukturen, immer noch geben Leute an , an einen Gott zu glauben, immer noch meine Menschen, dass uebernatuerliche Dinge passieren, immer noch meinen Menschen, dass die Menschenrechte nicht zentral fuer jede Gesellschaft sein muessen, die lebenwert ist.

Das aufgeklaerte Zeitalter befindet sich erst in seinen Anfaengen. Ich bin der Uberzeugung, dass die Menschheit erst in ihren Kinderschuhen steckt und das zukuenftige Generationen ueber Religionen und aehnliche Vorurteile lachen werden ... gelingt dies nicht, sehe ich fuer das Ueberleben der Menschheit schwarz.

Ich denke auch, dass das Projekt Aufklärung gerade erst begonnen hat. Es darauf zu reduzieren, Religion per se zu vaporisieren halte ich für bedenklich, möglicherweise ein Missverständnis.

Meines Erachten hatten Religion und Rationalität hinsichtlich Welterklärung, Normensetzung und Sinnstiftung die gleichen Funktionen - nur halt zu unterschiedlichen Epochen. Die Aufklärung kam zu einer Zeit, als die Religion in dieser Funktion immer mehr versagte. Auf den Unfug der "Schriftgelehrten" folgte die ebenso harsche Ablehnung der Atheisten. Donoso Cortes forderte den Scheiterhaufen, um alle "Häresien" zu liquidieren, von der anderen Seite kam die Antwort: "Religion ist Opium für das Volk".
Obwohl ich den Monotheismus gerade angesichts seiner vorgeblichen akuten Renaissance mehr denn je für ein Auslaufmodell halte und die Welt die Nichtexistenz ihres personalen Gottes jeden Tag beweist, halte ich auch die Gegenreaktion der Atheisten für überzogen. Die Religionen unter dem Verdikt "Opium fürs Volk" nicht nur von der Macht - was richtig ist - sondern auch aus dem geistigen und kulturellen Erbe der Menschheit zu verbannen, scheint mir fragwürdig. Vor Hawking und dem Urknall gab es die Genesis und beide haben als Welterklärung mehr miteinander gemeinsam als ihre Anhänger zugeben wollen.

Dazu kommt, dass das Projekt Aufklärung notwendigerweise gezwungen ist, die Funktionen zu übernehmen, die traditionell die Religion inne hatte. Und das aus zwei Gründen:
1. Man kann die Menschen nicht einfach in ein Sinnvakuum fallen lassen, "Gott ist tot" rufen und Lieschen Müller mit der Erkenntnis allein lassen. Warum organisieren sich nur die Anhänger überlebter Dogmen und die Atheisten größtenteils nicht?
2. Die akuten Religionen beweisen mir mehr denn je, dass ihre Zeit abgelaufen ist. All das, was sie der Aufklärung an vulgärem Mechanismus vorwerfen, praktizieren gerade die Fundamentalisten und Wortgläubigen doch selbst.

Beverly
03.09.2007, 10:14
(...)Eine Synthese wäre auch, Wissenschaft und Religion, Vernunft und Glaube miteinander zu verbinden!

Letztendlich ist auch die Aufklärung ein Glaubenssystem. Sozusagen die Religion der Moderne. Sie sollte das weder verleugnen noch deshalb so in dogmatische Erstarrung verfallen, wie die Religionen vor ihr sondern es endlich leben.

Sauerländer
03.09.2007, 10:44
(...)Dazu kommt, dass das Projekt Aufklärung notwendigerweise gezwungen ist, die Funktionen zu übernehmen, die traditionell die Religion inne hatte.(...)
Nur so als ersten kurzen Einwurf: Die Frage ist, ob die Aufklärung das im Sinne von Sinnstiftung und Moralsetzung überhaupt leisten kann. Ich tendiere dazu, diese Frage mit "Nein" zu beantworten, im Hinblick auf die Sinnstiftung sogar ganz entschieden.
Deshalb stellt man heute entweder die Sinnfrage gar nicht mehr, oder gibt sich die heroische Attitüde des Kämpfers, der ohne Sinn auskommt (Nihilismus), oder stellt den Sinn dem damit völlig überlasteten Individuum anheim (Existenzialismus).

Felidae
03.09.2007, 10:45
Auch wenn uns die Aufklärung manches Leid gebracht hat, so leben wir besser mit der klaren Wahrheit als mit Lügen.

Sauerländer
03.09.2007, 10:52
Auch wenn uns die Aufklärung manches Leid gebracht hat, so leben wir besser mit der klaren Wahrheit als mit Lügen.
Im Krankenhaus erzählt man manchmal Patienten mit düsterer Prognose bewusst nicht die Wahrheit. Und das nicht nur, um schwache Charaktere zu schonen, sondern weil man weiss, dass es mitunter echte Auswirkungen auf die Angelegenheit haben kann, ob der Patient aufgibt, oder hofft und kämpft.
Der Menschheit erzählt man jetzt seit Jahrhunderten die Wahrheit. Das Ergebnis spricht nicht für diesen Ansatz.

Rheinlaender
03.09.2007, 10:56
IObwohl ich den Monotheismus gerade angesichts seiner vorgeblichen akuten Renaissance mehr denn je für ein Auslaufmodell halte und die Welt die Nichtexistenz ihres personalen Gottes jeden Tag beweist, halte ich auch die Gegenreaktion der Atheisten für überzogen. Die Religionen unter dem Verdikt "Opium fürs Volk" nicht nur von der Macht - was richtig ist - sondern auch aus dem geistigen und kulturellen Erbe der Menschheit zu verbannen, scheint mir fragwürdig.

Nicht fuer das Volk - Marx schrieb: "Des Volkes" er schah in der Religion den Reflex auf eine sonst wegen ihrer Ungerechtigkeit nicht zu ertragenden Welt.

Ich halte die Wiedergeburt der Religion fuer auch "vorgeblich" - hier im UK bekennen in Umfragen ca. 2/3 zum Atheismus oder Agnostismus.


Dazu kommt, dass das Projekt Aufklärung notwendigerweise gezwungen ist, die Funktionen zu übernehmen, die traditionell die Religion inne hatte. Und das aus zwei Gründen:
1. Man kann die Menschen nicht einfach in ein Sinnvakuum fallen lassen, "Gott ist tot" rufen und Lieschen Müller mit der Erkenntnis allein lassen. Warum organisieren sich nur die Anhänger überlebter Dogmen und die Atheisten größtenteils nicht?

Warum nicht? Oder sollen wir Opium ins Trinkwasser mischen, damit sich alle Leute gut fuehlen?

Rheinlaender
03.09.2007, 10:56
Im Krankenhaus erzählt man manchmal Patienten mit düsterer Prognose bewusst nicht die Wahrheit. Und das nicht nur, um schwache Charaktere zu schonen, sondern weil man weiss, dass es mitunter echte Auswirkungen auf die Angelegenheit haben kann, ob der Patient aufgibt, oder hofft und kämpft.
Der Menschheit erzählt man jetzt seit Jahrhunderten die Wahrheit. Das Ergebnis spricht nicht für diesen Ansatz.

Doch, die bittere Medizin zeigt schon Wirkung.

Sauerländer
03.09.2007, 11:20
Doch, die bittere Medizin zeigt schon Wirkung.
Gut, um beim Bild zu bleiben: Arme und Beine fallen ab, Haare fallen aus, der Patient wird blind und verliert alle Geschmacksnerven.
Das kann man natürlich interpretieren als Aussortierung dessen, was ohnehin nicht mehr lebensfähig war, was eh nur noch verrottend an dem Menschen gehangen hätte. Als Übriglassen nur dessen, was wirklich noch funktioniert und im Kern ja auch das ist, was zur schieren Weiterexistenz notwendig ist.
Wenn man jedoch den Patienten selber fragen würde, würde er ob einer solchen Sichtweise wahrscheinlich Gift und Galle spucken - und nach Erkennen seiner Lage um die finale Spritze/Zyankalikapsel/den Gnadenschuss bitten.
Wollte man ihm den Gefallen nicht tun, ertrüge aber andererseits seine -vorsichtig ausgedrückt- schlechte Stimmung nicht, müsste man ihn permanent unter Drogen setzen. Und all das ginge natürlich auch nur, wenn er es sich leisten könnte - ansonsten würde er eher in einer besseren Besenkammer landen, wo er bewegungsunfähig und blind in seinen eigenen Exkrementen schmoren dürfte und jeden Tag die Menschheit wie das Leben im Allgemeinen verflucht.
Das in etwa ist der Zustand, in den die Aufklärung bzw der Gesamtprozess, dessen Teil sie ist, einen guten Teil der Menschheit gebracht hat.
Natürlich kann man das begrüßen - wenn der Patient selber sterben will, kann man ja einen Kostenfaktor beseitigen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. :rolleyes:

Was ich aber über die Moral von Leuten denke, die es so sehen, verschweige ich hier lieber - zwecks Sperrungsvermeidung.

Beverly
03.09.2007, 12:58
Auch wenn uns die Aufklärung manches Leid gebracht hat, so leben wir besser mit der klaren Wahrheit als mit Lügen.

Was ist denn die Wahrheit, um die sich hier die Ärzte streiten, ob sie sie dem Patienten mitteilen sollen oder nicht?

Mit Sauerländer stimme ich oft bezüglich der akuten "Diagnosen" überein, weil die Welt derzeit wirklich nicht sehr lebensfreundlich ist, aber nicht in der "Krankengeschichte" und der daraus abzuleitenden "Therapie". Wenn dem Patienten plötzlich Arme und Beine abfallen, deutet das darauf hin, dass er nicht von jetzt auf gleich erkrankte, sondern die Krankheit schon länger da war.

Rheinlaender hat dann Recht, wenn er darauf verweist, dass der Patient schon eine vor Aufklärung und Moderne zurück reichende "Krankengeschichte" hat. Doch seine Diagnose "auf dem Weg der Besserung" scheint mir reichlich optimistisch. Sinnstiftung mit Verabreichung von Opium gleich zu setzen ist therapeutisch der falsche Ansatz.

Zur "Krankengeschichte":

Ich glaube, dass die Menschheit schon immer in einem Zustand war, der bestenfalls mit "glücklich, aber unwissend" und schlimmstenfalls mit "Hölle auf Erden" umschrieben werden kann. Neben edlen gab es auch psychopathische Wilde, im Mittelalter Dorfgemeinschaft und Klimakastrophe.

Eine intakte Welt der Vor-Aufklärung hätte nie die chaotische und oft destruktive Welt der Neuzeit zugelassen. PM schrieb dazu in "Die Schrecken des Jahres 1000" ungefähr so: "Die Menschen früherer Epochen machten nur deswegen noch keinen globalen Scheiß, weil sie dazu nicht in der Lage waren." Die entsprechende Bösartigkeit, Herzlosigkeit und Destruktivität hatten sie vielleich noch mehr als wir heute. Gab es im Forum nicht einen Disput über den Massenmörder Julius Cäsar?

Man kann natürlich konservativ argumentieren, dass man den Verbrechern und Totschlägern dann halt nicht die Zerstörungsmittel in die Hand geben soll, die sie heute haben. Es bei Schwert, Pfeil und Bogen belassen ... nur hilft das IMHO auch nicht. Die Destruktivität brach sich schon mit vormodernen Mitteln etwa in Gestalt römischer Legionen und mongolischer Reiterheere - bei den Indianern taten es dann auch Krankheitserreger - in erschreckender Art und Weise Bahn. Caesar werden 2 Millionen Tote in Gallien nachgesagt, beim "jüdischen Krieg" 70 n. Chr. kamen eine Million Menschen ums Leben, Dschinghis Khan wird mit 3 bis 15 Millionen Toten gehandelt und nach der Entdeckung Amerikas kamen dort von 80 Millionen Einwohnern 70 Millionen ums Leben. Vor Hitler gab es die Konquistadoren und 700 Jahre, ehe Nazi-Deutschland in Russland einfielen, terrorisierten es die Mongolen.

Der Patient war also schon immer nicht richtig gesund und - sofern wir wirklich einen neuen Krankheitsschub haben - ist es nicht sein erster.

Die "akute Diagnose"

Gestern haben ich eine Dokumentation über Lumpensammler in Argentinien gesehen. Das waren vor Jahren oder Jahrzehnten mal Menschen, die ganz normalen Berufen nachgingen. Dann "ging Argentinien bankrott" und die braven Angestellten wurden plötzlich nicht mehr gebraucht. Nun sammeln sie Lumpen und müssen sich von einem an Zynismus nicht mehr zu übertreffenden Journalisten sagen lassen, dass sie es beim Überlebenskampf noch gut getroffen haben. Tja, die größten Lumpen liegen halt nicht auf der Straße rum, müssten aber dringend aufgesammelt und entsorgt werden.
Die Episode mit den Lumpensammlern illustriert, dass kranke Zustände früher - als es vielleicht noch mehr Lumpensammler gab - uns nicht dazu verleiten lassen dürfen, heute alles durch die rosa Brille zu sehen. Wir haben da einen kranken, vielleicht sogar schwerkranken Patienten. Auch da gibt es verschiedene Arten:

Altersschwäche, der Patient ist hochbetagt, hat schon alles getan und erlebt und will vielleicht nicht mehr. Das sehe ich bei der Menschheit nicht so: waren wir auf dem Mars? Ein Flug zum Mars mag verglichen mit anderen Dingen, die es zu tun gibt trivial sein. Aber wenn wir nicht einmal diese Trivialität vollbracht haben, haben wir dann überhaupt richtig gelebt? "Was wollen Sie mit dem Gör in der Gerontologie?", schimpft die Schwester am Empfang und schickt uns weg.

Ab in die Kinderabteilung.

Was ist schlimmer als ein 90jähriger, dem Krebs diagnostiziert wird und der satt vom Leben beschließt, sich die Tortur mit Chemotherapie und abfallenden Gliedmaßen nicht anzutun? Richtig, ein 9jähriger :rolleyes:

Dann geht das Gezeter zwischen den Ärzten richtig los. "Wir hätten ihm erst gar nicht das Lesen beibringen sollen", schimpft der Konservative. "Nein, wir müssen ihn für Raumfahrt begeistern, das weckt neue Lebensgeister", erklärt der Progressive. Nur der Liberale, der sagt: "Was wollt ihr, ihm geht es doch gut", wird von beiden böse angeblickt, ehe sie sich weiter zanken. "Mit deinem futuristischen Wahn bringst du ihn um!", schimpft der Konservative. Der Progressist antwortet: "Du, du bringst ihn auch um. Bestenfalls hört er auf zu wachsen und wird zum hässlichen Zwerg."

So weit der Bericht aus der Klinik :rolleyes:

Felidae
03.09.2007, 13:06
Warum wird jetzt so auf der "Krankengeschichte" rumgeritten?

Sauerländer
03.09.2007, 13:16
Warum wird jetzt so auf der "Krankengeschichte" rumgeritten?
Weil die von großer Bedeutung ist für die Beantwortung der Frage, worin das eigentliche Wesen der Krankheit besteht, bzw ob und gegebenenfalls was man dagegen tun kann.
Sich einfach nur hinstellen und die Gegenwart verdammen ist ein Anfang - aber mehr auch nicht.

Felidae
03.09.2007, 13:18
Weil die von großer Bedeutung ist für die Beantwortung der Frage, worin das eigentliche Wesen der Krankheit besteht, bzw ob und gegebenenfalls was man dagegen tun kann.
Sich einfach nur hinstellen und die Gegenwart verdammen ist ein Anfang - aber mehr auch nicht.

Es geht nicht um einen Kranken, dem die Diagnose verschwiegen wird, sondern um einen Kranken, der Heilungschancen hat, der Arzt ihm diese Chancen aber verschweigt, weil er den Patienten unmündig halten will.

Sauerländer
03.09.2007, 13:27
Es geht nicht um einen Kranken, dem die Diagnose verschwiegen wird, sondern um einen Kranken, der Heilungschancen hat, der Arzt ihm diese Chancen aber verschweigt, weil er den Patienten unmündig halten will.
Präzisiert: Es geht um einen Patienten, dessen Heilungschancen niemand kennt (auch der Arzt nicht), die aber nach aller medizinischer Erfahrung als recht gering angesehen werden müssen.
Das Vorenthalten dieses Umstandes hat nichts mit Unmündighaltung zu tun, sondern damit, dem Patienten bessere Chancen einzuräumen, nicht elend daran zu verrecken.
Wobei auch das Bild letztlich hinkt, insofern es immer noch suggeriert, die Krankheit selbst (als eigentliches Problem) sei ein von der Aufklärung abgelöster und somit dadurch potentiell zu bessernder Zustand, während in Wirklichkeit die Aufklärung Teil der Krankheit ist.

Sauerländer
03.09.2007, 13:50
(...)
So weit der Bericht aus der Klinik :rolleyes:
Da ja die gehobene Form des Kabaretts auch nur noch aus der Anstalt kommt, ist das zumindest passend.:rolleyes:
Neues aus der Anstalt (http://www.youtube.com/watch?v=-xGBjAdcN_c)