Haloperidol
17.06.2007, 19:08
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,488791,00.html
Kein Täter - nur Opfer
Was bleibt, ist Ernüchterung: Mehr als ein Jahr nach dem Angriff auf den Deutsch-Äthiopier und der sich anschließenden Debatte über Ausländerfeindlichkeit im Osten sind die Angeklagten freigesprochen worden. Gewonnen haben sie deswegen nicht.
Hamburg - Vor 14 Monaten schien alles noch so einfach zu sein, da schien alles so eindeutig auf der Hand zu liegen, dass die Zweifler und Mahner, die es in der öffentlichen Diskussion im April 2006 gab, teilweise rüde zurechtgestutzt wurden. Es war doch alles so klar. Oder etwa nicht?
Die Nacht zum Ostersonntag in Potsdam, Brandenburg. Ein junger Mann wird von einem Unbekannten niedergeschlagen und erleidet lebensgefährliche Verletzungen. Das Opfer: Ermyas Mulugeta, 37, dunkelhäutig, geboren in Äthiopien, verheiratet, Familienvater, Wissenschaftler, Fußballspieler, netter Nachbar. "Ein vorbildlicher Deutscher", schlagzeilt der "Stern".
Die beiden mutmaßlichen Täter: Björn L., 29, und Thomas M., 31, beide aus Potsdam, der eine Gelegenheitstürsteher, der andere Behindertentransportfahrer, kurze Haare, kräftige Gestalten. "Ausländer-Hasser festgenommen!", titelt die "Bild"-Zeitung wenig später auf der ersten Seite.
In dem kurzen Wortgefecht, das sich Mulugeta und seine Angreifer wenige Sekunden vor dem verhängnisvollen Faustschlag geliefert hatten und das über ein Handytelefonat von einer Mailbox aufgezeichnet wurde, ist zu hören, wie einer der Kontrahenten mit ungewöhnlich heller Stimme "Scheißnigger" ruft (mehr...). Der Mitschnitt wird veröffentlicht. Plötzlich gibt es ein Motiv für den Überfall: Fremdenhass.
Während Mulugeta mit einer lebensbedrohlichen Gehirnschwellung im künstlichen Koma liegt, bricht in Deutschland eine Debatte los. In acht Wochen soll "die Welt zu Gast bei Freunden" sein, die Fußball-WM steht bevor, und im Osten kämpft ein Deutsch-Äthiopier nach einem mutmaßlichen brutalen Nazi-Überfall um sein Leben. Das Land bebt vor Empörung - und Scham.
L. und M. werden von vermummten Spezialkräften der Polizei zur Bundesanwaltschaft nach Karlsruhe geflogen und medienwirksam vorgeführt. Die obersten Ankläger der Nation hatten eine "Beeinträchtigung der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland" erkannt und das Verfahren an sich gezogen. Versuchten Mord "aus fremdenfeindlichen Motiven" werfen sie L. und M. vor.
Am Tatort türmen sich Blumen und Karten. Die Politiker überbieten sich mit Appellen und eindringlichen Worten. Bundeskanzlerin Angela Merkel verurteilt die "abscheuliche und menschenverachtende Tat". Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mahnt, ein rechtsextremer Hintergrund sei doch noch gar nicht erwiesen, und zieht damit den Unmut vieler auf sich. "Ich finde es bestürzend, dass der Bundesinnenminister solch aggressiven Rassismus zumindest fahrlässig verharmlost", ätzt der SPD-Generalsekretär Hubertus Heil.
Und der frühere Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye behauptet in einem Interview, es gebe kleine und mittlere Städte in Brandenburg und auch anderswo, in die ein dunkelhäutiger Tourist besser nicht gehen solle. Er könnte sie "möglicherweise lebend nicht wieder verlassen".
2. Teil: Die Justiz blamierte sich
Am 23. Mai werden die Haftbefehle gegen M. und L. aufgehoben. Die Ermittlungsrichter sehen keinen dringenden Tatverdacht mehr. Die Männer kommen frei.
Einen Tag später wird erneut Haftbefehl gegen Björn L. erlassen. Er muss wieder in Untersuchungshaft.
Am 26. Mai gibt die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen "nach Ausschöpfung aller zurzeit erkennbaren und verfügbaren Beweismittel" an die Staatsanwaltschaft Potsdam ab. Die innere Sicherheit der Republik scheint nun nicht mehr "beeinträchtigt" zu sein.
2. Juni: Eine Ermittlungsrichterin des Amtsgerichts Potsdam setzt den Haftbefehl gegen Björn L. unter strengen Auflagen wieder außer Vollzug. Er kommt erneut frei.
16. Juni: Der Hauptbeschuldigte Björn L. muss nach einer Beschwerde der Potsdamer Staatsanwaltschaft wieder in Haft.
22. September: Das Landgericht Potsdam setzt den Haftbefehl gegen L. unter strengen Auflagen außer Vollzug. Er kommt - zum dritten Mal - frei.
Im Zweifel für den Angeklagten
Anfang Februar beginnt vor der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam der Prozess, der heute mit Freisprüchen für Björn L. und Thomas M. zu Ende gegangen ist (mehr...). Wegen gefährlicher Körperverletzung wird L., wegen unterlassener Hilfeleistung M. angeklagt, doch am Ende fordern sogar die Staatsanwältin und der Anwalt Mulugetas, die beiden Männer freizusprechen, die stets bestritten hatten, überhaupt am Tatort gewesen zu sein (mehr...). "Es gab Indizien für die Täterschaft, aber sie reichten als tragfähige Grundlage für eine Verurteilung nicht aus", sagt der Vorsitzende Richter Michael Thies später in seiner Urteilsbegründung. "Das ist der klassische Fall des Grundsatzes: im Zweifel für den Angeklagten."
80 Zeugen werden in dem Verfahren gehört, das peinliche Schlampereien der Ermittlungsbehörden offenbart. Viele Aussagen sind widersprüchlich und damit nur wenig erhellend. Eine große Rolle spielt die Stimme des Angeklagten L., sie wird von zwei verschiedenen Experten begutachtet. Doch keiner der Fachleute kommt zu dem Schluss, dass es L. - von seinen Freunden "Pieps" genannt - war, der in der Nacht "Scheißnigger" gerufen hatte.
Mulugeta selbst kann sich vor Gericht "ganz und gar nicht an die Tat erinnern", wie er zu Protokoll gibt. Zwei Tage zuvor hatte er noch in der Fernsehsendung "Stern TV" dem Moderator Günther Jauch gesagt: "Wenn ich ehrlich sein soll, ja, die beiden waren es." Er meinte die Angeklagten.
Im Prozess kommt dann auch wieder zur Sprache, dass Ermyas Mulugeta in der Tatnacht ziemlich angetrunken (1,66 Promille) und aggressiv war, dass er seine Angreifer zuerst angesprochen und beschimpft und dass er, so schilderten es mehrere Zeugen, einen der Männer getreten hatte, ehe der ihm ins Gesicht schlug.
Mulugeta akzeptiert das Urteil
Mulugeta leidet noch immer unter den Folgen der Gewalttat und nimmt therapeutische Hilfe in Anspruch. Dass er nach seinen schweren Verletzungen wieder sprechen und sich fast normal bewegen kann, ist eine kleine medizinische Sensation.
Doch der glücklicherweise Genesene wird aller Voraussicht nie erfahren, wer ihn angegriffen hat. Ein Manko, das für die Opfer schwerer Straftaten oftmals nur schwer zu akzeptieren ist. Mulugeta indes gibt sich tapfer. "Wenn nicht ausreichend Beweise da sind, müssen sie freigesprochen werden", sagt der Ingenieur heute nach dem Urteil. "Ich bin ausgeglichen. Die Verhandlung hat mir geholfen, die Tat zu verarbeiten. Wenn man jedoch naiv sagt, es ist alles wie vorher, dann lügt man."
Aber auch für die Angeklagten Björn L. und Thomas M., zu deren Gunsten entschieden wurde, hat sich einiges verändert. M. ist inzwischen arbeitslos. L. beklagt, unschuldig im Gefängnis gesessen zu haben. Gemeinsam wird ihnen wohl die Furcht bleiben, in diesem an Aufmerksamkeit nicht knappen Fall weiterhin als Täter angesehen zu werden, die wegen mangelnder Beweise nicht hatten verurteilt werden können. Vielleicht bleibt diese Angst sogar lebenslänglich.
Es scheint, als gebe es im Fall Ermyas Mulugeta am Ende nur Verlierer.
http://de.news.yahoo.com/15062007/336/heye-wirft-osten-kampf-rechts-versagen.html
Heye wirft dem Osten im Kampf gegen Rechts Versagen vor
München (ddp). Nach den Freisprüchen im Potsdamer Ermyas-Prozess hat der Vorsitzende des Vereins «Gesicht Zeigen!», der frühere Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye, den Ermittlungsbehörden Versagen vorgeworfen und die ostdeutschen Landesregierungen scharf kritisiert. «Die Ermittlungsbasis ist so fehlerhaft, dass ein anderes Urteil nicht zu erwarten war», sagte Heye dem «Münchner Merkur» (Samstagausgabe). «Die Arbeit der Polizei» sei von «Pleiten, Pech und Pannen» durchzogen gewesen.
Heye sagte, Potsdam sei «kein Einzelfall». Das zeige auch der «rechtsradikale Überfall auf eine Theatergruppe in Halberstadt, wo sich Polizeibeamte nicht darum geschert haben, die Täter festzunehmen, geschweige denn ihre Personalien aufzunehmen». Es gebe «eine Kultur des Wegsehens», kritisierte Heye und griff die Politik in Ostdeutschland scharf an: «In den Regierungen der neuen Bundesländer sitzen immer noch viele, die meinen, es sei besser, Rechtsradikalismus zu ignorieren und zu bagatellisieren statt genau hinzusehen.»
Wo die NPD ihre Hochburgen errichtet, bleiben die Wirkungen kaum aus. Rechtsextreme Gewalt wird zusehends mehr geduldet:
http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2007/t_cid-4057690_.html
Dessauer Polizeiaffäre um Vertuschung rechter Straftaten spitzt sich zu - Ministerpräsident erwägt Konsequenzen
Sendung vom 14.06.2007 21:45 Uhr
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer erwägt, Konsequenzen aus dem Verhalten des stellvertretenden Dessauer Polizeipräsidenten Hans-Christoph Glombitza zu ziehen. Glombitza soll polizeiliche Staatsschützer aufgefordert haben, bei rechten Straftaten "weniger hinzuschauen". Böhmer sagte dem NDR Magazin PANORAMA der Vorgang werde derzeit geprüft: "Wenn sich dies bestätigen sollte, dann bekommt der Betroffene ein riesiges Problem." Den Bericht zum Thema zeigt PANORAMA am Donnerstag, 14. Juni, um 21.45 Uhr im Ersten.
Die umstrittenen Äußerungen sollen im Februar in einem Gespräch zwischen Glombitza und drei Dessauer Staatsschützern gefallen sein. Der stellvertretende Polizeipräsident soll seine Anweisung zum "weniger Hinschauen" laut dem PANORAMA vorliegenden Gedächtnisprotokoll der Staatsschützer damit begründet haben, dass über die Zunahme der Ermittlungsverfahren und die hohen Fallzahlen "niemand glücklich" sei. Das Ansehen des Landes könne dadurch nachhaltig geschädigt werden. Glombitza habe dann den Staatsschützern nahegelegt, sie könnten beispielsweise Berichte "langsamer schreiben".
Glombitza lehnt eine Stellungnahme zu den Behauptungen ab. Auch seine Vorgesetzte, die Dessauer Polizeipräsidentin Brigitte Scherber-Schmidt, will "keine Interviews zu dienstlichen Angelegenheiten geben". Dagegen haben die Staatsschützer eidesstattlich versichert, das interne Dienstgespräch korrekt wiedergegeben zu haben. Dieses Protokoll gelangte dann an die Öffentlichkeit. In Folge wurden die Beamten innerhalb der Polizei versetzt.
Nun bitten sie in PANORAMA um die Rückkehr auf ihre alte Dienststelle: "Ich bin enttäuscht, diese Arbeit hat mir sehr viel Spaß gemacht", sagt der ehemalige Dessauer Staatsschutzleiter Sven Gratzik. Der Experte für rechtsextremistische Gewalt muss sich künftig in Köthen um entlaufene Katzen und Ruhestörer kümmern. Auch der ehemalige Sachbearbeiter im Staatsschutz Christian Kappert bedauert seine Versetzung in den zentralen Einsatzdienst Dessau. "Ich habe meine vorige Verwendung sehr gerne gemacht. Jetzt muss ich den fließenden Verkehr überwachen."
Ministerpräsident Böhmer signalisiert gegenüber PANORAMA ein mögliches Einlenken: "Selbstverständlich, wenn es sich herausstellt, dass sie ungerechtfertigt versetzt worden sind, wird das rückgängig gemacht."
Kein Täter - nur Opfer
Was bleibt, ist Ernüchterung: Mehr als ein Jahr nach dem Angriff auf den Deutsch-Äthiopier und der sich anschließenden Debatte über Ausländerfeindlichkeit im Osten sind die Angeklagten freigesprochen worden. Gewonnen haben sie deswegen nicht.
Hamburg - Vor 14 Monaten schien alles noch so einfach zu sein, da schien alles so eindeutig auf der Hand zu liegen, dass die Zweifler und Mahner, die es in der öffentlichen Diskussion im April 2006 gab, teilweise rüde zurechtgestutzt wurden. Es war doch alles so klar. Oder etwa nicht?
Die Nacht zum Ostersonntag in Potsdam, Brandenburg. Ein junger Mann wird von einem Unbekannten niedergeschlagen und erleidet lebensgefährliche Verletzungen. Das Opfer: Ermyas Mulugeta, 37, dunkelhäutig, geboren in Äthiopien, verheiratet, Familienvater, Wissenschaftler, Fußballspieler, netter Nachbar. "Ein vorbildlicher Deutscher", schlagzeilt der "Stern".
Die beiden mutmaßlichen Täter: Björn L., 29, und Thomas M., 31, beide aus Potsdam, der eine Gelegenheitstürsteher, der andere Behindertentransportfahrer, kurze Haare, kräftige Gestalten. "Ausländer-Hasser festgenommen!", titelt die "Bild"-Zeitung wenig später auf der ersten Seite.
In dem kurzen Wortgefecht, das sich Mulugeta und seine Angreifer wenige Sekunden vor dem verhängnisvollen Faustschlag geliefert hatten und das über ein Handytelefonat von einer Mailbox aufgezeichnet wurde, ist zu hören, wie einer der Kontrahenten mit ungewöhnlich heller Stimme "Scheißnigger" ruft (mehr...). Der Mitschnitt wird veröffentlicht. Plötzlich gibt es ein Motiv für den Überfall: Fremdenhass.
Während Mulugeta mit einer lebensbedrohlichen Gehirnschwellung im künstlichen Koma liegt, bricht in Deutschland eine Debatte los. In acht Wochen soll "die Welt zu Gast bei Freunden" sein, die Fußball-WM steht bevor, und im Osten kämpft ein Deutsch-Äthiopier nach einem mutmaßlichen brutalen Nazi-Überfall um sein Leben. Das Land bebt vor Empörung - und Scham.
L. und M. werden von vermummten Spezialkräften der Polizei zur Bundesanwaltschaft nach Karlsruhe geflogen und medienwirksam vorgeführt. Die obersten Ankläger der Nation hatten eine "Beeinträchtigung der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland" erkannt und das Verfahren an sich gezogen. Versuchten Mord "aus fremdenfeindlichen Motiven" werfen sie L. und M. vor.
Am Tatort türmen sich Blumen und Karten. Die Politiker überbieten sich mit Appellen und eindringlichen Worten. Bundeskanzlerin Angela Merkel verurteilt die "abscheuliche und menschenverachtende Tat". Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mahnt, ein rechtsextremer Hintergrund sei doch noch gar nicht erwiesen, und zieht damit den Unmut vieler auf sich. "Ich finde es bestürzend, dass der Bundesinnenminister solch aggressiven Rassismus zumindest fahrlässig verharmlost", ätzt der SPD-Generalsekretär Hubertus Heil.
Und der frühere Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye behauptet in einem Interview, es gebe kleine und mittlere Städte in Brandenburg und auch anderswo, in die ein dunkelhäutiger Tourist besser nicht gehen solle. Er könnte sie "möglicherweise lebend nicht wieder verlassen".
2. Teil: Die Justiz blamierte sich
Am 23. Mai werden die Haftbefehle gegen M. und L. aufgehoben. Die Ermittlungsrichter sehen keinen dringenden Tatverdacht mehr. Die Männer kommen frei.
Einen Tag später wird erneut Haftbefehl gegen Björn L. erlassen. Er muss wieder in Untersuchungshaft.
Am 26. Mai gibt die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen "nach Ausschöpfung aller zurzeit erkennbaren und verfügbaren Beweismittel" an die Staatsanwaltschaft Potsdam ab. Die innere Sicherheit der Republik scheint nun nicht mehr "beeinträchtigt" zu sein.
2. Juni: Eine Ermittlungsrichterin des Amtsgerichts Potsdam setzt den Haftbefehl gegen Björn L. unter strengen Auflagen wieder außer Vollzug. Er kommt erneut frei.
16. Juni: Der Hauptbeschuldigte Björn L. muss nach einer Beschwerde der Potsdamer Staatsanwaltschaft wieder in Haft.
22. September: Das Landgericht Potsdam setzt den Haftbefehl gegen L. unter strengen Auflagen außer Vollzug. Er kommt - zum dritten Mal - frei.
Im Zweifel für den Angeklagten
Anfang Februar beginnt vor der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam der Prozess, der heute mit Freisprüchen für Björn L. und Thomas M. zu Ende gegangen ist (mehr...). Wegen gefährlicher Körperverletzung wird L., wegen unterlassener Hilfeleistung M. angeklagt, doch am Ende fordern sogar die Staatsanwältin und der Anwalt Mulugetas, die beiden Männer freizusprechen, die stets bestritten hatten, überhaupt am Tatort gewesen zu sein (mehr...). "Es gab Indizien für die Täterschaft, aber sie reichten als tragfähige Grundlage für eine Verurteilung nicht aus", sagt der Vorsitzende Richter Michael Thies später in seiner Urteilsbegründung. "Das ist der klassische Fall des Grundsatzes: im Zweifel für den Angeklagten."
80 Zeugen werden in dem Verfahren gehört, das peinliche Schlampereien der Ermittlungsbehörden offenbart. Viele Aussagen sind widersprüchlich und damit nur wenig erhellend. Eine große Rolle spielt die Stimme des Angeklagten L., sie wird von zwei verschiedenen Experten begutachtet. Doch keiner der Fachleute kommt zu dem Schluss, dass es L. - von seinen Freunden "Pieps" genannt - war, der in der Nacht "Scheißnigger" gerufen hatte.
Mulugeta selbst kann sich vor Gericht "ganz und gar nicht an die Tat erinnern", wie er zu Protokoll gibt. Zwei Tage zuvor hatte er noch in der Fernsehsendung "Stern TV" dem Moderator Günther Jauch gesagt: "Wenn ich ehrlich sein soll, ja, die beiden waren es." Er meinte die Angeklagten.
Im Prozess kommt dann auch wieder zur Sprache, dass Ermyas Mulugeta in der Tatnacht ziemlich angetrunken (1,66 Promille) und aggressiv war, dass er seine Angreifer zuerst angesprochen und beschimpft und dass er, so schilderten es mehrere Zeugen, einen der Männer getreten hatte, ehe der ihm ins Gesicht schlug.
Mulugeta akzeptiert das Urteil
Mulugeta leidet noch immer unter den Folgen der Gewalttat und nimmt therapeutische Hilfe in Anspruch. Dass er nach seinen schweren Verletzungen wieder sprechen und sich fast normal bewegen kann, ist eine kleine medizinische Sensation.
Doch der glücklicherweise Genesene wird aller Voraussicht nie erfahren, wer ihn angegriffen hat. Ein Manko, das für die Opfer schwerer Straftaten oftmals nur schwer zu akzeptieren ist. Mulugeta indes gibt sich tapfer. "Wenn nicht ausreichend Beweise da sind, müssen sie freigesprochen werden", sagt der Ingenieur heute nach dem Urteil. "Ich bin ausgeglichen. Die Verhandlung hat mir geholfen, die Tat zu verarbeiten. Wenn man jedoch naiv sagt, es ist alles wie vorher, dann lügt man."
Aber auch für die Angeklagten Björn L. und Thomas M., zu deren Gunsten entschieden wurde, hat sich einiges verändert. M. ist inzwischen arbeitslos. L. beklagt, unschuldig im Gefängnis gesessen zu haben. Gemeinsam wird ihnen wohl die Furcht bleiben, in diesem an Aufmerksamkeit nicht knappen Fall weiterhin als Täter angesehen zu werden, die wegen mangelnder Beweise nicht hatten verurteilt werden können. Vielleicht bleibt diese Angst sogar lebenslänglich.
Es scheint, als gebe es im Fall Ermyas Mulugeta am Ende nur Verlierer.
http://de.news.yahoo.com/15062007/336/heye-wirft-osten-kampf-rechts-versagen.html
Heye wirft dem Osten im Kampf gegen Rechts Versagen vor
München (ddp). Nach den Freisprüchen im Potsdamer Ermyas-Prozess hat der Vorsitzende des Vereins «Gesicht Zeigen!», der frühere Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye, den Ermittlungsbehörden Versagen vorgeworfen und die ostdeutschen Landesregierungen scharf kritisiert. «Die Ermittlungsbasis ist so fehlerhaft, dass ein anderes Urteil nicht zu erwarten war», sagte Heye dem «Münchner Merkur» (Samstagausgabe). «Die Arbeit der Polizei» sei von «Pleiten, Pech und Pannen» durchzogen gewesen.
Heye sagte, Potsdam sei «kein Einzelfall». Das zeige auch der «rechtsradikale Überfall auf eine Theatergruppe in Halberstadt, wo sich Polizeibeamte nicht darum geschert haben, die Täter festzunehmen, geschweige denn ihre Personalien aufzunehmen». Es gebe «eine Kultur des Wegsehens», kritisierte Heye und griff die Politik in Ostdeutschland scharf an: «In den Regierungen der neuen Bundesländer sitzen immer noch viele, die meinen, es sei besser, Rechtsradikalismus zu ignorieren und zu bagatellisieren statt genau hinzusehen.»
Wo die NPD ihre Hochburgen errichtet, bleiben die Wirkungen kaum aus. Rechtsextreme Gewalt wird zusehends mehr geduldet:
http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2007/t_cid-4057690_.html
Dessauer Polizeiaffäre um Vertuschung rechter Straftaten spitzt sich zu - Ministerpräsident erwägt Konsequenzen
Sendung vom 14.06.2007 21:45 Uhr
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer erwägt, Konsequenzen aus dem Verhalten des stellvertretenden Dessauer Polizeipräsidenten Hans-Christoph Glombitza zu ziehen. Glombitza soll polizeiliche Staatsschützer aufgefordert haben, bei rechten Straftaten "weniger hinzuschauen". Böhmer sagte dem NDR Magazin PANORAMA der Vorgang werde derzeit geprüft: "Wenn sich dies bestätigen sollte, dann bekommt der Betroffene ein riesiges Problem." Den Bericht zum Thema zeigt PANORAMA am Donnerstag, 14. Juni, um 21.45 Uhr im Ersten.
Die umstrittenen Äußerungen sollen im Februar in einem Gespräch zwischen Glombitza und drei Dessauer Staatsschützern gefallen sein. Der stellvertretende Polizeipräsident soll seine Anweisung zum "weniger Hinschauen" laut dem PANORAMA vorliegenden Gedächtnisprotokoll der Staatsschützer damit begründet haben, dass über die Zunahme der Ermittlungsverfahren und die hohen Fallzahlen "niemand glücklich" sei. Das Ansehen des Landes könne dadurch nachhaltig geschädigt werden. Glombitza habe dann den Staatsschützern nahegelegt, sie könnten beispielsweise Berichte "langsamer schreiben".
Glombitza lehnt eine Stellungnahme zu den Behauptungen ab. Auch seine Vorgesetzte, die Dessauer Polizeipräsidentin Brigitte Scherber-Schmidt, will "keine Interviews zu dienstlichen Angelegenheiten geben". Dagegen haben die Staatsschützer eidesstattlich versichert, das interne Dienstgespräch korrekt wiedergegeben zu haben. Dieses Protokoll gelangte dann an die Öffentlichkeit. In Folge wurden die Beamten innerhalb der Polizei versetzt.
Nun bitten sie in PANORAMA um die Rückkehr auf ihre alte Dienststelle: "Ich bin enttäuscht, diese Arbeit hat mir sehr viel Spaß gemacht", sagt der ehemalige Dessauer Staatsschutzleiter Sven Gratzik. Der Experte für rechtsextremistische Gewalt muss sich künftig in Köthen um entlaufene Katzen und Ruhestörer kümmern. Auch der ehemalige Sachbearbeiter im Staatsschutz Christian Kappert bedauert seine Versetzung in den zentralen Einsatzdienst Dessau. "Ich habe meine vorige Verwendung sehr gerne gemacht. Jetzt muss ich den fließenden Verkehr überwachen."
Ministerpräsident Böhmer signalisiert gegenüber PANORAMA ein mögliches Einlenken: "Selbstverständlich, wenn es sich herausstellt, dass sie ungerechtfertigt versetzt worden sind, wird das rückgängig gemacht."