Brunner
11.05.2004, 22:10
In diesem Zusammenhang ein Auszug aus "Welt am Sonntag":
Der Untergang Europas
Überreguliert, überaltert und überfremdet: Der alte Kontinent kann dem neuen nicht das Wasser reichen
von Niall Ferguson
In seinem "Verfall und Untergang des Römischen Reiches" beschrieb der britische Historiker Edward Gibbon (1737 bis 1794), was geschehen wäre, wenn die Muslime nach ihrer Invasion Spaniens (711) und Frankreichs die Schlacht von Poitiers (732) gewonnen hätten: "Vielleicht würde heute in den Lehranstalten von Oxford die Auslegung des Koran gelehrt, und, vor einem beschnittenen Publikum, von den Kathedern die Heiligkeit und Wahrhaftigkeit der Offenbarung Mohammeds gepredigt."
Ich glaube, Gibbon hat das Antlitz des heutigen Europa und das kommender Jahrzehnte richtig vorhergesagt. Ich bin überzeugt, dass das kommende Ende Europas nicht nur auf ökonomische, sondern vor allem auf kulturelle Ursachen zurückzuführen ist. Europa wird sich nicht zu einem Imperium von der Art entwickeln, wie es die USA meiner Meinung nach sind - nämlich ein expansives geopolitisches Gebilde -, wird nicht zum Rivalen oder Gegengewicht, sondern vielmehr zu einer Art Antithese der USA, die politische Energien in sich aufsaugt und vielleicht sogar von äußeren Kräften kolonisiert wird.
Die Wirtschaft zuerst: In neun Jahren des vergangenen Jahrzehnts lag das Wirtschaftswachstum der USA über dem der Europäischen Union. Nur zweimal während der letzten neun Jahre wuchs die Produktivität in den USA nicht schneller als in Europa. Im Schnitt waren die Arbeitslosenzahlen des letzten Jahrzehnts in der EU doppelt so hoch wie in den USA.
Einer der größten Unterschiede in wirtschaftlicher Hinsicht zwischen Westeuropa und den USA macht sich an der erstaunlichen Divergenz der Arbeitszeit fest. So haben die Amerikaner in den letzten zehn Jahren immer mehr Arbeitszeit abgeleistet. Der durchschnittliche amerikanische Beschäftigte arbeitet fast 2000 Stunden im Jahr, sein deutsches Gegenstück 22 Prozent weniger.
In den USA ist zwischen 1979 und heute die Zahl der effektiven Arbeitstage im Jahr kontinuierlich gewachsen. Genau das Gegenteil geschah in Europa. Auch ist die Beschäftigung insgesamt zurückgegangen. Immer weniger EU-Bürger treten überhaupt auf dem Arbeitsmarkt in Erscheinung. Ich halte das für mehr als nur ein ökonomisches Phänomen; es ist ein Symptom jener kulturellen Malaise, von der ich glaube, dass sie entscheidend zum Ende Europas beitragen wird.
Um es ganz schonungslos zu sagen: Es ist das Arbeitsethos selbst, das seinen Verfall und Untergang erlebt. Und es sollte uns zu denken geben, dass der Rückgang der Arbeitszeit gerade in den ehemals stark protestantisch geprägten Ländern im Nordwesten Europas besonders drastisch ist.
Meiner Meinung nach dürfte die Eingliederung von zehn neuen Ländern hauptsächlich aus Mittel- und Mittelosteuropa weder für die neuen noch die alten Mitgliedstaaten im Westen Europas besonders vorteilhaft sein. Denn die Frage ist ja, ob nicht die Osteuropäer, die nach dem Fall der Berliner Mauer die Vorzüge der wirtschaftlichen Freiheit entdeckten, nun feststellen werden, dass durch die Flut von Gesetzen und Verordnungen, die täglich aus Brüssel ergeht, diese Freiheit stark beeinträchtigt wird.
Aber lassen Sie mich mein Argument weiter ausführen und auf die historische Perspektive zu sprechen kommen. Im Gegensatz zur gängigen Vorstellung, dass einige Heiligenfiguren wie Jean Monnet eine Vision der europäischen Integration verwirklichten, damit es in Europa nie wieder Krieg gibt und alle Menschen glücklicher und reicher werden können, verfolgten die westeuropäischen Nationalstaaten stets ihre eigenen Ziele. Das begann schon mit den Verhandlungen, aus denen die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl - die Montanunion - hervorging und bei denen sie in der Durchsetzung ihrer nationalen wirtschaftlichen Interessen beziehungsweise der Interessen einflussreicher wirtschaftlicher Gruppen innerhalb ihrer Gesellschaft, vor allem der Schwerindustrie und landwirtschaftlicher Kleinbetriebe, nur wenig von ihrer Souveränität aufgaben.
Der europäische Motor war von Anfang an auf deutsches "Schmieröl" angewiesen. Sprich: Es waren die Deutschen, die von der ersten Stunde an bereit waren, die anderen Beteiligten im Prozess der europäischen Integration finanziell auszuhalten.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Grunde lief die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl darauf hinaus, dass die deutschen Steuerzahler die leistungsschwachen belgischen Kohlebergwerke mit hunderttausenden D-Mark wieder aufpäppelten. Die deutschen Steuerzahler kamen sogar für die Entwicklungshilfe des französischen Kolonialreichs auf, die ein wesentlicher Bestandteil der Römischen Verträge war. Und schließlich wurde die gemeinsame Agrarpolitik, die zum mit Abstand größten Posten im Etat der Europäischen Union wurde, von Beginn an durch die Nettobeiträge der deutschen Steuerzahler abgesichert. Wenn man all die einseitigen Zahlungen hinzuaddiert, die Deutschland über den europäischen Haushalt seit seiner Gründung geleistet hat, dann übersteigen diese die Summe der Reparationszahlungen, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auferlegt wurden.
Heute produziert Deutschland ein knappes Viertel des Bruttoinlandsprodukts der gesamten EU. Es bildet ein gutes Fünftel, nämlich 22 Prozent, der EU-Bevölkerung. Es hat aber nur 16 Prozent der Sitze im Europäischen Parlament und einen Stimmenanteil von etwa elf Prozent im EU-Ministerrat. (Sollte der Verfassungsentwurf nach der Erweiterung nicht umgesetzt werden, wird der Stimmenanteil Deutschlands im Ministerrat auf acht Prozent zurückfallen.) Wirft man aber einen Blick auf die Nettobeiträge zum europäischen Haushalt zwischen 1995 und 2001, wird man feststellen, dass sich Deutschland mit 67 Prozent beteiligt hat.
Das ginge noch an, wenn Deutschland das Wirtschaftssystem mit dem größten Wachstum in Europa wäre. Aber inzwischen ist es zum Land mit dem geringsten Wirtschaftswachstum geworden. Man könnte Deutschland sogar als den kranken Mann Europas bezeichnen. Der Motor läuft noch, aber das Schmieröl fehlt. Und in dem Maße, wie sich diese Realität bemerkbar macht, muss der Prozess der europäischen Integration, der vom ersten Tag an auf deutsche Finanzspritzen angewiesen war, unweigerlich zum Stillstand kommen.
Ich möchte noch ein letztes, nicht ökonomisches Argument anführen.
Das grundlegende Problem, vor dem Europa steht, ist die Überalterung. Im Jahre 2050 wird das Durchschnittsalter der 15 alten EU-Länder von 38 auf 49 Jahre gestiegen sein. Für Deutschland wird bis zum Jahre 2050 ein dramatischer Bevölkerungsrückgang von 82 auf 67 Millionen Bürger vorhergesagt. Ein charakteristisches Merkmal der ehemals weltweit dominanten Länder Westeuropas wird die sinkende Einwohnerzahl sein.
Es kann für diesen Kontinent nur eine Lösung geben: die Einwanderung. Europa verfügt ja über einen Fundus von jungen Arbeitern, die einen besseren Lebensstandard anstreben, denn Europa ist von Ländern umgeben, deren Geburtenrate mehr als doppelt so hoch ist wie im europäischen Durchschnitt. Das Problem ist, dass fast all diese Länder muslimisch sind. Und nicht nur das: Unmittelbar am Rand der EU, genau genommen zwischen der EU und dem Irak, existiert ein Land, das einen sehr begründeten Anspruch auf die Mitgliedschaft in der EU hat: die Türkei.
Das Pro-Kopf-Einkommen der Türkei ist höher als das von Ungarn, Lettland und Litauen, alles Länder, die jetzt der EU beitreten - und ganz bestimmt höher als das so mancher Balkanländer, die hoffen, in der nächsten oder übernächsten Beitrittswelle dabei zu sein. Die Einwände gegen einen Beitritt der Türkei überzeugen nicht mehr, und übrig bleibt nur das kulturelle Argument: dass Europa im Wesentlichen ein christliches Gebilde sei und die EU so etwas wie eine moderne, weltliche Form der abendländischen Christenheit.
Ich wünschte, das wäre der Fall. Aber in Wirklichkeit sind West- und Osteuropa keine christlichen Länder mehr im ursprünglichen Sinne. Heute sind sie eindeutig post-christliche - in vielerlei Hinsicht sogar postreligiöse - Gesellschaften. In den Niederlanden, in Großbritannien, Deutschland, Schweden und Dänemark geht nicht einmal jeder zehnte Bürger auch nur einmal im Monat in die Kirche; eine große Mehrheit geht gar nicht. In England besuchen wöchentlich mehr Muslime die Moschee als Anglikaner den Gottesdienst. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass die Europäer in einer Gesellschaft leben, die ökonomisch, demografisch und vor allem kulturell im Niedergang begriffen ist.
Obwohl sie es versuchen werden, können sich die Europäer nicht ewig der Einwanderung versperren, die vom Süden und Osten unweigerlich hereindrängen wird. Schon heute bemüht man sich, die Einwanderung aus den neuen Mitgliedstaaten aufzuhalten, die nach deren Aufnahme am 1. Mai eigentlich rechtens sein sollte. Die europäische Politik wird mehr und mehr von einer Art Todestanz der alten Mitgliedstaaten beherrscht, bei dem Politiker und Wähler ebenso verzweifelt wie vergeblich versuchen, die alten, todgeweihten Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit und vor allem die letzten Reste ihrer traditionellen Kultur wieder zu beleben.
Bald wird man in Oxford Minarette sehen, ganz wie Gibbon prophezeite. Eines ist sogar schon da. In meiner alten Universität wird derzeit ein neues Zentrum für islamische Studien gebaut. Ich zitiere: "Das Gebäude im klassischen Stil eines Oxford-College, gebaut um einen Kreuzgang herum, wird einen Gebetsraum mit der traditionellen Kuppel und einem Minarett enthalten." Nächstes Jahr soll es eröffnet werden. Ich wüsste zu gern, was Gibbon dazu gesagt hätte.
Der Schotte Niall Ferguson, Jahrgang 1964, ist Professor für Finanzgeschichte an der New York University und hat eine Gastprofessur in Oxford. Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung einer Rede vor dem American Enterprise Institute in Washington, D.C. Soeben erschien bei Propyläen sein Buch "Das verleugnete Imperium - Chancen und Risiken amerikanischer Macht".
Artikel erschienen am 25. April 2004
Der Untergang Europas
Überreguliert, überaltert und überfremdet: Der alte Kontinent kann dem neuen nicht das Wasser reichen
von Niall Ferguson
In seinem "Verfall und Untergang des Römischen Reiches" beschrieb der britische Historiker Edward Gibbon (1737 bis 1794), was geschehen wäre, wenn die Muslime nach ihrer Invasion Spaniens (711) und Frankreichs die Schlacht von Poitiers (732) gewonnen hätten: "Vielleicht würde heute in den Lehranstalten von Oxford die Auslegung des Koran gelehrt, und, vor einem beschnittenen Publikum, von den Kathedern die Heiligkeit und Wahrhaftigkeit der Offenbarung Mohammeds gepredigt."
Ich glaube, Gibbon hat das Antlitz des heutigen Europa und das kommender Jahrzehnte richtig vorhergesagt. Ich bin überzeugt, dass das kommende Ende Europas nicht nur auf ökonomische, sondern vor allem auf kulturelle Ursachen zurückzuführen ist. Europa wird sich nicht zu einem Imperium von der Art entwickeln, wie es die USA meiner Meinung nach sind - nämlich ein expansives geopolitisches Gebilde -, wird nicht zum Rivalen oder Gegengewicht, sondern vielmehr zu einer Art Antithese der USA, die politische Energien in sich aufsaugt und vielleicht sogar von äußeren Kräften kolonisiert wird.
Die Wirtschaft zuerst: In neun Jahren des vergangenen Jahrzehnts lag das Wirtschaftswachstum der USA über dem der Europäischen Union. Nur zweimal während der letzten neun Jahre wuchs die Produktivität in den USA nicht schneller als in Europa. Im Schnitt waren die Arbeitslosenzahlen des letzten Jahrzehnts in der EU doppelt so hoch wie in den USA.
Einer der größten Unterschiede in wirtschaftlicher Hinsicht zwischen Westeuropa und den USA macht sich an der erstaunlichen Divergenz der Arbeitszeit fest. So haben die Amerikaner in den letzten zehn Jahren immer mehr Arbeitszeit abgeleistet. Der durchschnittliche amerikanische Beschäftigte arbeitet fast 2000 Stunden im Jahr, sein deutsches Gegenstück 22 Prozent weniger.
In den USA ist zwischen 1979 und heute die Zahl der effektiven Arbeitstage im Jahr kontinuierlich gewachsen. Genau das Gegenteil geschah in Europa. Auch ist die Beschäftigung insgesamt zurückgegangen. Immer weniger EU-Bürger treten überhaupt auf dem Arbeitsmarkt in Erscheinung. Ich halte das für mehr als nur ein ökonomisches Phänomen; es ist ein Symptom jener kulturellen Malaise, von der ich glaube, dass sie entscheidend zum Ende Europas beitragen wird.
Um es ganz schonungslos zu sagen: Es ist das Arbeitsethos selbst, das seinen Verfall und Untergang erlebt. Und es sollte uns zu denken geben, dass der Rückgang der Arbeitszeit gerade in den ehemals stark protestantisch geprägten Ländern im Nordwesten Europas besonders drastisch ist.
Meiner Meinung nach dürfte die Eingliederung von zehn neuen Ländern hauptsächlich aus Mittel- und Mittelosteuropa weder für die neuen noch die alten Mitgliedstaaten im Westen Europas besonders vorteilhaft sein. Denn die Frage ist ja, ob nicht die Osteuropäer, die nach dem Fall der Berliner Mauer die Vorzüge der wirtschaftlichen Freiheit entdeckten, nun feststellen werden, dass durch die Flut von Gesetzen und Verordnungen, die täglich aus Brüssel ergeht, diese Freiheit stark beeinträchtigt wird.
Aber lassen Sie mich mein Argument weiter ausführen und auf die historische Perspektive zu sprechen kommen. Im Gegensatz zur gängigen Vorstellung, dass einige Heiligenfiguren wie Jean Monnet eine Vision der europäischen Integration verwirklichten, damit es in Europa nie wieder Krieg gibt und alle Menschen glücklicher und reicher werden können, verfolgten die westeuropäischen Nationalstaaten stets ihre eigenen Ziele. Das begann schon mit den Verhandlungen, aus denen die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl - die Montanunion - hervorging und bei denen sie in der Durchsetzung ihrer nationalen wirtschaftlichen Interessen beziehungsweise der Interessen einflussreicher wirtschaftlicher Gruppen innerhalb ihrer Gesellschaft, vor allem der Schwerindustrie und landwirtschaftlicher Kleinbetriebe, nur wenig von ihrer Souveränität aufgaben.
Der europäische Motor war von Anfang an auf deutsches "Schmieröl" angewiesen. Sprich: Es waren die Deutschen, die von der ersten Stunde an bereit waren, die anderen Beteiligten im Prozess der europäischen Integration finanziell auszuhalten.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Grunde lief die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl darauf hinaus, dass die deutschen Steuerzahler die leistungsschwachen belgischen Kohlebergwerke mit hunderttausenden D-Mark wieder aufpäppelten. Die deutschen Steuerzahler kamen sogar für die Entwicklungshilfe des französischen Kolonialreichs auf, die ein wesentlicher Bestandteil der Römischen Verträge war. Und schließlich wurde die gemeinsame Agrarpolitik, die zum mit Abstand größten Posten im Etat der Europäischen Union wurde, von Beginn an durch die Nettobeiträge der deutschen Steuerzahler abgesichert. Wenn man all die einseitigen Zahlungen hinzuaddiert, die Deutschland über den europäischen Haushalt seit seiner Gründung geleistet hat, dann übersteigen diese die Summe der Reparationszahlungen, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auferlegt wurden.
Heute produziert Deutschland ein knappes Viertel des Bruttoinlandsprodukts der gesamten EU. Es bildet ein gutes Fünftel, nämlich 22 Prozent, der EU-Bevölkerung. Es hat aber nur 16 Prozent der Sitze im Europäischen Parlament und einen Stimmenanteil von etwa elf Prozent im EU-Ministerrat. (Sollte der Verfassungsentwurf nach der Erweiterung nicht umgesetzt werden, wird der Stimmenanteil Deutschlands im Ministerrat auf acht Prozent zurückfallen.) Wirft man aber einen Blick auf die Nettobeiträge zum europäischen Haushalt zwischen 1995 und 2001, wird man feststellen, dass sich Deutschland mit 67 Prozent beteiligt hat.
Das ginge noch an, wenn Deutschland das Wirtschaftssystem mit dem größten Wachstum in Europa wäre. Aber inzwischen ist es zum Land mit dem geringsten Wirtschaftswachstum geworden. Man könnte Deutschland sogar als den kranken Mann Europas bezeichnen. Der Motor läuft noch, aber das Schmieröl fehlt. Und in dem Maße, wie sich diese Realität bemerkbar macht, muss der Prozess der europäischen Integration, der vom ersten Tag an auf deutsche Finanzspritzen angewiesen war, unweigerlich zum Stillstand kommen.
Ich möchte noch ein letztes, nicht ökonomisches Argument anführen.
Das grundlegende Problem, vor dem Europa steht, ist die Überalterung. Im Jahre 2050 wird das Durchschnittsalter der 15 alten EU-Länder von 38 auf 49 Jahre gestiegen sein. Für Deutschland wird bis zum Jahre 2050 ein dramatischer Bevölkerungsrückgang von 82 auf 67 Millionen Bürger vorhergesagt. Ein charakteristisches Merkmal der ehemals weltweit dominanten Länder Westeuropas wird die sinkende Einwohnerzahl sein.
Es kann für diesen Kontinent nur eine Lösung geben: die Einwanderung. Europa verfügt ja über einen Fundus von jungen Arbeitern, die einen besseren Lebensstandard anstreben, denn Europa ist von Ländern umgeben, deren Geburtenrate mehr als doppelt so hoch ist wie im europäischen Durchschnitt. Das Problem ist, dass fast all diese Länder muslimisch sind. Und nicht nur das: Unmittelbar am Rand der EU, genau genommen zwischen der EU und dem Irak, existiert ein Land, das einen sehr begründeten Anspruch auf die Mitgliedschaft in der EU hat: die Türkei.
Das Pro-Kopf-Einkommen der Türkei ist höher als das von Ungarn, Lettland und Litauen, alles Länder, die jetzt der EU beitreten - und ganz bestimmt höher als das so mancher Balkanländer, die hoffen, in der nächsten oder übernächsten Beitrittswelle dabei zu sein. Die Einwände gegen einen Beitritt der Türkei überzeugen nicht mehr, und übrig bleibt nur das kulturelle Argument: dass Europa im Wesentlichen ein christliches Gebilde sei und die EU so etwas wie eine moderne, weltliche Form der abendländischen Christenheit.
Ich wünschte, das wäre der Fall. Aber in Wirklichkeit sind West- und Osteuropa keine christlichen Länder mehr im ursprünglichen Sinne. Heute sind sie eindeutig post-christliche - in vielerlei Hinsicht sogar postreligiöse - Gesellschaften. In den Niederlanden, in Großbritannien, Deutschland, Schweden und Dänemark geht nicht einmal jeder zehnte Bürger auch nur einmal im Monat in die Kirche; eine große Mehrheit geht gar nicht. In England besuchen wöchentlich mehr Muslime die Moschee als Anglikaner den Gottesdienst. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass die Europäer in einer Gesellschaft leben, die ökonomisch, demografisch und vor allem kulturell im Niedergang begriffen ist.
Obwohl sie es versuchen werden, können sich die Europäer nicht ewig der Einwanderung versperren, die vom Süden und Osten unweigerlich hereindrängen wird. Schon heute bemüht man sich, die Einwanderung aus den neuen Mitgliedstaaten aufzuhalten, die nach deren Aufnahme am 1. Mai eigentlich rechtens sein sollte. Die europäische Politik wird mehr und mehr von einer Art Todestanz der alten Mitgliedstaaten beherrscht, bei dem Politiker und Wähler ebenso verzweifelt wie vergeblich versuchen, die alten, todgeweihten Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit und vor allem die letzten Reste ihrer traditionellen Kultur wieder zu beleben.
Bald wird man in Oxford Minarette sehen, ganz wie Gibbon prophezeite. Eines ist sogar schon da. In meiner alten Universität wird derzeit ein neues Zentrum für islamische Studien gebaut. Ich zitiere: "Das Gebäude im klassischen Stil eines Oxford-College, gebaut um einen Kreuzgang herum, wird einen Gebetsraum mit der traditionellen Kuppel und einem Minarett enthalten." Nächstes Jahr soll es eröffnet werden. Ich wüsste zu gern, was Gibbon dazu gesagt hätte.
Der Schotte Niall Ferguson, Jahrgang 1964, ist Professor für Finanzgeschichte an der New York University und hat eine Gastprofessur in Oxford. Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung einer Rede vor dem American Enterprise Institute in Washington, D.C. Soeben erschien bei Propyläen sein Buch "Das verleugnete Imperium - Chancen und Risiken amerikanischer Macht".
Artikel erschienen am 25. April 2004