Bakunin
08.05.2004, 20:34
sehr interessant!
Zum Malen verdammt
http://zeus.zeit.de/bilder/2004/20/feuilleton/dali_200.jpg
quelle: http://www.zeit.de/2004/20/Dali
War Salvador Dalí wirklich wahnsinnig? Und was ist heute von seiner Kunst zu halten? Eine überraschende Nachforschung zum 100. Geburtstag
Von Peter Bürger
Foto: Philippe Halsmann/Magnum Photos/Agentur Focus
Die erste Documenta, die 1955 einen Kanon moderner Kunst aufstellen wollte, zeigte von den surrealistischen Malern André Masson, Joan Miró und Max Ernst, nicht Salvador Dalí. Die Gründe für die Geringschätzung Dalís durch Kritiker und Kunsthistoriker sind vielfältig. Nachdem er 1940 in die USA gegangen ist, wendet er sich mehr und mehr dem Design zu. Er macht Werbezeichnungen für Haute-Couture-Modelle, entwirft Titelblätter für die Zeitschrift Vogue, Muster für Krawatten und Schmuck und porträtiert mit hyperrealistischer Präzision Angehörige der High Society. Auch stoßen seine Hitler-Obsession und seine Polemik gegen die Ästhetik der Moderne auf Kritik. Scheut er doch nicht davor zurück, den Jugendstil gegen die funktionalistische Baugesinnung der Moderne, die „Architektur der Selbstbestrafung“, auszuspielen.
Seit der Durchsetzung der Moderne in den fünfziger und frühen sechziger Jahren ist vieles geschehen. Die Pop Art hat die Grenzen zwischen hoher und trivialer Kunst eingerissen, in Italien hat Achille Bonito Oliva die Transavantgarde ausgerufen, die durch ihre Rückkehr zu traditionellen Malweisen die Ästhetik der Moderne provozierte. Dalís Rückgriff auf den Akademismus und die Salonmalerei des 19. Jahrhunderts erhielt mit einem Mal eine ungeahnte Aktualität. Es besteht also seit geraumer Zeit Anlass, das über ihn verhängte Verdikt nochmals zu überdenken. Einen Anstoß dazu gab vor zwei Jahren die Surrealismus-Retrospektive in Paris und Düsseldorf, wo einige wichtige Bilder aus der surrealistischen Phase Dalís zu sehen waren. Jetzt feiert ihn die Frankfurter Allgemeine als „ein malerisches Großereignis des 20. Jahrhunderts, einen Alchemisten der Farben und einen Lichtregisseur ohnegleichen“. Aber vielleicht wird durch diese späte Anerkennung als Maler die Gestalt Dalís nur abermals verdeckt.
Noch immer ist es schwierig, über Dalí zu sprechen, nicht weil sein Werk uns Rätsel aufgibt, sondern weil sich vor das Werk und dessen Autor die Dalí-Legende schiebt. Auch um andere Künstler haben sich Legenden gebildet; Dalí aber bringt seine selbst hervor. Fast könnte man vermuten, er benutzt sie als Schutzschild, um sich dahinter auf immer unkenntlich zu machen. Ein Leben lang spielt er der Welt den Exzentriker vor, der an der Grenze des Wahnsinns lebt, den großen Provokateur und Tabubrecher. Er liefert den Medien die lebende Karikatur des genialen Künstlers, zwirbelt seinen Schnurrbart hoch und reißt die Augen auf.
Perfekte Beherrschung altmeisterlicher Maltechniken
Wie steht dazu die Arbeit dieses Malers und Zeichner, der die akademischen Techniken perfekt beherrscht? Auf vertrackte Weise bestimmt diese Doppelgesichtigkeit Dalís den Umgang der Kritik mit seinem Werk. Ob sie nun die Legende annimmt und wie der Kunsthistoriker Wieland Schmied behauptet: „Dalís Leben ist Teil seines Werks, vielleicht sein wichtigstes Werk“; oder ob sie die Legende beiseite lässt und wie der Museumsdirektor Uwe M. Schneede fragt: „Was wird bleiben von Salvador Dalís Werk?“ – in beiden Fällen reproduziert sie jeweils eine Ansicht des janusköpfigen Gesichts, das Dalí dem Betrachter zeigt. Offenbar ist es ihm tatsächlich gelungen, sich hinter der lärmenden Veröffentlichung von Enthüllungen und Scheinenthüllungen unsichtbar zu machen.
Wie schwer sich die Kritik mit Dalí tut, zeigt der eigenartige Vorschlag von Günter Metken, „Dalí von dem Etikett ‚Surrealismus‘ zu lösen“. Der Gewaltstreich des Kritikers, der das Werk befreien möchte von dem, was ihm als Theorieballast erscheint, legt den Gedanken nahe, gerade hier könnte der Zugang zum Fall Dalí liegen. Schließlich malt Dalí seine bedeutendsten Bilder in den Jahren seiner Zusammenarbeit mit den Surrealisten.
Als Sohn eines angesehenen Notars in Figueras (Katalonien) am 11. Mai 1904 geboren, erhält Dalí auf der Kunstakademie in Madrid eine solide akademische Ausbildung, wendet sich früh dem Kubismus zu, erarbeitet sich aber gleichzeitig die Beherrschung altmeisterlicher Techniken (Der Brotkorb, 1926). Es gibt aus dieser Frühzeit einige vorzügliche Arbeiten. Das Junge Mädchen von hinten, vor einer kargen Küstenlandschaft sitzend, beeindruckt Picasso, der es in Dalís Atelier in Barcelona sieht. Doch bald wendet sich Dalí, angeregt durch de Chirico, Miró und Tanguy, einer surrealistisch inspirierten Malerei zu, siedelt 1929 nach Paris über, wo er schnell Kontakt zu den Surrealisten findet. Durch die Hinwendung zum Kommunismus hatte die Gruppe um André Breton prominente, wegen ihrer provokativen Aktivitäten wichtige Mitglieder wie Antonin Artaud verloren. Dalí vermochte die vakante Position einzunehmen und wurde zur treibenden Kraft der Bewegung.
Wie kein anderer surrealistischer Maler hat er mit seinen oftmals polemischen Schriften der dreißiger Jahre die programmatische Entwicklung und das Leben der Bewegung geprägt. Mehr noch als in den Texten Bretons aus derselben Zeit schwingt bei Dalí etwas von der Krise der Epoche mit. Seine Skizze einer Theorie der Verantwortungslosigkeit und die fröhliche Bejahung des „Klimas ideologischer und moralischer Verwirrung, in dem gegenwärtig zu leben wir die Ehre und die Freude haben“, schließlich der provokatorisch eingesetzte Akademismus – das alles wirkt wie eine halluzinatorische Vorwegnahme dessen, was wir mit dem hilflosen Begriff der Postmoderne bezeichnen.
Fasziniert von Freud, von Lacan und, natürlich, von Hitler
Früh macht Dalí im Surrealismus ein grundsätzliches Dilemma aus. Die Umwälzung aller Lebensverhältnisse soll durch Verfahren erreicht werden – automatisches Schreiben, Traumprotokolle –, die das Ich auf Passivität verpflichten. Zwischen den Intentionen und den Verfahren, die das Eintreten des Wunderbaren dem objektiven Zufall überlassen, besteht eine Kluft, die Dalí mit seiner „paranoisch-kritischen Methode“ glaubt schließen zu können. Sie beruht auf der menschlichen Fähigkeit, gegebene Formen mit Bedeutung zu belehnen. Der junge Dalí erprobt sie früh an den Felsen des Kap Creus, unweit von Cadaqués, wo die Dalís alljährlich ihre Ferien verbringen. „Alle Bilder, die beim Anblick der Felsen in der Vorstellung aufscheinen, transformieren sich in dem Maße, wie man näher herantritt oder weiter zurückgeht.“ Dieses schon von Leonardo da Vinci als Inspirationsquelle empfohlene Phänomen bringt Dalí auf den Gedanken, alle Interpretation sei letztlich Projektion von Bedeutung und als solche der Paranoia verwandt.
Besonders fasziniert ihn der systematische, konstruktive Aspekt der Paranoia: dass sie tendenziell alle Bereiche der Wirklichkeit ihrem wahnhaften Deutungssystem zu unterwerfen vermag. Ein an ihr ausgerichtetes Verfahren müsste daher geeignet sein, „zum Ruin der Wirklichkeit beizutragen“, schreibt er 1930 in seiner ersten surrealistischen Programmschrift Der Eselskadaver. Der rational geordneten, mit technischen Geräten ausgestatteten Welt der Moderne, die dem Realitätsprinzip gehorcht, setzt Dalí eine andere entgegen, eine pflanzlich wuchernde, in der das Lustprinzip gilt und selbst Uhren weiche Gebilde sind. Daher tritt er für den Jugendstil und die „paranoische“ Architektur Gaudís ein.
Eine Bestätigung für seine Methode konnte Dalí in der frühen Paranoia-Studie des Psychoanalytikers Jacques Lacan finden, die er bald nach ihrer Veröffentlichung im Jahre 1932 gelesen hatte. Für Lacan ist die Paranoia eine Verkennung (méconnaissance), setzt also Erkenntnis voraus. Er spricht daher von „paranoischer Erkenntnis“ und von den „fruchtbaren Augenblicken des Wahns“ – Begriffe, die Dalís Vorstellungen nahe stehen. Wenn die Wirklichkeit eine „erbärmliche geistige Ausflucht“ ist, wie Breton und Eluard formulieren, ein Konstrukt aus Diskursen, dann ist die Annahme plausibel, dass eine systematische Verwirrung der Diskurse revolutionäre Folgen haben kann. Anknüpfend an den Systematisierungswahn der Paranoia und ihre Produktion von Bedeutungen, so der Gedanke Dalís, müsste es möglich sein, den herkömmlichen Wirklichkeitsbegriff zu erschüttern und damit jene allgemeine Bewusstseinskrise heraufzuführen, von der das zweite surrealistische Manifest spricht.
Von hier lässt sich auch Dalís berüchtigte Faszination durch Hitler verstehen, der ihm zufolge ein tiefes, quasireligiöses Bedürfnis nach dem Irrationalen stillte. Die „kannibalische Raserei der moralischen und irrationalen Hungersnöte“, die einst der Katholizismus mit der „totemistischen Hostie“ befriedigt habe, suche frenetisch nach Befriedigung und finde sie – im Hitlerismus. Oder mit den Worten Dalís: in dem Wunsch, „in den fleischigen, atavistischen, zarten, militaristischen und territorialen Nacken einer beliebigen hitlerischen Amme zu beißen“. Mit dem Gestus des „Kritischen Paranoikers“ kann Dalí als Alternative dazu anbieten: „Man möge doch versuchen, auch Surrealitäten zu essen.“ Denn, so fährt er fort, den Gedanken ins Kannibalische wendend, genau genommen seien die Surrealisten weder Künstler noch Wissenschaftler, sondern „Kaviar, die Extravaganz und Intelligenz des Geschmacks“.
Die Metaphorik des Fressens und Gefressenwerdens durchzieht Dalís Texte auf eine derart aufdringliche Weise, dass sie in ein Beschreibungsverfahren geistiger wie ökonomisch-sozialer Zusammenhänge umschlägt. Während Breton Hegel und Engels zitiert, Autoren, die die Geschichte als vernünftige begreifen, stellt sie für Dalí ein gastrisches Geschehen dar, das einem einzigen Prinzip folgt: der Unersättlichkeit. Diese werde durch die rationalistische Kultur, „die Fastenzeit der Imagination“, ins Krankhafte getrieben.
Der Konflikt mit Breton war unvermeidlich, nachdem Dalí in einem Brief vorgeschlagen hatte, „Hitler aus surrealistischer Sicht einzuordnen“. Als Breton dann 1934 im Salon des Indépendants Dalís Bild Das Rätsel des Wilhelm Tell sieht, bekommt er einen Wutanfall. Dalí hatte Lenin mit riesenhaft verlängertem Hintern und weichem Mützenschirm als kannibalischen Vater dargestellt (auf dem Kopf des Kindes, das Lenin im Arm hält, ist ein Kotelett platziert, das Dalí im Sinne seiner Kannibalismusthese auslegt). Lenin als Menschenfresser Oger, das war eine ziemlich direkte Wiedergabe des bekannten Diktums „Die Revolution frisst ihre Kinder“. Breton betreibt daraufhin Dalís Ausschluss aus der Gruppe. In der entscheidenden Sitzung soll Dalí eine Szene gemacht haben. Socken und Unterhosen verlierend, kniet er vor Breton nieder wie vor dem Heiligen Sakrament und provoziert ein allgemeines Gelächter mit der Drohung: „Nun, Breton, wenn ich heute Nacht träume, dass ich Sie geliebt habe, werde ich morgen früh mit der größten Detailtreue unsere besten Liebesstellungen malen.“ Zum Ausschluss kommt es vorerst nicht.
Wiederholt charakterisiert sich Dalí als total unpolitischen Menschen, das hindert ihn aber nicht daran, das politische Geschehen der Zwischenkriegszeit mit wachen Sinnen zu verfolgen und kommende Katastrophen wie den spanischen Bürgerkrieg vorauszusehen. Seine Kannibalismusthese erweist sich dabei als äußerst produktiv, auch in künstlerischer Hinsicht. 1935 zeichnet er ein Studienblatt Vorahnung des Bürgerkriegs, das er 1936 als Bild ausführt: zwei einander tretende und würgende fragmentarische Menschenkörper mit nur einem schmerzverzerrten Kopf. Hinter einer riesigen, am Boden liegenden Hand sieht man winzig die Figur des suchenden Wissenschaftlers, der, den Blick zu Boden gesenkt, das scheußliche Geschehen nicht wahrzunehmen scheint.
Flucht in die Verausgabung, Tabubruch um jeden Preis
Die Paranoia ist ein Interpretationswahn, und so verwundert es nicht, dass Dalí die bildkünstlerische Realisierung seiner „paranoisch-kritischen Methode“ im Doppelbild sucht: in der „Darstellung eines Gegenstandes, die ohne die mindeste figürliche oder anatomische Veränderung gleichzeitig die Darstellung eines anderen, völlig verschiedenen Gegenstandes ist“. Ein einfaches Beispiel für dieses Verfahren ist die Zeichnung Paranoisch-kritisches Gesicht aus dem Jahre 1933, bei der die Nase aus einem Knochen, die Augen aus Löffeln, die Wange aus einem Kohlkopf, die Lippen aus zwei Koteletts und das Kinn aus einer ovalen Frucht gebildet sind. Ein Blatt wie dieses erinnert an die Köpfe des Mailänder Manieristen Giuseppe Arcimboldi. Doch während Arcimboldi eine geschlossene menschliche Kopfform wiedergibt, betont Dalí das bloße Nebeneinander der Elemente, indem er Lippen und Kinn mit einem Nagel verbindet. Das paranoische Subjekt, wie es hier in Erscheinung tritt, ist in jedem Augenblick vom Zerfall in seine Teile bedroht, zusammengehalten wird es einzig durch den Wahn, ein einheitliches zu sein. In dieser Auffassung des Subjekts steht Dalí derjenigen Lacans nahe, der gleichfalls von einer ursprünglichen Zerstückelungserfahrung ausgeht und das Einheitserlebnis des Menschenkindes als Ergebnis einer imaginären Spiegelung ansieht.
Dalí hat das Doppelbild zur höchsten Bedeutungskomplexität entwickelt. So wichtig ist ihm dieser Bildtypus, dass er seine Metamorphose des Narziß 1937 zu seinem Besuch bei Freud nach London mitnimmt, bei dem es ihm offensichtlich gelingt, Freuds ablehnende Haltung gegenüber dem Surrealismus zu erschüttern. Freilich sieht dieser auch, dass Dalí weniger aus dem Unbewussten schöpft, als vielmehr bewusst Motive der Psychoanalyse aufgreift.
In den zwanziger Jahren setzen die Surrealisten auf den objektiven Zufall und preisen die Langeweile als Zugang zum Wunderbaren. Dalí will sich damit nicht zufrieden geben. Er ist überzeugt, dass wir jederzeit die Bedeutungen, mit denen wir die Erscheinungsformen der Wirklichkeit belehnen, verändern können. Und dass diese Kunst der Metamorphose eine Metamorphose der Kunst heraufführen wird, die eines Tages, wer weiß, einen allgemeinen Taumel bewirken kann, ein Leben, nicht nach dem Gesetz der rationalistischen „Selbstbestrafung“, sondern nach dem Gesetz des Herzens. „Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels“ ist in Hegels Phänomenologie des Geistes jenes Kapitel überschrieben, das Lacan sehr genau gelesen und dem er seine Bestimmung des Wahnsinns entnommen hat. In nichts anderem bestehe der Wahnsinn als darin, dass das Ich sich urteilend der Welt als ganzer, an der es doch teilhat, meint entgegenstellen zu können. Dalí ist nicht wahnsinnig, vielmehr spielt er mit dem „Wahnsinn des Eigendünkels“. Die Beunruhigung, die noch heute von einigen seiner Texte und vielen seiner Zeichnungen und Bilder ausgeht, beruht darauf, dass unter bestimmten Bedingungen das gefährliche Spiel mit dem Wahnsinn ansteckend sein könnte.
Dalí, der 1989 starb, hat bisher noch keinen Ort in der Kunst des 20. Jahrhunderts gefunden. Immer wieder hat er verkündet, er sei das größte malerische Genie des Jahrhunderts – ein interpretationsbedürftiger Satz. Bedenkt man, dass Dalí Mitte der zwanziger Jahre mit eigenen Bildern auftritt, also zu einem Zeitpunkt, als alle wesentlichen Neuerungen der modernen Malerei bereits stattgefunden haben – Fauvismus, Expressionismus, Kubismus und Abstraktion –, dann liegt es nahe, den Satz ironisch zu verstehen. Er würde dann etwa sagen: Es gibt keine notwendige Malerei mehr und auch kein Genie in der Kunst; heute kann sich daher jeder als Genie bezeichnen. Versteht man den Satz in diesem Sinne, dann rückt Dalí in die Nähe Duchamps. Dem leisen Provokateur, der auf die Nachhaltigkeit seiner Wirkung bedacht ist, stünde der lärmende gegenüber, dem Schachspieler der Schauspieler. In Amerika ist Dalí einmal Duchamp begegnet. Dessen Produktionsverweigerung habe sogleich seine manische Produktionswut angestachelt, berichtet er. Die unglaubliche Produktivität Dalís wäre also als Reaktion zu begreifen, als Flucht in die Verausgabung, die den Zweifel an der Möglichkeit einer notwendigen Kunst zum Schweigen bringen soll.
Verausgabung ist einer der zentralen Begriffe des surrealistischen Dissidenten Georges Bataille. Von allen Künstlern, Literaten und Intellektuellen, die für kurze oder längere Zeit vom Surrealismus angezogen sind, dürfte keiner Dalí näher gewesen sein als Bataille, obwohl es zur engeren Beziehung nicht gekommen ist. Mit ihm verbindet Dalí der Wille zur Transgression, zum Tabubruch um jeden Preis. Beide wollen den Bretonschen Surrealismus überbieten. Beide setzen der rationalen ökonomischen Gesellschaftsanalyse ihre Begriffe entgegen, die individuelles und kollektives Handeln aus irrationalen Impulsen verstehen. Und beide lassen sich mimetisch auf das Phänomen Hitler ein. Erst zu Beginn des Zweiten Weltkriegs schlagen sie entgegengesetzte Wege ein. Während Bataille sich der mystischen „inneren Erfahrung“ zuwendet, wählt Dalí die totale Veräußerlichung, was man ihm bis heute nicht verziehen hat. Aber selbst im hemmungslosen Griff nach den Mitteln des Kitschs meint man noch die Verzweiflung eines Künstlers zu spüren, für den große Malerei Vergangenheit ist und der dennoch malen muss.
Der Romanist und Kunsthistoriker Peter Bürger lehrt an der Universität Bremen. Zuletzt erschien „Das Altern der Moderne“ (Suhrkamp Verlag)
Zum Malen verdammt
http://zeus.zeit.de/bilder/2004/20/feuilleton/dali_200.jpg
quelle: http://www.zeit.de/2004/20/Dali
War Salvador Dalí wirklich wahnsinnig? Und was ist heute von seiner Kunst zu halten? Eine überraschende Nachforschung zum 100. Geburtstag
Von Peter Bürger
Foto: Philippe Halsmann/Magnum Photos/Agentur Focus
Die erste Documenta, die 1955 einen Kanon moderner Kunst aufstellen wollte, zeigte von den surrealistischen Malern André Masson, Joan Miró und Max Ernst, nicht Salvador Dalí. Die Gründe für die Geringschätzung Dalís durch Kritiker und Kunsthistoriker sind vielfältig. Nachdem er 1940 in die USA gegangen ist, wendet er sich mehr und mehr dem Design zu. Er macht Werbezeichnungen für Haute-Couture-Modelle, entwirft Titelblätter für die Zeitschrift Vogue, Muster für Krawatten und Schmuck und porträtiert mit hyperrealistischer Präzision Angehörige der High Society. Auch stoßen seine Hitler-Obsession und seine Polemik gegen die Ästhetik der Moderne auf Kritik. Scheut er doch nicht davor zurück, den Jugendstil gegen die funktionalistische Baugesinnung der Moderne, die „Architektur der Selbstbestrafung“, auszuspielen.
Seit der Durchsetzung der Moderne in den fünfziger und frühen sechziger Jahren ist vieles geschehen. Die Pop Art hat die Grenzen zwischen hoher und trivialer Kunst eingerissen, in Italien hat Achille Bonito Oliva die Transavantgarde ausgerufen, die durch ihre Rückkehr zu traditionellen Malweisen die Ästhetik der Moderne provozierte. Dalís Rückgriff auf den Akademismus und die Salonmalerei des 19. Jahrhunderts erhielt mit einem Mal eine ungeahnte Aktualität. Es besteht also seit geraumer Zeit Anlass, das über ihn verhängte Verdikt nochmals zu überdenken. Einen Anstoß dazu gab vor zwei Jahren die Surrealismus-Retrospektive in Paris und Düsseldorf, wo einige wichtige Bilder aus der surrealistischen Phase Dalís zu sehen waren. Jetzt feiert ihn die Frankfurter Allgemeine als „ein malerisches Großereignis des 20. Jahrhunderts, einen Alchemisten der Farben und einen Lichtregisseur ohnegleichen“. Aber vielleicht wird durch diese späte Anerkennung als Maler die Gestalt Dalís nur abermals verdeckt.
Noch immer ist es schwierig, über Dalí zu sprechen, nicht weil sein Werk uns Rätsel aufgibt, sondern weil sich vor das Werk und dessen Autor die Dalí-Legende schiebt. Auch um andere Künstler haben sich Legenden gebildet; Dalí aber bringt seine selbst hervor. Fast könnte man vermuten, er benutzt sie als Schutzschild, um sich dahinter auf immer unkenntlich zu machen. Ein Leben lang spielt er der Welt den Exzentriker vor, der an der Grenze des Wahnsinns lebt, den großen Provokateur und Tabubrecher. Er liefert den Medien die lebende Karikatur des genialen Künstlers, zwirbelt seinen Schnurrbart hoch und reißt die Augen auf.
Perfekte Beherrschung altmeisterlicher Maltechniken
Wie steht dazu die Arbeit dieses Malers und Zeichner, der die akademischen Techniken perfekt beherrscht? Auf vertrackte Weise bestimmt diese Doppelgesichtigkeit Dalís den Umgang der Kritik mit seinem Werk. Ob sie nun die Legende annimmt und wie der Kunsthistoriker Wieland Schmied behauptet: „Dalís Leben ist Teil seines Werks, vielleicht sein wichtigstes Werk“; oder ob sie die Legende beiseite lässt und wie der Museumsdirektor Uwe M. Schneede fragt: „Was wird bleiben von Salvador Dalís Werk?“ – in beiden Fällen reproduziert sie jeweils eine Ansicht des janusköpfigen Gesichts, das Dalí dem Betrachter zeigt. Offenbar ist es ihm tatsächlich gelungen, sich hinter der lärmenden Veröffentlichung von Enthüllungen und Scheinenthüllungen unsichtbar zu machen.
Wie schwer sich die Kritik mit Dalí tut, zeigt der eigenartige Vorschlag von Günter Metken, „Dalí von dem Etikett ‚Surrealismus‘ zu lösen“. Der Gewaltstreich des Kritikers, der das Werk befreien möchte von dem, was ihm als Theorieballast erscheint, legt den Gedanken nahe, gerade hier könnte der Zugang zum Fall Dalí liegen. Schließlich malt Dalí seine bedeutendsten Bilder in den Jahren seiner Zusammenarbeit mit den Surrealisten.
Als Sohn eines angesehenen Notars in Figueras (Katalonien) am 11. Mai 1904 geboren, erhält Dalí auf der Kunstakademie in Madrid eine solide akademische Ausbildung, wendet sich früh dem Kubismus zu, erarbeitet sich aber gleichzeitig die Beherrschung altmeisterlicher Techniken (Der Brotkorb, 1926). Es gibt aus dieser Frühzeit einige vorzügliche Arbeiten. Das Junge Mädchen von hinten, vor einer kargen Küstenlandschaft sitzend, beeindruckt Picasso, der es in Dalís Atelier in Barcelona sieht. Doch bald wendet sich Dalí, angeregt durch de Chirico, Miró und Tanguy, einer surrealistisch inspirierten Malerei zu, siedelt 1929 nach Paris über, wo er schnell Kontakt zu den Surrealisten findet. Durch die Hinwendung zum Kommunismus hatte die Gruppe um André Breton prominente, wegen ihrer provokativen Aktivitäten wichtige Mitglieder wie Antonin Artaud verloren. Dalí vermochte die vakante Position einzunehmen und wurde zur treibenden Kraft der Bewegung.
Wie kein anderer surrealistischer Maler hat er mit seinen oftmals polemischen Schriften der dreißiger Jahre die programmatische Entwicklung und das Leben der Bewegung geprägt. Mehr noch als in den Texten Bretons aus derselben Zeit schwingt bei Dalí etwas von der Krise der Epoche mit. Seine Skizze einer Theorie der Verantwortungslosigkeit und die fröhliche Bejahung des „Klimas ideologischer und moralischer Verwirrung, in dem gegenwärtig zu leben wir die Ehre und die Freude haben“, schließlich der provokatorisch eingesetzte Akademismus – das alles wirkt wie eine halluzinatorische Vorwegnahme dessen, was wir mit dem hilflosen Begriff der Postmoderne bezeichnen.
Fasziniert von Freud, von Lacan und, natürlich, von Hitler
Früh macht Dalí im Surrealismus ein grundsätzliches Dilemma aus. Die Umwälzung aller Lebensverhältnisse soll durch Verfahren erreicht werden – automatisches Schreiben, Traumprotokolle –, die das Ich auf Passivität verpflichten. Zwischen den Intentionen und den Verfahren, die das Eintreten des Wunderbaren dem objektiven Zufall überlassen, besteht eine Kluft, die Dalí mit seiner „paranoisch-kritischen Methode“ glaubt schließen zu können. Sie beruht auf der menschlichen Fähigkeit, gegebene Formen mit Bedeutung zu belehnen. Der junge Dalí erprobt sie früh an den Felsen des Kap Creus, unweit von Cadaqués, wo die Dalís alljährlich ihre Ferien verbringen. „Alle Bilder, die beim Anblick der Felsen in der Vorstellung aufscheinen, transformieren sich in dem Maße, wie man näher herantritt oder weiter zurückgeht.“ Dieses schon von Leonardo da Vinci als Inspirationsquelle empfohlene Phänomen bringt Dalí auf den Gedanken, alle Interpretation sei letztlich Projektion von Bedeutung und als solche der Paranoia verwandt.
Besonders fasziniert ihn der systematische, konstruktive Aspekt der Paranoia: dass sie tendenziell alle Bereiche der Wirklichkeit ihrem wahnhaften Deutungssystem zu unterwerfen vermag. Ein an ihr ausgerichtetes Verfahren müsste daher geeignet sein, „zum Ruin der Wirklichkeit beizutragen“, schreibt er 1930 in seiner ersten surrealistischen Programmschrift Der Eselskadaver. Der rational geordneten, mit technischen Geräten ausgestatteten Welt der Moderne, die dem Realitätsprinzip gehorcht, setzt Dalí eine andere entgegen, eine pflanzlich wuchernde, in der das Lustprinzip gilt und selbst Uhren weiche Gebilde sind. Daher tritt er für den Jugendstil und die „paranoische“ Architektur Gaudís ein.
Eine Bestätigung für seine Methode konnte Dalí in der frühen Paranoia-Studie des Psychoanalytikers Jacques Lacan finden, die er bald nach ihrer Veröffentlichung im Jahre 1932 gelesen hatte. Für Lacan ist die Paranoia eine Verkennung (méconnaissance), setzt also Erkenntnis voraus. Er spricht daher von „paranoischer Erkenntnis“ und von den „fruchtbaren Augenblicken des Wahns“ – Begriffe, die Dalís Vorstellungen nahe stehen. Wenn die Wirklichkeit eine „erbärmliche geistige Ausflucht“ ist, wie Breton und Eluard formulieren, ein Konstrukt aus Diskursen, dann ist die Annahme plausibel, dass eine systematische Verwirrung der Diskurse revolutionäre Folgen haben kann. Anknüpfend an den Systematisierungswahn der Paranoia und ihre Produktion von Bedeutungen, so der Gedanke Dalís, müsste es möglich sein, den herkömmlichen Wirklichkeitsbegriff zu erschüttern und damit jene allgemeine Bewusstseinskrise heraufzuführen, von der das zweite surrealistische Manifest spricht.
Von hier lässt sich auch Dalís berüchtigte Faszination durch Hitler verstehen, der ihm zufolge ein tiefes, quasireligiöses Bedürfnis nach dem Irrationalen stillte. Die „kannibalische Raserei der moralischen und irrationalen Hungersnöte“, die einst der Katholizismus mit der „totemistischen Hostie“ befriedigt habe, suche frenetisch nach Befriedigung und finde sie – im Hitlerismus. Oder mit den Worten Dalís: in dem Wunsch, „in den fleischigen, atavistischen, zarten, militaristischen und territorialen Nacken einer beliebigen hitlerischen Amme zu beißen“. Mit dem Gestus des „Kritischen Paranoikers“ kann Dalí als Alternative dazu anbieten: „Man möge doch versuchen, auch Surrealitäten zu essen.“ Denn, so fährt er fort, den Gedanken ins Kannibalische wendend, genau genommen seien die Surrealisten weder Künstler noch Wissenschaftler, sondern „Kaviar, die Extravaganz und Intelligenz des Geschmacks“.
Die Metaphorik des Fressens und Gefressenwerdens durchzieht Dalís Texte auf eine derart aufdringliche Weise, dass sie in ein Beschreibungsverfahren geistiger wie ökonomisch-sozialer Zusammenhänge umschlägt. Während Breton Hegel und Engels zitiert, Autoren, die die Geschichte als vernünftige begreifen, stellt sie für Dalí ein gastrisches Geschehen dar, das einem einzigen Prinzip folgt: der Unersättlichkeit. Diese werde durch die rationalistische Kultur, „die Fastenzeit der Imagination“, ins Krankhafte getrieben.
Der Konflikt mit Breton war unvermeidlich, nachdem Dalí in einem Brief vorgeschlagen hatte, „Hitler aus surrealistischer Sicht einzuordnen“. Als Breton dann 1934 im Salon des Indépendants Dalís Bild Das Rätsel des Wilhelm Tell sieht, bekommt er einen Wutanfall. Dalí hatte Lenin mit riesenhaft verlängertem Hintern und weichem Mützenschirm als kannibalischen Vater dargestellt (auf dem Kopf des Kindes, das Lenin im Arm hält, ist ein Kotelett platziert, das Dalí im Sinne seiner Kannibalismusthese auslegt). Lenin als Menschenfresser Oger, das war eine ziemlich direkte Wiedergabe des bekannten Diktums „Die Revolution frisst ihre Kinder“. Breton betreibt daraufhin Dalís Ausschluss aus der Gruppe. In der entscheidenden Sitzung soll Dalí eine Szene gemacht haben. Socken und Unterhosen verlierend, kniet er vor Breton nieder wie vor dem Heiligen Sakrament und provoziert ein allgemeines Gelächter mit der Drohung: „Nun, Breton, wenn ich heute Nacht träume, dass ich Sie geliebt habe, werde ich morgen früh mit der größten Detailtreue unsere besten Liebesstellungen malen.“ Zum Ausschluss kommt es vorerst nicht.
Wiederholt charakterisiert sich Dalí als total unpolitischen Menschen, das hindert ihn aber nicht daran, das politische Geschehen der Zwischenkriegszeit mit wachen Sinnen zu verfolgen und kommende Katastrophen wie den spanischen Bürgerkrieg vorauszusehen. Seine Kannibalismusthese erweist sich dabei als äußerst produktiv, auch in künstlerischer Hinsicht. 1935 zeichnet er ein Studienblatt Vorahnung des Bürgerkriegs, das er 1936 als Bild ausführt: zwei einander tretende und würgende fragmentarische Menschenkörper mit nur einem schmerzverzerrten Kopf. Hinter einer riesigen, am Boden liegenden Hand sieht man winzig die Figur des suchenden Wissenschaftlers, der, den Blick zu Boden gesenkt, das scheußliche Geschehen nicht wahrzunehmen scheint.
Flucht in die Verausgabung, Tabubruch um jeden Preis
Die Paranoia ist ein Interpretationswahn, und so verwundert es nicht, dass Dalí die bildkünstlerische Realisierung seiner „paranoisch-kritischen Methode“ im Doppelbild sucht: in der „Darstellung eines Gegenstandes, die ohne die mindeste figürliche oder anatomische Veränderung gleichzeitig die Darstellung eines anderen, völlig verschiedenen Gegenstandes ist“. Ein einfaches Beispiel für dieses Verfahren ist die Zeichnung Paranoisch-kritisches Gesicht aus dem Jahre 1933, bei der die Nase aus einem Knochen, die Augen aus Löffeln, die Wange aus einem Kohlkopf, die Lippen aus zwei Koteletts und das Kinn aus einer ovalen Frucht gebildet sind. Ein Blatt wie dieses erinnert an die Köpfe des Mailänder Manieristen Giuseppe Arcimboldi. Doch während Arcimboldi eine geschlossene menschliche Kopfform wiedergibt, betont Dalí das bloße Nebeneinander der Elemente, indem er Lippen und Kinn mit einem Nagel verbindet. Das paranoische Subjekt, wie es hier in Erscheinung tritt, ist in jedem Augenblick vom Zerfall in seine Teile bedroht, zusammengehalten wird es einzig durch den Wahn, ein einheitliches zu sein. In dieser Auffassung des Subjekts steht Dalí derjenigen Lacans nahe, der gleichfalls von einer ursprünglichen Zerstückelungserfahrung ausgeht und das Einheitserlebnis des Menschenkindes als Ergebnis einer imaginären Spiegelung ansieht.
Dalí hat das Doppelbild zur höchsten Bedeutungskomplexität entwickelt. So wichtig ist ihm dieser Bildtypus, dass er seine Metamorphose des Narziß 1937 zu seinem Besuch bei Freud nach London mitnimmt, bei dem es ihm offensichtlich gelingt, Freuds ablehnende Haltung gegenüber dem Surrealismus zu erschüttern. Freilich sieht dieser auch, dass Dalí weniger aus dem Unbewussten schöpft, als vielmehr bewusst Motive der Psychoanalyse aufgreift.
In den zwanziger Jahren setzen die Surrealisten auf den objektiven Zufall und preisen die Langeweile als Zugang zum Wunderbaren. Dalí will sich damit nicht zufrieden geben. Er ist überzeugt, dass wir jederzeit die Bedeutungen, mit denen wir die Erscheinungsformen der Wirklichkeit belehnen, verändern können. Und dass diese Kunst der Metamorphose eine Metamorphose der Kunst heraufführen wird, die eines Tages, wer weiß, einen allgemeinen Taumel bewirken kann, ein Leben, nicht nach dem Gesetz der rationalistischen „Selbstbestrafung“, sondern nach dem Gesetz des Herzens. „Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels“ ist in Hegels Phänomenologie des Geistes jenes Kapitel überschrieben, das Lacan sehr genau gelesen und dem er seine Bestimmung des Wahnsinns entnommen hat. In nichts anderem bestehe der Wahnsinn als darin, dass das Ich sich urteilend der Welt als ganzer, an der es doch teilhat, meint entgegenstellen zu können. Dalí ist nicht wahnsinnig, vielmehr spielt er mit dem „Wahnsinn des Eigendünkels“. Die Beunruhigung, die noch heute von einigen seiner Texte und vielen seiner Zeichnungen und Bilder ausgeht, beruht darauf, dass unter bestimmten Bedingungen das gefährliche Spiel mit dem Wahnsinn ansteckend sein könnte.
Dalí, der 1989 starb, hat bisher noch keinen Ort in der Kunst des 20. Jahrhunderts gefunden. Immer wieder hat er verkündet, er sei das größte malerische Genie des Jahrhunderts – ein interpretationsbedürftiger Satz. Bedenkt man, dass Dalí Mitte der zwanziger Jahre mit eigenen Bildern auftritt, also zu einem Zeitpunkt, als alle wesentlichen Neuerungen der modernen Malerei bereits stattgefunden haben – Fauvismus, Expressionismus, Kubismus und Abstraktion –, dann liegt es nahe, den Satz ironisch zu verstehen. Er würde dann etwa sagen: Es gibt keine notwendige Malerei mehr und auch kein Genie in der Kunst; heute kann sich daher jeder als Genie bezeichnen. Versteht man den Satz in diesem Sinne, dann rückt Dalí in die Nähe Duchamps. Dem leisen Provokateur, der auf die Nachhaltigkeit seiner Wirkung bedacht ist, stünde der lärmende gegenüber, dem Schachspieler der Schauspieler. In Amerika ist Dalí einmal Duchamp begegnet. Dessen Produktionsverweigerung habe sogleich seine manische Produktionswut angestachelt, berichtet er. Die unglaubliche Produktivität Dalís wäre also als Reaktion zu begreifen, als Flucht in die Verausgabung, die den Zweifel an der Möglichkeit einer notwendigen Kunst zum Schweigen bringen soll.
Verausgabung ist einer der zentralen Begriffe des surrealistischen Dissidenten Georges Bataille. Von allen Künstlern, Literaten und Intellektuellen, die für kurze oder längere Zeit vom Surrealismus angezogen sind, dürfte keiner Dalí näher gewesen sein als Bataille, obwohl es zur engeren Beziehung nicht gekommen ist. Mit ihm verbindet Dalí der Wille zur Transgression, zum Tabubruch um jeden Preis. Beide wollen den Bretonschen Surrealismus überbieten. Beide setzen der rationalen ökonomischen Gesellschaftsanalyse ihre Begriffe entgegen, die individuelles und kollektives Handeln aus irrationalen Impulsen verstehen. Und beide lassen sich mimetisch auf das Phänomen Hitler ein. Erst zu Beginn des Zweiten Weltkriegs schlagen sie entgegengesetzte Wege ein. Während Bataille sich der mystischen „inneren Erfahrung“ zuwendet, wählt Dalí die totale Veräußerlichung, was man ihm bis heute nicht verziehen hat. Aber selbst im hemmungslosen Griff nach den Mitteln des Kitschs meint man noch die Verzweiflung eines Künstlers zu spüren, für den große Malerei Vergangenheit ist und der dennoch malen muss.
Der Romanist und Kunsthistoriker Peter Bürger lehrt an der Universität Bremen. Zuletzt erschien „Das Altern der Moderne“ (Suhrkamp Verlag)