Luni
29.01.2004, 12:41
Vor neun Jahren begann in Hamburg eine Ausstellung, die Deutschland veränderte. Sie löste eine Diskussion über Schuld und Verbrechen der Deutschen Wehrmacht aus. Sie wurde kritisiert und korrigiert, jetzt kehrt sie nach Hamburg zurück. Nobelpreisträger Imre Kertész gab ihr bei der gestrigen Eröffnung einen Sinn jenseits des Betroffenheitsrituals.
DPA
Nobelpreisträger Kertész: Weltordnung des Hasses, Weltordnung der Liebe
Hamburg - Gegen Abend setzt der Schneefall ein, auf den die Stadt den ganzen Tag gewartet hat. Die dicken Flocken fallen auf die Uniformen der sechs Polizisten, die frierend vor der Kampnagel-Fabrik in Hamburg Winterhude stehen.
Kampnagel. Waffenfabrik im Zweiten Weltkrieg. Heute ein Ort der Kunst, des Theaters. Ausgangspunkt einer Ausstellung, die "das Erinnern in Deutschland für immer verändert hat", wie es ihr Initiator Jan Philipp Reemtsma an diesem Abend mehrfach sagen wird. Ihr Titel: "Verbrechen der Wehrmacht", zusammengestellt vom Hamburger Institut für Sozialforschung, das der Unternehmer und Mäzen Reemtsma gegründet und finanziert hat.
Vor neun Jahren begann die Reise dieser Ausstellung hier in Hamburg. Damals schockierten die Fotos, die Verbrechen, die Dokumente die Öffentlichkeit: Wehrmachtssoldaten, nicht nur Angehörige der SS oder wenige Einzeltäter, hatten sich an einem Vernichtungskrieg im Osten beteiligt.
Dann kamen die Zweifel. Die Kritik. Nicht nur die dumpfen Proteste unter der Reichskriegsflagge. Nicht nur die glorifizierten Erinnerungen verbohrter Militaristen. Historiker fragten nach der Echtheit von Fotografien. Wissenschaftler bemängelten die Darstellung des Gezeigten. "Am Anfang hat keiner irgendeinem Kritiker etwas geglaubt - am Ende hat jeder jedem Kritiker alles geglaubt", fasst Reemtsma diese Diskussion zusammen.
Dies alles liegt an diesem Abend wie eine unsichtbare Folie über allem. Dazu gehört auch das Wissen, dass sich am kommenden Samstag in Hamburg wieder einige hundert Männer unter der Reichskriegsflagge versammeln werden, um "die Ehre des deutschen Soldaten zu verteidigen". Ihnen stellt Reemtsma nur einen Satz entgegen: "Ehre ist wie Schuld individuell - und wer seine Ehre aus der Zugehörigkeit zu einer Institution zieht, der muss auch das Schicksal dieser Organisation teilen."
Doch die Männer mit den schwarz-weiß-roten Flaggen, den kahlrasierten Schädeln und den schwarz glänzenden Stiefeln spielen heute nur virtuell eine Rolle. Sie sind Teil einer Geschichte, die vom Umgang eines Landes mit seinen Kriegsverbrechen erzählt.
Reemtsma erzählt diese Geschichte ebenso wie Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust, der an die Debatte um das "Tätervolk" erinnert - und dass man an ihr die Notwendigkeit erkennen könne, dass die Ausstellung weitergehen musste, nachdem sie 1999 unterbrochen und ihre Inhalte und Dokumente überprüft wurden.
REUTERS
Ausstellungsinitiator Reemtsma: Grenze zwischen Krieg und Verbrechen
Mitten in diesen Konsens der Anständigen, dass man nicht vergessen darf, dass diese Ausstellung natürlich wichtig ist, tritt ein weiterer Mann ans Mikrofon. Dieser Mann hat 2002 den Literaturnobelpreis bekommen. Für seine Bücher, die über das Erinnern erzählen und das Vergessen. Das Ausgelöscht werden. Imre Kertész war selbst in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald, er hat selbst das Unbeschreibliche gesehen - und später versucht, es aufzuschreiben. Kertész tritt an diesem Abend und erzählt von der Wohltat des Vergessens. Er habe "Ruhe gefunden", als er das Grauen in Worte gefasst hatte - "und ich gebe diese Ruhe nicht gerne auf", sagt der Ungar.
Aber er sagt auch, dass er diese Ruhe aufgeben musste, als er den Katalog der Ausstellung in die Hand nahm - und es ist in diesem Bericht etwas von dem Widerstand einer Psyche zu spüren, die keine Wiederkehr des Schreckens wünscht. Doch letztlich, so sagt Kertész, seien die Fragen, die die Schau aufwerfe, auch für ihn zu wichtig gewesen.
Eine davon lautet: Wie kann jemand an einem Tag bei seiner Frau und seinen Kinder sein, um am nächsten Tag Menschen, Frauen, Kinder, Alte, Junge "in die Grube zu schießen?", wie Kertész es formuliert.
Und er stellt eine Frage, die für einen Moment die würdige Gleichförmigkeit dieses Abends durchbricht: "Wozu", fragt Kertész, "brauchen wir diese zweite Ausstellung eigentlich noch?"
Vor neun Jahren sei sie aufrüttelnd gewesen, der Anstoß einer lange verdrängten, verschütteten Diskussion über die "Grenze von Krieg und Verbrechen", wie Reemtsma es sagt.
Aber heute? Da die Deutschen sich "dem eigenen Leiden zuwenden", so der ungarische Schriftsteller - den Feuerstürmen von Dresden und Hamburg, der Vertreibung?
DPA
Foto aus der Wehrmachtsausstellung, russische Kriegsgefangene vor dem Transport: Gegengewicht zum Wunsch, das eigene Leiden zu thematisieren
Er sehe in der Ausstellung auf Kampnagel "ein Gegengewicht" zu diesem Wunsch, den er verstehen könne, sagt Kertész.
Doch viel schwerer als dieses Gewicht wiegt ein anderes Argument in seiner Rede - nämlich die Antwort, die Kertész auf die Frage gibt, wie aus Familienväter Menschen werden, die andere Menschen "mit Lust" erschießen. Kertész nennt es "die finstere Kraft des Hasses". Und er spricht von einer "Weltordnung des Hasses und einer Weltordnung der Liebe". Und dann nennt er einen Grund, der die ritualisierte Notwendigkeit des Erinnerns mit Sinn füllt, mit bitterem, schonungslosem Sinn: "Wir leben immer noch in der Welt, in der die Verbrechen geschehen sind, die diese Ausstellung zeigt. Der Holocaust und die Kriegsverbrechen hätten sich nicht wiederholt - sondern fortgesetzt in einer Welt, deren gestaltende Kraft immer noch der Hass sei.
Jan Philipp Reemtsma hatte es anders gesagt und doch ganz ähnlich: Vielleicht sei der Widerstand derjenigen, die die Erinnerung an ihre Väter, Großväter und Brüder nicht beschmutzt sehen wollten, durch eine verdrängte Furcht bedingt - "durch die Angst zu erkennen, wie nah wir stets am Zusammenbruch der Zivilisiertheit stehen."
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Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,284045,00.html
Vielleicht sei der Widerstand derjenigen, die die Erinnerung an ihre Väter, Großväter und Brüder nicht beschmutzt sehen wollten, durch eine verdrängte Furcht bedingt
Naja, vieleicht auch einfach weil Sie die Erinnerung nicht beschmutzt sehen wollen....
DPA
Nobelpreisträger Kertész: Weltordnung des Hasses, Weltordnung der Liebe
Hamburg - Gegen Abend setzt der Schneefall ein, auf den die Stadt den ganzen Tag gewartet hat. Die dicken Flocken fallen auf die Uniformen der sechs Polizisten, die frierend vor der Kampnagel-Fabrik in Hamburg Winterhude stehen.
Kampnagel. Waffenfabrik im Zweiten Weltkrieg. Heute ein Ort der Kunst, des Theaters. Ausgangspunkt einer Ausstellung, die "das Erinnern in Deutschland für immer verändert hat", wie es ihr Initiator Jan Philipp Reemtsma an diesem Abend mehrfach sagen wird. Ihr Titel: "Verbrechen der Wehrmacht", zusammengestellt vom Hamburger Institut für Sozialforschung, das der Unternehmer und Mäzen Reemtsma gegründet und finanziert hat.
Vor neun Jahren begann die Reise dieser Ausstellung hier in Hamburg. Damals schockierten die Fotos, die Verbrechen, die Dokumente die Öffentlichkeit: Wehrmachtssoldaten, nicht nur Angehörige der SS oder wenige Einzeltäter, hatten sich an einem Vernichtungskrieg im Osten beteiligt.
Dann kamen die Zweifel. Die Kritik. Nicht nur die dumpfen Proteste unter der Reichskriegsflagge. Nicht nur die glorifizierten Erinnerungen verbohrter Militaristen. Historiker fragten nach der Echtheit von Fotografien. Wissenschaftler bemängelten die Darstellung des Gezeigten. "Am Anfang hat keiner irgendeinem Kritiker etwas geglaubt - am Ende hat jeder jedem Kritiker alles geglaubt", fasst Reemtsma diese Diskussion zusammen.
Dies alles liegt an diesem Abend wie eine unsichtbare Folie über allem. Dazu gehört auch das Wissen, dass sich am kommenden Samstag in Hamburg wieder einige hundert Männer unter der Reichskriegsflagge versammeln werden, um "die Ehre des deutschen Soldaten zu verteidigen". Ihnen stellt Reemtsma nur einen Satz entgegen: "Ehre ist wie Schuld individuell - und wer seine Ehre aus der Zugehörigkeit zu einer Institution zieht, der muss auch das Schicksal dieser Organisation teilen."
Doch die Männer mit den schwarz-weiß-roten Flaggen, den kahlrasierten Schädeln und den schwarz glänzenden Stiefeln spielen heute nur virtuell eine Rolle. Sie sind Teil einer Geschichte, die vom Umgang eines Landes mit seinen Kriegsverbrechen erzählt.
Reemtsma erzählt diese Geschichte ebenso wie Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust, der an die Debatte um das "Tätervolk" erinnert - und dass man an ihr die Notwendigkeit erkennen könne, dass die Ausstellung weitergehen musste, nachdem sie 1999 unterbrochen und ihre Inhalte und Dokumente überprüft wurden.
REUTERS
Ausstellungsinitiator Reemtsma: Grenze zwischen Krieg und Verbrechen
Mitten in diesen Konsens der Anständigen, dass man nicht vergessen darf, dass diese Ausstellung natürlich wichtig ist, tritt ein weiterer Mann ans Mikrofon. Dieser Mann hat 2002 den Literaturnobelpreis bekommen. Für seine Bücher, die über das Erinnern erzählen und das Vergessen. Das Ausgelöscht werden. Imre Kertész war selbst in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald, er hat selbst das Unbeschreibliche gesehen - und später versucht, es aufzuschreiben. Kertész tritt an diesem Abend und erzählt von der Wohltat des Vergessens. Er habe "Ruhe gefunden", als er das Grauen in Worte gefasst hatte - "und ich gebe diese Ruhe nicht gerne auf", sagt der Ungar.
Aber er sagt auch, dass er diese Ruhe aufgeben musste, als er den Katalog der Ausstellung in die Hand nahm - und es ist in diesem Bericht etwas von dem Widerstand einer Psyche zu spüren, die keine Wiederkehr des Schreckens wünscht. Doch letztlich, so sagt Kertész, seien die Fragen, die die Schau aufwerfe, auch für ihn zu wichtig gewesen.
Eine davon lautet: Wie kann jemand an einem Tag bei seiner Frau und seinen Kinder sein, um am nächsten Tag Menschen, Frauen, Kinder, Alte, Junge "in die Grube zu schießen?", wie Kertész es formuliert.
Und er stellt eine Frage, die für einen Moment die würdige Gleichförmigkeit dieses Abends durchbricht: "Wozu", fragt Kertész, "brauchen wir diese zweite Ausstellung eigentlich noch?"
Vor neun Jahren sei sie aufrüttelnd gewesen, der Anstoß einer lange verdrängten, verschütteten Diskussion über die "Grenze von Krieg und Verbrechen", wie Reemtsma es sagt.
Aber heute? Da die Deutschen sich "dem eigenen Leiden zuwenden", so der ungarische Schriftsteller - den Feuerstürmen von Dresden und Hamburg, der Vertreibung?
DPA
Foto aus der Wehrmachtsausstellung, russische Kriegsgefangene vor dem Transport: Gegengewicht zum Wunsch, das eigene Leiden zu thematisieren
Er sehe in der Ausstellung auf Kampnagel "ein Gegengewicht" zu diesem Wunsch, den er verstehen könne, sagt Kertész.
Doch viel schwerer als dieses Gewicht wiegt ein anderes Argument in seiner Rede - nämlich die Antwort, die Kertész auf die Frage gibt, wie aus Familienväter Menschen werden, die andere Menschen "mit Lust" erschießen. Kertész nennt es "die finstere Kraft des Hasses". Und er spricht von einer "Weltordnung des Hasses und einer Weltordnung der Liebe". Und dann nennt er einen Grund, der die ritualisierte Notwendigkeit des Erinnerns mit Sinn füllt, mit bitterem, schonungslosem Sinn: "Wir leben immer noch in der Welt, in der die Verbrechen geschehen sind, die diese Ausstellung zeigt. Der Holocaust und die Kriegsverbrechen hätten sich nicht wiederholt - sondern fortgesetzt in einer Welt, deren gestaltende Kraft immer noch der Hass sei.
Jan Philipp Reemtsma hatte es anders gesagt und doch ganz ähnlich: Vielleicht sei der Widerstand derjenigen, die die Erinnerung an ihre Väter, Großväter und Brüder nicht beschmutzt sehen wollten, durch eine verdrängte Furcht bedingt - "durch die Angst zu erkennen, wie nah wir stets am Zusammenbruch der Zivilisiertheit stehen."
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Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,284045,00.html
Vielleicht sei der Widerstand derjenigen, die die Erinnerung an ihre Väter, Großväter und Brüder nicht beschmutzt sehen wollten, durch eine verdrängte Furcht bedingt
Naja, vieleicht auch einfach weil Sie die Erinnerung nicht beschmutzt sehen wollen....