Kommissär
23.01.2004, 09:12
Der Zeit-Vertrieb FACTS 04/2004, 22.1.04
Eine Stunde Gartenarbeit gegen eine Stunde Bügeln: In der Schweiz floriert der geldfreie Handel. In Zirkeln treffen sich Gleichgesinnte.
Von Stephanie Riedi
Andreas Mäder liebt Gartenarbeit. Er buddelt gerne in der Erde, mag den Duft von frisch gemähtem Gras und den Anblick gestutzter Hecken. Mäder wohnt jedoch in einer Mietwohnung, zu der bloss ein kleiner Balkon gehört. Es stünde schlecht um seine Passion, hätte er vor zwei Jahren nicht das Tauschnetz Luzern entdeckt. Dort ist sein grüner Daumen gefragt, und Mäder kann sich im Gegenzug ab und an vom lästigen Bügeln befreien. Das übernimmt jetzt Mitglied Mia.
Gartenarbeit gegen Bügeln gegen Massage gegen Steuerberatung: Das Tauschnetz-Prinzip ist simpel. Wo mehr als zwei Händepaare im Spiel sind, können Angehörige des Netzwerks kreuz und quer tauschen. Zeit ersetzt Geld. Eine Stunde Babysitten ist gleich viel Wert wie eine Stunde Arabischunterricht. Die geleisteten und empfangenen Dienste werden einem Konto gutgeschrieben beziehungsweise abgezogen.
Der Tauschhandel floriert. Im Jahr 2002 registrierte die Luzerner Zentrale 90 Mitglieder. Heute sind es über 300. «Rezession, Lohnkürzungen, Arbeitslosigkeit sind mit ein Grund, dass sich immer mehr Leute für unser Netz interessieren», sagt Mäder, der heute im Vorstand des Vereins sitzt. Das Tauschnetz wurde vergangenes Jahr von der Stiftung Luzern – Lebensraum für die Zukunft mit dem Förderpreis im Wert von 40'000 Franken ausgezeichnet.
Nicht nur in Luzern, in der ganzen Schweiz reaktivieren Menschen in lokalen Zirkeln die Tauschwirtschaft. Über 30 finden sich im Internet. Ihre Welt wächst, in der unabhängig von der Geldökonomie Dienstleistung und Waren gehandelt werden. Noch geht es den meisten Menschen hier zu Lande gut. Doch eine neue Studie der Caritas zeigt, dass heute zwei Drittel der Schweizer weniger Vermögen haben als 1990.
Die weltweite Rezession wirft die Menschen zurück auf den Anfang der Wirtschaft: den Tauschhandel. Rund um den Globus sind 2500 Gruppen mit lokalen Eigenwährungen bekannt. In Argentinien hat der Tauschhandel immense Bedeutung erlangt im Kampf ums Überleben. Im sechsten Jahr des wirtschaftlichen Krebsgangs hat ein Grossteil der Bevölkerung kaum mehr Pesos in den Taschen. Über 4000 Märkte gibt es im ganzen Land. Rund 2,5 Millionen Menschen bezahlen in Geschäften, auf Märkten und in Bildungsstätten in einer Nebenwährung, dem
Credito. Das sind etwa 15 Prozent der Erwerbstätigen. Schätzungen zufolge sollen über zehn Millionen Argentinier die Tauschzirkel sporadisch nutzen. In Deutschland gehören rund 40'000 Personen verschiedenen Tauschringen an. In Frankreich gibt es ganze Landstriche, in denen Bauern, Mitglieder der Grain de Sel, bis zu 40 Prozent ihres Lebensunterhalts durch Tauschhandel abdecken. Vergleichbare Zahlen für die Schweiz wurden bislang nicht eruiert.
In Zeiten kollapsgefährdeter Wohlfahrtssysteme bietet die Konjunktur des geldlosen Handels nicht nur die Möglichkeit, sich das eine oder andere zu gönnen, was man sich sonst nicht leisten könnte. Die Gib-und-nimm-Familie versteht sich auch als eine Form der erweiterten Nachbarschaftshilfe. Soziale Kontakte werden geknüpft, Fähigkeiten aufgewertet, die heute mit Geld nicht gerecht oder aus Geringschätzung gar nicht entschädigt werden.
Selbst unter Ökonomen geniessen die Tauschringe mittlerweile eine gewisse Bewunderung. «Ein interessanter Ansatz», sagt etwa Franz Jaeger, Ökonomie-Professor an der Universität Sankt Gallen. Ihn beeindruckt vor allem die soziale Komponente. Und: «Dadurch werden wirtschaftliche Aktivitäten ausgelöst, die sonst nicht stattfänden.»
In der Tat sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Davon zeugen die Anzeigen in den diversen Marktzeitungen, die von den Gruppen publiziert werden. Ausser handwerklichen Fähigkeiten, Sprachkenntnissen, Computer-Fachwissen findet sich auch Originelles wie: «Bereichere Ihren Anlass mit meinen Klängen auf dem Appenzeller Hackbrett.» Oder: «Kleine indische Laufenten aus Naturbrut. Sie fressen gerne Schnecken. An Tier- und Gartenliebhaber abzugeben.»
Nicht jedes Angebot findet jedoch Abnehmer. «Ich bezweifle, dass Gotthelf-Lesungen gefragt sind», sagt Mäder, auf ein Inserat in der Tauschnetz-Marktzeitung weisend. Bei Misserfolg gilt es umzusatteln oder mit weiteren Offerten aufzuwarten. Viele entdecken dabei neue Talente. Mäder selber bietet ausser Gartenarbeit Beratung in Öffentlichkeitsarbeit, oder er räumt Keller aus. Als Vorstandsmitglied versucht er auch, regelmässig am wöchentlichen Tauschnetz-Treff teilzunehmen. Solche Stammtische werden in den meisten Zirkeln zelebriert.
So auch bei der Guppe Lets. Der Name stammt aus Grossbritannien, wo die Local Exchange Trading Systems seit den Achtzigerjahren bekannt und in über 200 Gemeinden und Städten mit mehr als 40'000 Mitgliedern vertreten sind. Die Zürcher Lets-Gemeinde wollte sich zunächst auf zwei Stadtkreise beschränken. Doch interessieren sich Bewohner aus dem ganzen Stadtgebiet für Lets. «Wir zählen zurzeit 60 Mitglieder und sind in einer Wachstumsphase», heisst es selbstbewusst auf der Lets-Homepage.
Elsbeth Baumann ist seit der Gründung vor fünf Jahren bei Lets dabei. «Mich packte die Idee sofort», erzählt die umtriebige Rentnerin. Sie lässt sich gerne massieren und bietet als Gegenleistung Näh-, Flick- und Strickarbeiten an, Altersturnen und Augentraining. Am wichtigsten sei das Beziehungsnetz, sagt Baumann. Kontakte knüpfen und pflegen, das ist oberstes Ziel von Lets Zürich.
Wesentlich ehrgeizigere Pläne verfolgen andere Tauschring-Mitglieder: Sie wollen eine Alternative schaffen zur traditionellen Wirtschaft mit ihrem Wachstumszwang. «Der Tauschring beseitigt die Abhängigkeit von Kapital und führt zu einem reflektierteren Umgang mit Geld», schreiben zum Beispiel die Initianten des Luzerner Tauschnetzes in ihrem Infoblatt. Und weiter: «Die exponentiell steigende Verschuldungs-Problematik infolge des Zinssystems wird eliminiert.»
Auch der schweizweit operierende Verein Talent wurde 1992 von der Initiative für eine natürliche Wirtschaftsordnung (Inwo) Schweiz als Experiment initiiert, sozusagen ein Gegenmodell zur gewinnorientierten Wirtschaft. «Unsere Währung Talent soll nicht wie Geld gehortet werden», sagt Talent-Präsidentin Ursula Dold, deren Verein heute rund 350 Mitglieder zählt. Deshalb habe man eine Umlaufsicherung eingerichtet, ein System, das die Leute anspornen soll, angehäufte Talente schnellstmöglich in den Umlauf zu bringen. «Der beste Kontostand ist null», meint Dold.
Die Idee geht zurück bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. Damals proklamierte ein Häufchen couragierter Sozialreformer im Kampf gegen das soziale Ungleichgewicht die Abschaffung der Zinswirtschaft. 1916 erschien in Bern erstmals das Buch «Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld» des deutschargentinischen Kaufmanns Silvio Gesell (1862–1930). Gesell wollte nichts weniger als den Geldbegriff umstülpen. Kapitalbesitzer, die mehr Geld anhäufen, als sie ausgeben können, so überlegte der Revolutionär, sollten dafür nicht noch mit Zinsen belohnt werden. Im Gegenteil: Sie müssten für ungenutztes Geld Gebühren zahlen, ihr Guthaben erführe eine Wertminderung. Damit wären Schuldenkrisen, Inflation und Spekulation aus der Welt geschafft.
Gesells Theorie fand Anhänger. Unter ihnen Michael Unterguggenberger, Bürgermeister der Tiroler Stadt Wörgl. Kurzerhand führte er 1932 die gesellsche Schwundwährung ein. Eigenes Geld wurde gedruckt mit dem Ziel, es regelmässig zu entwerten. Niemand wollte darauf sitzen bleiben. Prompt kam Wörgls Wirtschaft in Schwung. Die Kleinstadt konnte sich mitten in der Weltwirtschaftskrise ein Schwimmbad und eine Brücke leisten. Solches blieb nicht unentdeckt. Der französische Ministerpräsident Edouard Daladier reiste an, und eine Hundertschaft von österreichischen Bürgermeistern waren entschlossen, sich dem Experiment anzuschliessen. Doch kaum ein Jahr später kam das Aus. Die österreichische Bundesbank blies zum Halali, aufgeschreckt durch die unerwartete Konkurrenz. Per Gerichtsentscheid wurde das Modell Wörgl eingestellt. Der Zweite Weltkrieg tat sein Übriges: Gesell samt Schwundgeldtheorie gerieten in Vergessenheit.
Ende des letzten Jahrhunderts kam die Idee in Nordamerika und England wieder auf, 1992 schwappte die Tauschwelle in die Schweiz. Die Medien begannen über geldlose Handelszirkel zu berichten. Damals gab man sich noch belustigt. «Manchmal sah man uns als blauäugige Spinner oder Träumer», sagt Talent-Präsidentin Dold, deren alternativ wirtschaftspolitisch ausgerichteter Verein besonders belächelt wurde.
Heute zeigt sich, dass Talent im Vergleich zu anderen Tauschbörsen etwas kulturell Wichtiges erkannt hat: Im Gegensatz zum Tauschnetz Luzern und Lets in Zürich kann bei Talent jeder selber aushandeln, wie viel der Eigenwährung er für seine Dienstleistung oder Ware haben will. Im Gleichstellungsprinzip der Leistungen sieht Ökonomie-Professor Franz Jaeger die Crux der meisten Tauschorganisationen. «Es ist ganz klar, dass gewisse Wertschöpfungen, gemessen in Zeiteinheiten, höher eingeschätzt werden, sowohl von Individuen als auch von Firmen.» Eine Übertragung auf ein breites wirtschaftliches Feld sei deshalb undenkbar. Ein solches System könne höchstens subsidiäre Bedeutung erlangen. «Eine Zeiteinheit von Roger Federer ist nun einmal eine andere Zeiteinheit als jene einer Putzkraft.»
Anderseits müssen Talent-Mitglieder Misserfolge in Kauf nehmen, wenn sie allzu gierig sind. «Wer eine Putzhilfe eins zu eins mit dem Frankenpreis abspeisen will, findet einfach keine», weiss Dold. Sie spricht aus Erfahrung. Im Auftrag eines Mitglieds buk sie Weihnachtsguetsli. Hinterher gab es eine Diskussion, wie viel Wert den Süssigkeiten innewohnte. «Eine Stunde Arbeit ist eine Stunde Lebenszeit», argumentierte Dold. Die beiden verhandelten und einigten sich wie auf einem orientalischen Basar.
Feilschen kann man beim Tauschnetz Luzern allenfalls mit Waren. «Wir haben bewusst das Gleichstellungsprinzip gewählt», sagt Andreas Mäder. Der Lebensunterhalt lässt sich sowieso nicht mit Tauschhandel bestreiten. Durch das gleichwertige Abgelten von Dienstleistungen hofft man vor allem, das Selbstbewusstsein jener wieder aufzubauen, die mangels Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt worden sind. Mäder: «Von der Sozialhilfe abhängig zu werden, ist heute keine Frage der Ausbildung mehr. Es kann jeden treffen.»
Quelle: http://www.facts.ch/facts/factsArtikel?artikelid=341728&rubrikid=782 und in der aktuellen Print Ausgabe.
Eine Stunde Gartenarbeit gegen eine Stunde Bügeln: In der Schweiz floriert der geldfreie Handel. In Zirkeln treffen sich Gleichgesinnte.
Von Stephanie Riedi
Andreas Mäder liebt Gartenarbeit. Er buddelt gerne in der Erde, mag den Duft von frisch gemähtem Gras und den Anblick gestutzter Hecken. Mäder wohnt jedoch in einer Mietwohnung, zu der bloss ein kleiner Balkon gehört. Es stünde schlecht um seine Passion, hätte er vor zwei Jahren nicht das Tauschnetz Luzern entdeckt. Dort ist sein grüner Daumen gefragt, und Mäder kann sich im Gegenzug ab und an vom lästigen Bügeln befreien. Das übernimmt jetzt Mitglied Mia.
Gartenarbeit gegen Bügeln gegen Massage gegen Steuerberatung: Das Tauschnetz-Prinzip ist simpel. Wo mehr als zwei Händepaare im Spiel sind, können Angehörige des Netzwerks kreuz und quer tauschen. Zeit ersetzt Geld. Eine Stunde Babysitten ist gleich viel Wert wie eine Stunde Arabischunterricht. Die geleisteten und empfangenen Dienste werden einem Konto gutgeschrieben beziehungsweise abgezogen.
Der Tauschhandel floriert. Im Jahr 2002 registrierte die Luzerner Zentrale 90 Mitglieder. Heute sind es über 300. «Rezession, Lohnkürzungen, Arbeitslosigkeit sind mit ein Grund, dass sich immer mehr Leute für unser Netz interessieren», sagt Mäder, der heute im Vorstand des Vereins sitzt. Das Tauschnetz wurde vergangenes Jahr von der Stiftung Luzern – Lebensraum für die Zukunft mit dem Förderpreis im Wert von 40'000 Franken ausgezeichnet.
Nicht nur in Luzern, in der ganzen Schweiz reaktivieren Menschen in lokalen Zirkeln die Tauschwirtschaft. Über 30 finden sich im Internet. Ihre Welt wächst, in der unabhängig von der Geldökonomie Dienstleistung und Waren gehandelt werden. Noch geht es den meisten Menschen hier zu Lande gut. Doch eine neue Studie der Caritas zeigt, dass heute zwei Drittel der Schweizer weniger Vermögen haben als 1990.
Die weltweite Rezession wirft die Menschen zurück auf den Anfang der Wirtschaft: den Tauschhandel. Rund um den Globus sind 2500 Gruppen mit lokalen Eigenwährungen bekannt. In Argentinien hat der Tauschhandel immense Bedeutung erlangt im Kampf ums Überleben. Im sechsten Jahr des wirtschaftlichen Krebsgangs hat ein Grossteil der Bevölkerung kaum mehr Pesos in den Taschen. Über 4000 Märkte gibt es im ganzen Land. Rund 2,5 Millionen Menschen bezahlen in Geschäften, auf Märkten und in Bildungsstätten in einer Nebenwährung, dem
Credito. Das sind etwa 15 Prozent der Erwerbstätigen. Schätzungen zufolge sollen über zehn Millionen Argentinier die Tauschzirkel sporadisch nutzen. In Deutschland gehören rund 40'000 Personen verschiedenen Tauschringen an. In Frankreich gibt es ganze Landstriche, in denen Bauern, Mitglieder der Grain de Sel, bis zu 40 Prozent ihres Lebensunterhalts durch Tauschhandel abdecken. Vergleichbare Zahlen für die Schweiz wurden bislang nicht eruiert.
In Zeiten kollapsgefährdeter Wohlfahrtssysteme bietet die Konjunktur des geldlosen Handels nicht nur die Möglichkeit, sich das eine oder andere zu gönnen, was man sich sonst nicht leisten könnte. Die Gib-und-nimm-Familie versteht sich auch als eine Form der erweiterten Nachbarschaftshilfe. Soziale Kontakte werden geknüpft, Fähigkeiten aufgewertet, die heute mit Geld nicht gerecht oder aus Geringschätzung gar nicht entschädigt werden.
Selbst unter Ökonomen geniessen die Tauschringe mittlerweile eine gewisse Bewunderung. «Ein interessanter Ansatz», sagt etwa Franz Jaeger, Ökonomie-Professor an der Universität Sankt Gallen. Ihn beeindruckt vor allem die soziale Komponente. Und: «Dadurch werden wirtschaftliche Aktivitäten ausgelöst, die sonst nicht stattfänden.»
In der Tat sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Davon zeugen die Anzeigen in den diversen Marktzeitungen, die von den Gruppen publiziert werden. Ausser handwerklichen Fähigkeiten, Sprachkenntnissen, Computer-Fachwissen findet sich auch Originelles wie: «Bereichere Ihren Anlass mit meinen Klängen auf dem Appenzeller Hackbrett.» Oder: «Kleine indische Laufenten aus Naturbrut. Sie fressen gerne Schnecken. An Tier- und Gartenliebhaber abzugeben.»
Nicht jedes Angebot findet jedoch Abnehmer. «Ich bezweifle, dass Gotthelf-Lesungen gefragt sind», sagt Mäder, auf ein Inserat in der Tauschnetz-Marktzeitung weisend. Bei Misserfolg gilt es umzusatteln oder mit weiteren Offerten aufzuwarten. Viele entdecken dabei neue Talente. Mäder selber bietet ausser Gartenarbeit Beratung in Öffentlichkeitsarbeit, oder er räumt Keller aus. Als Vorstandsmitglied versucht er auch, regelmässig am wöchentlichen Tauschnetz-Treff teilzunehmen. Solche Stammtische werden in den meisten Zirkeln zelebriert.
So auch bei der Guppe Lets. Der Name stammt aus Grossbritannien, wo die Local Exchange Trading Systems seit den Achtzigerjahren bekannt und in über 200 Gemeinden und Städten mit mehr als 40'000 Mitgliedern vertreten sind. Die Zürcher Lets-Gemeinde wollte sich zunächst auf zwei Stadtkreise beschränken. Doch interessieren sich Bewohner aus dem ganzen Stadtgebiet für Lets. «Wir zählen zurzeit 60 Mitglieder und sind in einer Wachstumsphase», heisst es selbstbewusst auf der Lets-Homepage.
Elsbeth Baumann ist seit der Gründung vor fünf Jahren bei Lets dabei. «Mich packte die Idee sofort», erzählt die umtriebige Rentnerin. Sie lässt sich gerne massieren und bietet als Gegenleistung Näh-, Flick- und Strickarbeiten an, Altersturnen und Augentraining. Am wichtigsten sei das Beziehungsnetz, sagt Baumann. Kontakte knüpfen und pflegen, das ist oberstes Ziel von Lets Zürich.
Wesentlich ehrgeizigere Pläne verfolgen andere Tauschring-Mitglieder: Sie wollen eine Alternative schaffen zur traditionellen Wirtschaft mit ihrem Wachstumszwang. «Der Tauschring beseitigt die Abhängigkeit von Kapital und führt zu einem reflektierteren Umgang mit Geld», schreiben zum Beispiel die Initianten des Luzerner Tauschnetzes in ihrem Infoblatt. Und weiter: «Die exponentiell steigende Verschuldungs-Problematik infolge des Zinssystems wird eliminiert.»
Auch der schweizweit operierende Verein Talent wurde 1992 von der Initiative für eine natürliche Wirtschaftsordnung (Inwo) Schweiz als Experiment initiiert, sozusagen ein Gegenmodell zur gewinnorientierten Wirtschaft. «Unsere Währung Talent soll nicht wie Geld gehortet werden», sagt Talent-Präsidentin Ursula Dold, deren Verein heute rund 350 Mitglieder zählt. Deshalb habe man eine Umlaufsicherung eingerichtet, ein System, das die Leute anspornen soll, angehäufte Talente schnellstmöglich in den Umlauf zu bringen. «Der beste Kontostand ist null», meint Dold.
Die Idee geht zurück bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. Damals proklamierte ein Häufchen couragierter Sozialreformer im Kampf gegen das soziale Ungleichgewicht die Abschaffung der Zinswirtschaft. 1916 erschien in Bern erstmals das Buch «Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld» des deutschargentinischen Kaufmanns Silvio Gesell (1862–1930). Gesell wollte nichts weniger als den Geldbegriff umstülpen. Kapitalbesitzer, die mehr Geld anhäufen, als sie ausgeben können, so überlegte der Revolutionär, sollten dafür nicht noch mit Zinsen belohnt werden. Im Gegenteil: Sie müssten für ungenutztes Geld Gebühren zahlen, ihr Guthaben erführe eine Wertminderung. Damit wären Schuldenkrisen, Inflation und Spekulation aus der Welt geschafft.
Gesells Theorie fand Anhänger. Unter ihnen Michael Unterguggenberger, Bürgermeister der Tiroler Stadt Wörgl. Kurzerhand führte er 1932 die gesellsche Schwundwährung ein. Eigenes Geld wurde gedruckt mit dem Ziel, es regelmässig zu entwerten. Niemand wollte darauf sitzen bleiben. Prompt kam Wörgls Wirtschaft in Schwung. Die Kleinstadt konnte sich mitten in der Weltwirtschaftskrise ein Schwimmbad und eine Brücke leisten. Solches blieb nicht unentdeckt. Der französische Ministerpräsident Edouard Daladier reiste an, und eine Hundertschaft von österreichischen Bürgermeistern waren entschlossen, sich dem Experiment anzuschliessen. Doch kaum ein Jahr später kam das Aus. Die österreichische Bundesbank blies zum Halali, aufgeschreckt durch die unerwartete Konkurrenz. Per Gerichtsentscheid wurde das Modell Wörgl eingestellt. Der Zweite Weltkrieg tat sein Übriges: Gesell samt Schwundgeldtheorie gerieten in Vergessenheit.
Ende des letzten Jahrhunderts kam die Idee in Nordamerika und England wieder auf, 1992 schwappte die Tauschwelle in die Schweiz. Die Medien begannen über geldlose Handelszirkel zu berichten. Damals gab man sich noch belustigt. «Manchmal sah man uns als blauäugige Spinner oder Träumer», sagt Talent-Präsidentin Dold, deren alternativ wirtschaftspolitisch ausgerichteter Verein besonders belächelt wurde.
Heute zeigt sich, dass Talent im Vergleich zu anderen Tauschbörsen etwas kulturell Wichtiges erkannt hat: Im Gegensatz zum Tauschnetz Luzern und Lets in Zürich kann bei Talent jeder selber aushandeln, wie viel der Eigenwährung er für seine Dienstleistung oder Ware haben will. Im Gleichstellungsprinzip der Leistungen sieht Ökonomie-Professor Franz Jaeger die Crux der meisten Tauschorganisationen. «Es ist ganz klar, dass gewisse Wertschöpfungen, gemessen in Zeiteinheiten, höher eingeschätzt werden, sowohl von Individuen als auch von Firmen.» Eine Übertragung auf ein breites wirtschaftliches Feld sei deshalb undenkbar. Ein solches System könne höchstens subsidiäre Bedeutung erlangen. «Eine Zeiteinheit von Roger Federer ist nun einmal eine andere Zeiteinheit als jene einer Putzkraft.»
Anderseits müssen Talent-Mitglieder Misserfolge in Kauf nehmen, wenn sie allzu gierig sind. «Wer eine Putzhilfe eins zu eins mit dem Frankenpreis abspeisen will, findet einfach keine», weiss Dold. Sie spricht aus Erfahrung. Im Auftrag eines Mitglieds buk sie Weihnachtsguetsli. Hinterher gab es eine Diskussion, wie viel Wert den Süssigkeiten innewohnte. «Eine Stunde Arbeit ist eine Stunde Lebenszeit», argumentierte Dold. Die beiden verhandelten und einigten sich wie auf einem orientalischen Basar.
Feilschen kann man beim Tauschnetz Luzern allenfalls mit Waren. «Wir haben bewusst das Gleichstellungsprinzip gewählt», sagt Andreas Mäder. Der Lebensunterhalt lässt sich sowieso nicht mit Tauschhandel bestreiten. Durch das gleichwertige Abgelten von Dienstleistungen hofft man vor allem, das Selbstbewusstsein jener wieder aufzubauen, die mangels Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt worden sind. Mäder: «Von der Sozialhilfe abhängig zu werden, ist heute keine Frage der Ausbildung mehr. Es kann jeden treffen.»
Quelle: http://www.facts.ch/facts/factsArtikel?artikelid=341728&rubrikid=782 und in der aktuellen Print Ausgabe.