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Vollständige Version anzeigen : Heute schlimmer als im Mittelalter



Grosshimrinde
31.03.2006, 12:40
Im Jahre 1271 gab es an der Universität von Paris ein großes concilium, eine Mischung aus Wissenschaftskongreß und Kriminalprozeß, bei dem auch der berühmte Thomas von Aquin anwesend war. Angeklagt war ein Kollege und Mitbruder des Thomas, Siger von Brabant, der seinen Studenten – so die verbreitete Ansicht – schlimme Irrlehren beibrachte und sogar ein höchst anstößiges Buch mit dem Titel De aeternitate mundi (Von der Ewigkeit der Welt) geschrieben hatte. Eine Abrechnung mit ihm schien überfällig. Der Andrang zum Verhandlungssaal war gewaltig.

Siger hatte den arabischen Philosophen und Aristoteles-Übersetzer Averroes, damals absolutes Wissenschaftlervorbild im Abend- wie im Morgenland, völlig falsch, nämlich unchristlich und kirchenwidrig, ausgelegt, hatte u.a. behauptet, es gäbe keine göttliche Schöpfung, die Welt sei unerschaffen und immer schon dagewesen. Die Wellen der Empörung gingen hoch. Schließlich ergriff auch der große Thomas das Wort und wies in machtvoller Rede nach, daß Bruder Siger weder von Averroes noch von Aristoteles einen ordentlichen Begriff habe. Das Auditorium lachte und klatschte beifällig.

Der Mann aus Brabant wurde unter der Macht der öffentlichen Unmutsbekundungen gegen ihn ganz klein, sagte, er habe sich in seinem Buch tatsächlich schwer geirrt, die neueren Forschungen, insbesondere die von Bruder Thomas, hätten ihn inzwischen von seinem Irrtum vollständig überzeugt, es tue ihm leid, er sei beschämt. Daraufhin beruhigten sich Publikum, Kollegen- und Pfaffenschaft. Es wurde beschlossen, das Buch des Siger auf dem Hof der Universität öffentlich zu verbrennen. Dem Buchautor selbst freilich passierte nichts. Er verlor nicht einmal seine Lehrbefugnis.
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David Irving, der britische Historiker, hat im Jahr 2006 in Wien bekanntlich weniger Glück gehabt. Er hatte bei einem Vortrag in Österreich vor sechzehn Jahren den Holocaust geleugnet. Jetzt, während einer neuerlichen Österreichreise, wurde er deshalb verhaftet, unter großem Publikumsandrang angeklagt und stante pede zu drei Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Es nützte ihm nichts, daß er erklärte, er bereue seine damalige Leugnung inzwischen, habe sich durch neuere Forschungen von seinem Irrtum überzeugen lassen. Die Richter werteten seine Erklärung als ebenso hinterhältiges wie lächerliches Manöver.

In der Historikerzunft, besonders in England, regt sich nun vernehmbare Unruhe. Ist doch durch das Wiener Urteil nicht nur eine bestimmte Meinung, sondern – wohl erstmals in der Weltgeschichte – gleich auch das Recht auf wissenschaftlichen Irrtum kriminalisiert worden. Bisher galt unter Wissenschaftlern, daß der Erkenntnisprozeß im Wesentlichen eine Abfolge von trial and error sei, also von Versuch und Irrtum. Wenn das Irving-Urteil Bestand hat, würde dieses Konzept völlig außer Kraft gesetzt. Die Axt würde dann nicht nur an die Wissenschafsfreiheit gelegt, sondern an die Wissenschaft überhaupt.

Von vergleichbarer Vernichtungswucht ist nur noch jener Paragraph im deutschen Gesetzbuch, wonach nicht nur die Leugnung, sondern auch die „Verharmlosung“ des Holocaust strafbar sei. Das Wort verfügt, daß man sich als Wissenschaftler gewissen historischen Tatbeständen nur in einer einzigen, von den Behörden genau festgelegten Form annähern darf. Schon Nuancen von Sprache können Verbrechen sein und einen in den Knast bringen. Schon Sprachvaleurs bei der Formulierung von Forschungsergebnissen können hinter Gitter führen.

Und was das Kurioseste ist: Die Wissenschaft wird preisgegeben nicht etwa, weil sie, wie zur Zeit des Thomas von Aquin und des Siger von Brabant, mit erhabenen Glaubenssätzen („Gottes Schöpfung“) kollidiert, sondern weil sie gegebenenfalls irritierende Lichter auf historische Ereignisse bzw. Tatbestände wirft. So etwas ist weder im Mittelalter noch in der finsteren, von Glaubenskriegen zerfetzten frühen europäischen Neuzeit vorgekommen. Sogar im Jahre 1616 gab man sich – siehe die Affäre Galileo Galilei – mit öffentlichen Irrtumsberichtigungen zufrieden. Das Wiener Urteil von 2006 markiert einen neuartigen Grad von Finsternis.

("Geschichte ist die Summe der Lügen, auf die sich die Historiker geeinigt haben." - Voltaire)

Chaos
31.03.2006, 14:25
Die beiden Fälle kann man so nicht wirklich vergleichen, denn SIger von Brabant hat sein Buch geschreiben, weil er einen Text falsch verstanden hatte, das war das Hauptmotiv, die neu dazugewonnenen Erkenntnisse haben seinen Irrtum lediglich offensichtlicher für ihn gemacht.

Auch ist der Rückschritt Irvings nicht glaubhaft gewesen, da er ja schließlich schon auf Veranstaltungen Rechtsextremer und Neonazis Redner war, also ist das hier anders zu beurteilen, auf die Glaubwürdigkeit kommt es an.

Ferner soll er ja schon früher Quellen gezielt ignoriert haben, um seine Thesen zu begünstigen, da kann man auch nicht mehr vom "falsch verstehen" reden.

Wer wissenscahftlich vernünftig an die Sache herangeht, der wird auch keine Probleme bekommen. Wer absichtlich einige Teile, die ihm nicht gefallen, ausblendet, der kann wohl kaum vernünftiger Forscher sein.

Achsel-des-Bloeden
31.03.2006, 15:14
Nicht alles was hinkt ist ein Vergleich ...

Ausonius
31.03.2006, 16:57
Irvings Verteidigungsstrategie war nicht dumm, gleichwohl eine Farce, vermutl. basierend auf der Vorstellung vieler Revisionisten und Pseudowissenschaftler, es gehe in solchen Verfahren nur um "Widerruf" und "Absolution" f. Wissenschaftler, damit das vermeintliche "schulwissenschaftliche" Weltbild wieder seine Ordnung hat. Ich begrüße es, wenn Irving - der mal als fähiger und renommierter Historiker angefangen hat - erkennt, dass seine Thesen falsch waren. Es ist auch erst in zweiter Linie wichtig, wie glaubhaft oder unglaubhaft seine Distanzierung war. Tatsache ist aber: er hat über einen langen Zeitraum den Holocaust geleugnet, und dafür muss er sich nun verantworten.

Biskra
31.03.2006, 18:01
Also doch Lindenwirth. Hast dich aber lange zurückgehalten.

Settembrini
31.03.2006, 20:21
Nicht alles was hinkt ist ein Vergleich ...

:top: :)) :)) :))