Mark Mallokent
04.01.2006, 21:06
Folgenden interessanten Beitrag fand ich im "Kosmoblog" von Ulrich Speck.
Gaspipelines sind Unterpfand einer langfristigen Beziehung; die Ostseepipeline, deren Bau gerade begonnnen wurde, soll erst ab 2010 in Betrieb genommen werden. Der Bau der Ostseepipeline dient, so die Absicht, der Energiesicherheit, geplant ist eine dauerhafte Verbindung über Jahrzehnte. Doch wie sicher ist es, dass Russland in den nächsten Jahrzehnten ein stabiler Lieferant sein wird?
Ganz offenbar dient Energie dem Kreml als außenpolitisches Machtmittel und ist damit politischen Strategien und Kalkülen unterworfen. Ob diese rational sein werden und damit kalkulierbar, ist nicht absehbar.
Was wir sehen, ist ein zunehmend autokratischer werdendes System, das sich seiner checks and balances entledigt, das Opposition und kritische Öffentlichkeit ausschaltet. Ein solches System neigt vor allem deshalb zu Fehleinschätzungen, weil es seine Entscheidungen und Strategien dem Test der kontroversen Debatte nicht mehr unterzieht. In Autokratien und Despotien treten an die Stelle der mit Argumenten geführten Auseinandersetzung um den richtigen Kurs Entscheidungen von Machthabern, die sich - tendenziell - mit Opportunisten umgeben, die Dissens unterdrücken und sich zunehmend isolieren. Damit verlieren autokratische Machthaber die Bodenhaftung, den Realitätssinn und damit die Fähigkeit, politisch klug und verantwortungsvoll zu handeln.
Die Entwicklung Russlands zu einer solchen selbstherrlichen Autokratie wird die Qualität der Politik vermutlich weiterhin verschlechtern. Putin kassiert bereits eine außenpolitische Niederlage nach der anderen ein, in Osteuropa wie im Kaukasus.
Das liegt offenbar auch daran, dass im Kreml nicht richtig verstanden wird, dass im globalisierten 21. Jahrhundert nicht mehr die Gesetze der Machtpolitik im Stile des 19. Jahrhunderts gelten - Hegemonie, Einflussphären und dergleichen. Wer heute Einfluss ausüben will, muss attraktiv sein; muss sich assoziieren oder andere zur Assoziation einladen. Aus einer horizontalen Ordnung ist eine tendenziell vertikale Ordnung geworden. Weil der Kreml aber offenbar immer noch (oder wieder) in imperialen Kategorien denkt, und in diesem Sinne seine Nachbarschaft durch Zwang und Druck an sich binden will - nicht mehr militärisch, sondern über das Mittel der verstaatlichten Energieressourcen -, scheitert seine Politik der Einflussnahme.
Die Zentralisierung der Macht durch Putin ist eng verbunden mit einer Zurückdrängung der Marktwirtschaft. Der Kreml hat sich in den Besitz der wichtigsten Energieunternehmen gebracht, insbesondere mit Gasprom schafft er sich eine finanzielle Basis, die ihn unabhängig machen soll von den Steuerleistungen einer Marktwirtschaft - und damit von gesellschaftlicher Mitsprache. Die Verfügung über die Energiewirtschaft dient als Machtbasis, die den Kreml in die Lage versetzen soll, Russland zu beherrschen, die Nachbarschaft zu dominieren und Einfluss auf die energiehungrigen globalen Mächte auszuüben: Europa, China, USA.
Doch das Schwert, mit dem Putin hier agiert, ist zweischneidig. Zum einen macht sich der Kreml auf diese Weise selbst wiederum abhängig von den globalen Energiemärkten. Wenn die Preise sinken, sinken die Staatseinnahmen. Zum anderen wird die aggressive Energiestrategie die Abnehmer zunehmend dazu bringen, alternative Energiequellen zu entwickeln und ihre Energiezulieferung zu diversifizieren. Wirklichen außenpolitischen Einfluss gibt es nur auf der Basis einer funktionierenden und prosperierenden Marktwirtschaft; diese aber wird im zunehmend autokratischen russischen System nicht gefördert, sondern eher abgeblockt. Wirklicher außenpolitischer Einfluss besteht auch in der Fähigkeit, nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben. Zu geben aber hat Russland, von Energielieferungen abgesehen, kaum etwas. Ökonomisch ist es kein global player, selbst Südkoreas Wirtschaft ist größer. Politisch ist sein Einfluss eher gering; Macht kann es nur im Verbund mit anderen ausüben (etwa durch Blockadedrohung im Sicherheitsrat), und die Nachbarn sehen in russischer Dominanz tendenziell eher eine Bedrohung als einen Schutz. Auch die Konflikte in der Kaukasusregion sind keineswegs gelöst, sondern nur eingefroren.
Von einer zunehmenden Stabilisierung Russlands unter Putin kann also keine Rede sein; weder in politischer noch in ökonomischer Hinsicht. Das ist um so beunruhigender, als Russland vor einer schweren, vielleicht existenziellen Krise steht: “Russlands Bevölkerung droht der Kollaps”, schreibt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in einem Beitrag vom Januar 2005. “Niedrige Geburtenraten, ein desolates Gesundheitssystem und der rasante Anstieg von Aids-Infektionen könnten die Einwohnerzahl der einstigen Supermacht bis zum Jahr 2050 halbieren”:
Das russische Volk schmilzt jedes Jahr um eine dreiviertel Million Menschen dahin. Der amerikanische Bevölkerungsexperte Murray Feshbach befürchtet, daß die Einwohnerzahl von Russland zur Jahrhundertmitte von heute 145 Millionen auf rund hundert Millionen sinken wird - und auch das nur, falls das Land die galoppierende Verbreitung des Immunschwäche-Erregers HIV eindämmen kann. Falls nicht, könnte die Bevölkerung bis auf 75 Millionen Menschen zurückgehen - ein Schwund, der den Fortbestand des russischen Staates und die Sicherheit seiner Nachbarn bedrohen würde.
Grund für diese Entwicklung ist eine drastisch gesunkene Geburtenrate und die beständig steigende Sterblichkeit bei Erwachsenen. (…) Nur die Hälfte der männlichen Bevölkerung erreicht ein Alter von 60 Jahren (in Deutschland 87,5 Prozent), der Rest stirbt vorher - hauptsächlich an Herzkreislauf-Erkrankungen, den Folgen von Alkoholismus oder Tuberkulose.
Doch die größte Gefahr für die Stabilität des Riesenlandes ist Aids. Bereits jetzt gehen die Vereinten Nationen von bis zu 1,2 Millionen Infizierten in Russland aus (Westeuropa etwa 600.000). Nirgendwo, nicht einmal in Afrika, nimmt die Zahl der HIV-Infizierten so rapide zu wie in Russland und in der Ukraine. (…)
Der Demograf Murray Feshbach befürchtet durch den Bevölkerungsrückgang tiefgreifende Verwerfungen in der russischen Gesellschaft. Er sagt einen jährlichen Schwund von bis zu acht Prozent des Bruttosozialproduktes voraus, wenn die Zahl der Aids-Erkrankungen voll durchschlägt - eine Entwicklung, die das Land an den Rand seiner Stabilität führen könnte. Bereits jetzt steht Pakistan im Begriff, seinen westlichen Nachbarn hinsichtlich der Einwohnerzahl zu überholen. Der russische Teil Sibiriens entvölkert sich zusehends, während das angrenzende China unter einer hohen Bevölkerungsdichte leidet.
“Dieser Teil der Erde steht vor epochalen Umbrüchen”, glaubt Feshbach. Doch anders als die von Aids getroffenen Länder Afrikas, in denen zum Teil jeder Fünfte infiziert ist, liegt Rußland an der sensiblen Gelenkstelle zwischen Asien und Europa. Noch immer verfügt es über ein riesiges Arsenal an chemischen, biologischen und atomaren Waffen. Zu deren Überwachung steht immer weniger qualifiziertes Personal bereit. Schon heute ist nur etwa jeder zehnte Wehrpflichtige diensttauglich; der Anteil der bei der Musterung HIV-positiv Getesteten stieg seit 2000 um das Fünfundzwanzigfache. Doch bisher nimmt die Putin-Regierung die Katastrophe kaum zur Kenntnis.
(Mehr dazu auf der Homepage von Murray Feshbach.)
Die Perspektiven für Russland sind also alles andere als beruhigend. Dafür, dass die russische Regierung in der Lage sein wird, die künftigen Probleme in den Griff zu bekommen, gibt es kaum Anhaltspunkte. Wer seine wirtschaftliche Prosperität von russischer Stabilität abhängig macht, gerät mithin in Gefahr, unmittelbar von den erwartbaren Verwerfungen in Mitleidenschaft gezogen zu werden. In Bezug auf langfristige Verträge mit Russland von Energiesicherheit zu sprechen, scheint über die Maßen optimistisch.
Gaspipelines sind Unterpfand einer langfristigen Beziehung; die Ostseepipeline, deren Bau gerade begonnnen wurde, soll erst ab 2010 in Betrieb genommen werden. Der Bau der Ostseepipeline dient, so die Absicht, der Energiesicherheit, geplant ist eine dauerhafte Verbindung über Jahrzehnte. Doch wie sicher ist es, dass Russland in den nächsten Jahrzehnten ein stabiler Lieferant sein wird?
Ganz offenbar dient Energie dem Kreml als außenpolitisches Machtmittel und ist damit politischen Strategien und Kalkülen unterworfen. Ob diese rational sein werden und damit kalkulierbar, ist nicht absehbar.
Was wir sehen, ist ein zunehmend autokratischer werdendes System, das sich seiner checks and balances entledigt, das Opposition und kritische Öffentlichkeit ausschaltet. Ein solches System neigt vor allem deshalb zu Fehleinschätzungen, weil es seine Entscheidungen und Strategien dem Test der kontroversen Debatte nicht mehr unterzieht. In Autokratien und Despotien treten an die Stelle der mit Argumenten geführten Auseinandersetzung um den richtigen Kurs Entscheidungen von Machthabern, die sich - tendenziell - mit Opportunisten umgeben, die Dissens unterdrücken und sich zunehmend isolieren. Damit verlieren autokratische Machthaber die Bodenhaftung, den Realitätssinn und damit die Fähigkeit, politisch klug und verantwortungsvoll zu handeln.
Die Entwicklung Russlands zu einer solchen selbstherrlichen Autokratie wird die Qualität der Politik vermutlich weiterhin verschlechtern. Putin kassiert bereits eine außenpolitische Niederlage nach der anderen ein, in Osteuropa wie im Kaukasus.
Das liegt offenbar auch daran, dass im Kreml nicht richtig verstanden wird, dass im globalisierten 21. Jahrhundert nicht mehr die Gesetze der Machtpolitik im Stile des 19. Jahrhunderts gelten - Hegemonie, Einflussphären und dergleichen. Wer heute Einfluss ausüben will, muss attraktiv sein; muss sich assoziieren oder andere zur Assoziation einladen. Aus einer horizontalen Ordnung ist eine tendenziell vertikale Ordnung geworden. Weil der Kreml aber offenbar immer noch (oder wieder) in imperialen Kategorien denkt, und in diesem Sinne seine Nachbarschaft durch Zwang und Druck an sich binden will - nicht mehr militärisch, sondern über das Mittel der verstaatlichten Energieressourcen -, scheitert seine Politik der Einflussnahme.
Die Zentralisierung der Macht durch Putin ist eng verbunden mit einer Zurückdrängung der Marktwirtschaft. Der Kreml hat sich in den Besitz der wichtigsten Energieunternehmen gebracht, insbesondere mit Gasprom schafft er sich eine finanzielle Basis, die ihn unabhängig machen soll von den Steuerleistungen einer Marktwirtschaft - und damit von gesellschaftlicher Mitsprache. Die Verfügung über die Energiewirtschaft dient als Machtbasis, die den Kreml in die Lage versetzen soll, Russland zu beherrschen, die Nachbarschaft zu dominieren und Einfluss auf die energiehungrigen globalen Mächte auszuüben: Europa, China, USA.
Doch das Schwert, mit dem Putin hier agiert, ist zweischneidig. Zum einen macht sich der Kreml auf diese Weise selbst wiederum abhängig von den globalen Energiemärkten. Wenn die Preise sinken, sinken die Staatseinnahmen. Zum anderen wird die aggressive Energiestrategie die Abnehmer zunehmend dazu bringen, alternative Energiequellen zu entwickeln und ihre Energiezulieferung zu diversifizieren. Wirklichen außenpolitischen Einfluss gibt es nur auf der Basis einer funktionierenden und prosperierenden Marktwirtschaft; diese aber wird im zunehmend autokratischen russischen System nicht gefördert, sondern eher abgeblockt. Wirklicher außenpolitischer Einfluss besteht auch in der Fähigkeit, nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben. Zu geben aber hat Russland, von Energielieferungen abgesehen, kaum etwas. Ökonomisch ist es kein global player, selbst Südkoreas Wirtschaft ist größer. Politisch ist sein Einfluss eher gering; Macht kann es nur im Verbund mit anderen ausüben (etwa durch Blockadedrohung im Sicherheitsrat), und die Nachbarn sehen in russischer Dominanz tendenziell eher eine Bedrohung als einen Schutz. Auch die Konflikte in der Kaukasusregion sind keineswegs gelöst, sondern nur eingefroren.
Von einer zunehmenden Stabilisierung Russlands unter Putin kann also keine Rede sein; weder in politischer noch in ökonomischer Hinsicht. Das ist um so beunruhigender, als Russland vor einer schweren, vielleicht existenziellen Krise steht: “Russlands Bevölkerung droht der Kollaps”, schreibt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in einem Beitrag vom Januar 2005. “Niedrige Geburtenraten, ein desolates Gesundheitssystem und der rasante Anstieg von Aids-Infektionen könnten die Einwohnerzahl der einstigen Supermacht bis zum Jahr 2050 halbieren”:
Das russische Volk schmilzt jedes Jahr um eine dreiviertel Million Menschen dahin. Der amerikanische Bevölkerungsexperte Murray Feshbach befürchtet, daß die Einwohnerzahl von Russland zur Jahrhundertmitte von heute 145 Millionen auf rund hundert Millionen sinken wird - und auch das nur, falls das Land die galoppierende Verbreitung des Immunschwäche-Erregers HIV eindämmen kann. Falls nicht, könnte die Bevölkerung bis auf 75 Millionen Menschen zurückgehen - ein Schwund, der den Fortbestand des russischen Staates und die Sicherheit seiner Nachbarn bedrohen würde.
Grund für diese Entwicklung ist eine drastisch gesunkene Geburtenrate und die beständig steigende Sterblichkeit bei Erwachsenen. (…) Nur die Hälfte der männlichen Bevölkerung erreicht ein Alter von 60 Jahren (in Deutschland 87,5 Prozent), der Rest stirbt vorher - hauptsächlich an Herzkreislauf-Erkrankungen, den Folgen von Alkoholismus oder Tuberkulose.
Doch die größte Gefahr für die Stabilität des Riesenlandes ist Aids. Bereits jetzt gehen die Vereinten Nationen von bis zu 1,2 Millionen Infizierten in Russland aus (Westeuropa etwa 600.000). Nirgendwo, nicht einmal in Afrika, nimmt die Zahl der HIV-Infizierten so rapide zu wie in Russland und in der Ukraine. (…)
Der Demograf Murray Feshbach befürchtet durch den Bevölkerungsrückgang tiefgreifende Verwerfungen in der russischen Gesellschaft. Er sagt einen jährlichen Schwund von bis zu acht Prozent des Bruttosozialproduktes voraus, wenn die Zahl der Aids-Erkrankungen voll durchschlägt - eine Entwicklung, die das Land an den Rand seiner Stabilität führen könnte. Bereits jetzt steht Pakistan im Begriff, seinen westlichen Nachbarn hinsichtlich der Einwohnerzahl zu überholen. Der russische Teil Sibiriens entvölkert sich zusehends, während das angrenzende China unter einer hohen Bevölkerungsdichte leidet.
“Dieser Teil der Erde steht vor epochalen Umbrüchen”, glaubt Feshbach. Doch anders als die von Aids getroffenen Länder Afrikas, in denen zum Teil jeder Fünfte infiziert ist, liegt Rußland an der sensiblen Gelenkstelle zwischen Asien und Europa. Noch immer verfügt es über ein riesiges Arsenal an chemischen, biologischen und atomaren Waffen. Zu deren Überwachung steht immer weniger qualifiziertes Personal bereit. Schon heute ist nur etwa jeder zehnte Wehrpflichtige diensttauglich; der Anteil der bei der Musterung HIV-positiv Getesteten stieg seit 2000 um das Fünfundzwanzigfache. Doch bisher nimmt die Putin-Regierung die Katastrophe kaum zur Kenntnis.
(Mehr dazu auf der Homepage von Murray Feshbach.)
Die Perspektiven für Russland sind also alles andere als beruhigend. Dafür, dass die russische Regierung in der Lage sein wird, die künftigen Probleme in den Griff zu bekommen, gibt es kaum Anhaltspunkte. Wer seine wirtschaftliche Prosperität von russischer Stabilität abhängig macht, gerät mithin in Gefahr, unmittelbar von den erwartbaren Verwerfungen in Mitleidenschaft gezogen zu werden. In Bezug auf langfristige Verträge mit Russland von Energiesicherheit zu sprechen, scheint über die Maßen optimistisch.