MarcinMaximus
20.12.2005, 09:16
Vor 50 Jahren wurde in Rom das deutsch-italienische Anwerbeabkommen unterschrieben. Ursprünglich sollten die Arbeiter aus Italien nur kurze Zeit in der Bundesrepublik bleiben und dann gegen Landsleute ausgetauscht werden. Viele blieben jedoch in Deutschland. Andere kehrten in ihre Heimat zurück - und brachten neben Geld auch Erfahrungen und einen anderen Lebensstil mit.
Von Jörg Seisselberg, ARD-Hörfunkstudio Rom
Die Menschen in der Gegend nennen es "das deutsche Dorf". Denn Atena Lucana ist so, wie sich die Italiener südlich von Neapel Deutschland vorstellen: reich und sauber. Das Geld in diese vor Jahrzehnten noch bitterarme Gegend haben Rückkehrer wie Antonio Marino gebracht. Als er 1971 nach Deutschland aufbrach, war er 22 Jahre alt und besaß kaum mehr als er in seinem Koffer tragen konnte. "Wir sind aus Atena Lucana weggegangen, ohne eine Lira in der Tasche. Es gab hier in dieser Gegend nichts, keine Zukunft, keine Arbeit. Es herrschte sehr viel Elend."
Eine Familie flieht vor der Armut
Dem Elend ist fast die ganze Familie nach Deutschland entflohen. Zunächst der älteste Bruder Angelo, der 1960 mit einem Anwerbevertrag von einer Baufirma nach Würzburg gelockt wurde. Später folgte der zweite Bruder Michele und schließlich machte sich auch Antonio auf den Weg. Angekommen im oberfränkischen Hof wunderte er sich über das kalte Wetter und über die Menschen: "Sofort nach meiner Ankunft habe ich gestaunt über die Deutschen, die sich überall so korrekt und diszipliniert anstellen, vor dem Bahnhofsschalter oder in den Behörden. Geduldig, ohne ein Wort zu sagen, so lange bis sie dran kommen."
Das Phänomen der Schlange
Merkwürdig, aber eigentlich ganz angenehm, habe er schon damals gedacht. Aus seiner Heimat Süditalien kannte er das Prinzip: Als erster kommt dran, wer am lauteten schreit und am heftigsten drängelt. Es ist schwierig, Antonio Marino Negatives über Deutschland zu entlocken. Rassismus? Ausländerfeindlichkeit? Habe er nie erlebt, versichert der heute 57-Jährige. Deutschland, sagt er stattdessen mit glänzenden Augen, sei das Land, das ihn, den Jungen ohne eine Lira in der Tasche, zu einem wohlhabenden Mann gemacht hat: "Für mich bleibt Deutschland immer ein Land, dem ich viel zu verdanken habe. Es ist eine Nation, die mir und meiner Familie Leben und Licht gegeben hat."
19 Jahre Arbeit für das eigene Hotel
Für Marino kam das Glück in Form eines Vier-Sterne-Hotels und eines Edel-Restaurants, dass ihm heute in seinem Heimatort gehört. 19 Jahre lang hat er für das Startkapital in Deutschland in der Gastronomie gearbeitet - sieben Tage die Woche, bis zu 16 Stunden am Tag. Seine Erfolgsgeschichte ist in Atena Lucana kein Einzelfall. Von den 2400 Einwohnern im Dorf war fast jeder Sechste im Ausland. Die Rückkehrer, erzählt Bürgermeister Sergio Annunziata, haben nicht nur Geld, sondern auch eine andere Mentalität mitgebracht: "Den Satz, den man immer wieder von einem zurückgekommenen Auswanderer hört lautet: Aber in Deutschland gibt es das und jenes. Oder - vorwurfsvoll - wenn etwas nicht funktioniert: In Deutschland passiert so was aber nicht."
Ein kleines Stück Deutschland in Italien
Die Rückkehrer, räumt Annunziata ein, haben Politik und Verwaltung Beine gemacht. Mit dem Ergebnis, dass Atena Lucana eine Oase im armen Süditalien ist. Zur Freude von Rückkehrer Marino: "Heute funktioniert unser Dorf fast wie ein deutsches Dorf." Und manchmal sogar besser: Im Rathaus muss niemand Schlage stehen, die Verwaltung ist schnell und effektiv, Schulen und Gesundheitssystem arbeiten vorbildlich. Und - es gelten die Sauberkeitsregeln aus dem Deutschland der Siebziger Jahre. Er habe seinen Landsleute beigebracht, erzählt Marino, dass es sich nicht gehört, Papier einfach auf die Straße zu werfen: "In diesem Jahr hat unsere Gemeinde zum dritten Mal hintereinander einen Preis von der Provinz Salerno bekommen, für die Sauberkeit und die Ordnung, die wir hier haben."
Nicht Wein, sondern Bier
Als kulturellen Höhepunkt des Jahres feiert Atena Lucana nicht wie andere Orte in der Gegend ein Wein-, sondern ein Bierfest. Für die Rückkehrer wie Marino die beste Gelegenheit in Erinnerungen zu schwelgen: von der guten alten Zeit in Deutschland.
http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID5065628_TYP6_THE_NAV_REF1_BAB,00.html
Interessanter Text.
Von Jörg Seisselberg, ARD-Hörfunkstudio Rom
Die Menschen in der Gegend nennen es "das deutsche Dorf". Denn Atena Lucana ist so, wie sich die Italiener südlich von Neapel Deutschland vorstellen: reich und sauber. Das Geld in diese vor Jahrzehnten noch bitterarme Gegend haben Rückkehrer wie Antonio Marino gebracht. Als er 1971 nach Deutschland aufbrach, war er 22 Jahre alt und besaß kaum mehr als er in seinem Koffer tragen konnte. "Wir sind aus Atena Lucana weggegangen, ohne eine Lira in der Tasche. Es gab hier in dieser Gegend nichts, keine Zukunft, keine Arbeit. Es herrschte sehr viel Elend."
Eine Familie flieht vor der Armut
Dem Elend ist fast die ganze Familie nach Deutschland entflohen. Zunächst der älteste Bruder Angelo, der 1960 mit einem Anwerbevertrag von einer Baufirma nach Würzburg gelockt wurde. Später folgte der zweite Bruder Michele und schließlich machte sich auch Antonio auf den Weg. Angekommen im oberfränkischen Hof wunderte er sich über das kalte Wetter und über die Menschen: "Sofort nach meiner Ankunft habe ich gestaunt über die Deutschen, die sich überall so korrekt und diszipliniert anstellen, vor dem Bahnhofsschalter oder in den Behörden. Geduldig, ohne ein Wort zu sagen, so lange bis sie dran kommen."
Das Phänomen der Schlange
Merkwürdig, aber eigentlich ganz angenehm, habe er schon damals gedacht. Aus seiner Heimat Süditalien kannte er das Prinzip: Als erster kommt dran, wer am lauteten schreit und am heftigsten drängelt. Es ist schwierig, Antonio Marino Negatives über Deutschland zu entlocken. Rassismus? Ausländerfeindlichkeit? Habe er nie erlebt, versichert der heute 57-Jährige. Deutschland, sagt er stattdessen mit glänzenden Augen, sei das Land, das ihn, den Jungen ohne eine Lira in der Tasche, zu einem wohlhabenden Mann gemacht hat: "Für mich bleibt Deutschland immer ein Land, dem ich viel zu verdanken habe. Es ist eine Nation, die mir und meiner Familie Leben und Licht gegeben hat."
19 Jahre Arbeit für das eigene Hotel
Für Marino kam das Glück in Form eines Vier-Sterne-Hotels und eines Edel-Restaurants, dass ihm heute in seinem Heimatort gehört. 19 Jahre lang hat er für das Startkapital in Deutschland in der Gastronomie gearbeitet - sieben Tage die Woche, bis zu 16 Stunden am Tag. Seine Erfolgsgeschichte ist in Atena Lucana kein Einzelfall. Von den 2400 Einwohnern im Dorf war fast jeder Sechste im Ausland. Die Rückkehrer, erzählt Bürgermeister Sergio Annunziata, haben nicht nur Geld, sondern auch eine andere Mentalität mitgebracht: "Den Satz, den man immer wieder von einem zurückgekommenen Auswanderer hört lautet: Aber in Deutschland gibt es das und jenes. Oder - vorwurfsvoll - wenn etwas nicht funktioniert: In Deutschland passiert so was aber nicht."
Ein kleines Stück Deutschland in Italien
Die Rückkehrer, räumt Annunziata ein, haben Politik und Verwaltung Beine gemacht. Mit dem Ergebnis, dass Atena Lucana eine Oase im armen Süditalien ist. Zur Freude von Rückkehrer Marino: "Heute funktioniert unser Dorf fast wie ein deutsches Dorf." Und manchmal sogar besser: Im Rathaus muss niemand Schlage stehen, die Verwaltung ist schnell und effektiv, Schulen und Gesundheitssystem arbeiten vorbildlich. Und - es gelten die Sauberkeitsregeln aus dem Deutschland der Siebziger Jahre. Er habe seinen Landsleute beigebracht, erzählt Marino, dass es sich nicht gehört, Papier einfach auf die Straße zu werfen: "In diesem Jahr hat unsere Gemeinde zum dritten Mal hintereinander einen Preis von der Provinz Salerno bekommen, für die Sauberkeit und die Ordnung, die wir hier haben."
Nicht Wein, sondern Bier
Als kulturellen Höhepunkt des Jahres feiert Atena Lucana nicht wie andere Orte in der Gegend ein Wein-, sondern ein Bierfest. Für die Rückkehrer wie Marino die beste Gelegenheit in Erinnerungen zu schwelgen: von der guten alten Zeit in Deutschland.
http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID5065628_TYP6_THE_NAV_REF1_BAB,00.html
Interessanter Text.