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Vollständige Version anzeigen : Konzerteklat in der Kölner Philharmonie



derNeue
02.03.2016, 10:43
Von einer "Verrohung der Sitten" schreibt die Welt über ein abgebrochenes Konzert in der Kölner Philharmonie, wo ein iranischer Cembalist, der mit Concerto Köln zusammen konzertierte, wohl so vom Publikum gestört wurde, daß er sein Stück abbrechen mußte.
http://www.welt.de/kultur/buehne-konzert/article152816333/Beispiel-der-Verrohung-heutiger-Konzertbesucher.html

Aus Stuttgart kann ich ähnliches berichten. Immer häufiger wird gestört, gestöhnt, gepfiffen, falsch reingeklatscht usw. So als würde man sich im Musical im SI Centrum befinden und nicht in einem klassischen Konzert, wo es gewisse Regeln gibt. Das Lustprinzip greift immer weiter um sich. Was mir nicht gefällt, wird ausgebuht oder ich verlasse einfach den Saal mitten im Werk, was zu anstrengend ist, dem setze ich mich gar nicht mehr aus.
Daß hierduch die Konzentration der Künstler und auch der Spannungsbogen, die Atmosphäre gestört werden, ist dem Zuschauer immer häufiger egal, was nicht sofort gefällt oder "verstanden" wird, wird sofort abserviert.

Sicher zeigt sich hier nicht nur eine Verrohung des Publikums, sondern auch eine zunehmende Entfremdung des Künstlers von seinen Hörern. Warum wird eine Einführung des Werkes nur auf Englisch gegeben? Warum wird nicht übersetzt? Welche Arroganz steckt dahinter, einfach vorauszusetzen, daß in Deutschland jeder Mensch Englisch spricht? Das kann man vielleicht in einem Gemeindehaus in Remscheid machen, aber nicht in der Kölner Philharmonie.

Ein weiterer Grund dürfte die Art sein, wie dem Zuhörer heute Barockmusik überhaupt nur noch präsentiert wird. Schon seit Jahrzehnten versucht die "authentische Aufführungspraxis" dem Hörer auf belehrende Art vorzuschreiben, was die "eigentlich einzig richtige Art" sei, die großen Werke von Bach usw. zu spielen. Der Anspruch dieser Bewegung war von Anfang an ein absoluter und der bescheidenen Zuhörer, der Nicht-Profi, mußte sich erzählen und erklären lassen, was "richtig" sei und was "falsch". Es ging nie darum, was ihm subjektiv gefällt und was nicht.
Das hat der Konzertbesucher zwar auch gegelaubt und akzeptiert, aber was bekam er geliefert?
In den meisten Fällen einen kaum differenzierten Klangbrei, indem Stimmen nicht mehr herauszuhören sind, in dem viele solistischen Streicher oder Holzbläser einfach mangels Lautstärke gegenüber den Sängern hoffnungslos untergingen, in dem wichtige Teile der Struktur nicht mehr erkennbar waren, in Klein-Besetzungen und atemlosen Tempi, wo Werke wie die Matthäuspassion jegliche Dramatik verloren, die aber angeblich "authentisch" sein sollten.
Wer heute noch auf Youtube sieht, wie andächtig und ergriffen die Hörer früher bei den Ansbacher Bachwochen einem Richter gelauscht hatten, wie beeindruckt sie von einer h-moll-Messe waren, und wer das mit heute vergleicht, der wird wohl konstatieren müssen, daß die mangelnde Begeisterung der Zuhörer auch mit der Aufführungspraxis zusammenhängt.
Belehren ließ sich der Konzertbesucher zwar, gefallen hat es ihm im Unterbewußtsein aber trotzdem nicht.
Und wenn dann noch ellenlange und eintönige Minimal music von Reich oder Glass auf dem Programm steht, dann schwappt der Unmut bzw. die Langeweile eben über. Insofern sollten auch die klassischen Musiker mal darüber nachdenken, wie sie das Publikum wieder für ein Werk begeistern können, und weniger darüber, welches nun die absolut "korrekte" weil originalgetreue Aufführungspraxis sei. Ein Aufführungsziel, das meiner Meinung schon vom Ansatz her falsch ist.

http://www.focus.de/regional/koeln/eklat-in-der-koelner-philharmonie-publikum-erzwingt-konzert-abbruch-reden-sie-doch-gefaelligst-deutsch_id_5326791.html
http://www.ksta.de/kultur/konzert-in-der-koelner-philharmonie-abgebrochen--reden-sie-doch-gefaelligst-deutsch---23646344

Sathington Willoughby
02.03.2016, 10:48
Früher haben die Zuschauer bei Opernaufführungen teils noch aktiv mitgewirkt, à la Rocky Horror Picture Show.
Wenn da ein Sänger oder Musiker so rumgepienzt hätte, wäre er sofort geflogen.
Die absolute Ruhe bei klassischen Aufführungen ist erst später gekommen, als sich das Bürgertum der Musik bemächtigte und sich groß vorgekommen ist, endlich mal die Werke, die für Fürsten bestimmt waren, selber zu hören zu bekommen.

Die klassischen Musiker müssen sich halt darauf einstellen, nicht im luftleeren Raum zu spielen.

Strandwanderer
02.03.2016, 10:48
.
Wen willst du den nun für die beklagte "Verrohung der Sitten" verantwortlich machen: das Publikum oder doch die Künstler und Veranstalter?

Strandwanderer
02.03.2016, 10:52
Früher haben die Zuschauer bei Opernaufführungen teils noch aktiv mitgewirkt, à la Rocky Horror Picture Show.
Wenn da ein Sänger oder Musiker so rumgepienzt hätte, wäre er sofort geflogen.



Die Transgender-Show in einem Atemzug mit Opern und klassischer Musik zu nennen - das muß man erst mal bringen.

Den pubertären Zirkus bei jenem Spektakel habe ich nie verstanden.

derNeue
02.03.2016, 11:25
Früher haben die Zuschauer bei Opernaufführungen teils noch aktiv mitgewirkt, à la Rocky Horror Picture Show.
Wenn da ein Sänger oder Musiker so rumgepienzt hätte, wäre er sofort geflogen.
Die absolute Ruhe bei klassischen Aufführungen ist erst später gekommen, als sich das Bürgertum der Musik bemächtigte und sich groß vorgekommen ist, endlich mal die Werke, die für Fürsten bestimmt waren, selber zu hören zu bekommen.

Die klassischen Musiker müssen sich halt darauf einstellen, nicht im luftleeren Raum zu spielen.

Klassische Werke verlangen i.d.R. ruhige Zuhörer. Nicht weil die Musiker das wünschen, sondern weil die Dramatik des Stückes das erfordert. Das ist z.B. auch der Grund, warum in der Satzpause nicht geklatscht werden soll. Der Spannungsbogen geht verloren. Gebildete und einfühlsame Zuhörer wissen das und erwarten das auch.

derNeue
02.03.2016, 11:28
.
Wen willst du den nun für die beklagte "Verrohung der Sitten" verantwortlich machen: das Publikum oder doch die Künstler und Veranstalter?

Wie aus meinem Einführungsbeitrag hervorgeht: im Grunde beide Seiten.
Die Zuhörer agieren ich-bezogener als früher und lasssen oft Bildung und Erziehung vermissen. Die Musiker dagegen agieren zu sehr im Elfenbeinturm und vergessen, daß sie eigentlich Diener sind, die die Aufgabe haben, den Besuchern das Werk nahezubringen. Genauer gesagt: diese dafür zu begeistern. So hat das z.B. Leonard Bernstein sehr erfolgreich gekonnt.

Schlummifix
02.03.2016, 11:42
Sicher zeigt sich hier nicht nur eine Verrohung des Publikums, sondern auch eine zunehmende Entfremdung des Künstlers von seinen Hörern. Warum wird eine Einführung des Werkes nur auf Englisch gegeben? Warum wird nicht übersetzt? Welche Arroganz steckt dahinter, einfach vorauszusetzen, daß in Deutschland jeder Mensch Englisch spricht? Das kann man vielleicht in einem Gemeindehaus in Remscheid machen, aber nicht in der Kölner Philharmonie.

:lach:

Eben. Also ich finde das super.
Die Bürger lassen sich immer weniger gefallen. Wir steuern auf revolutionäre Zeiten zu.
Der Wutbürger kocht, und das nicht nur in Deutschland.

derNeue
02.03.2016, 11:45
Der SPIEGEL schreibt, das Stück von Steve Reich sei für die Zuhörer "zu schwierig" gewesen. Das ist so eine Standartformulierung, wenn das Publikum keine "moderne" Musik mag. In dem Fall stimmt das überhaupt nicht. Minimal Music ist die am einfachsten zu hörende Musikrichtungim ganzen 20. Jahrhundert. Sie ist nur schlicht sehr eintönig und das gefällt nicht jedem.
http://www.spiegel.de/kultur/musik/koeln-konzert-in-philharmonie-abgebrochen-das-war-kein-rassismus-a-1080145.html

derNeue
02.03.2016, 11:47
:lach:

Eben. Also ich finde das super.
Die Bürger lassen sich immer weniger gefallen. Wir steuern auf revolutionäre Zeiten zu.
Der Wutbürger kocht, und das nicht nur in Deutschland.

Nein, diese "Wutbürger" stören damit die anderen, die wirklich zuhören wollen. Wem es nicht gefällt, der kann ja nachher seinen Unmut äußern oder- fals er Kritiker ist- eine schlechte Kritk schreiben und eben beim nächsten Mal nicht mehr hingehen.
Aber eine Veranstaltung zu stören, die anderen wichtig ist, gehört sich nicht.

Schlummifix
02.03.2016, 11:50
Nein, diese "Wutbürger" stören damit die anderen, die wirklich zuhören wollen. Wem es nicht gefällt, der kann ja nachher seinen Unmut äußern oder- fals er Kritiker ist- eine schlechte Kritk schreiben und eben beim nächsten Mal nicht mehr hingehen.
Aber eine Veranstaltung zu stören, die anderen wichtig ist, gehört sich nicht.

Doch :lach: :ja:

Und wir befinden uns im post-zivilisatorischen Zeitalter. Das hast du nur noch nicht begriffen.
Merkel und Co. haben die Gesellschaft zerstört. Warum noch irgendwie zusammenhalten, sich an Regeln halten, warum noch zivilisiert sein?
Während andere ungestört mit Kriminalität Millionen verdienen.
Der Zivilisierte ist doch der Dumme, und das merken immer mehr Bürger.

Ausonius
02.03.2016, 11:51
Der SPIEGEL schreibt, das Stück von Steve Reich sei für die Zuhörer "zu schwierig" gewesen. Das ist so eine Standartformulierung, wenn das Publikum keine "moderne" Musik mag. In dem Fall stimmt das überhaupt nicht. Minimal Music ist die am einfachsten zu hörende Musikrichtungim ganzen 20. Jahrhundert. Sie ist nur schlicht sehr eintönig und das gefällt nicht jedem.
http://www.spiegel.de/kultur/musik/koeln-konzert-in-philharmonie-abgebrochen-das-war-kein-rassismus-a-1080145.html

Da kann man sich allerdings fragen, warum ein Zuhörer viel Geld ausgibt für eine Musik, die ihm nicht gefällt.

Ausonius
02.03.2016, 11:54
Doch :lach: :ja:

Und wir befinden uns im post-zivilisatorischen Zeitalter.

Das hättest du wohl gerne. Pöbeltrolle werden aber nicht zur neuen Hochkultur, niemals nicht.

Sathington Willoughby
02.03.2016, 11:56
Wie aus meinem Einführungsbeitrag hervorgeht: im Grunde beide Seiten.
Die Zuhörer agieren ich-bezogener als früher und lasssen oft Bildung und Erziehung vermissen. Die Musiker dagegen agieren zu sehr im Elfenbeinturm und vergessen, daß sie eigentlich Diener sind, die die Aufgabe haben, den Besuchern das Werk nahezubringen. Genauer gesagt: diese dafür zu begeistern. So hat das z.B. Leonard Bernstein sehr erfolgreich gekonnt.

Es ist diese punktgenaue INterpretation, die viele Künstler bieten wollen und die gar nicht vorgesehen ist, nicht mal von den Komponisten.
IMHO entfernen sich die Solisten zu sehr von den Wurzeln ihrer Musik, sie wollen eine technisch 100%ige Darbietung bringen, in der das Leben, die Kreativität fehlt.

Azrael
02.03.2016, 12:45
Doch :lach: :ja:

Und wir befinden uns im post-zivilisatorischen Zeitalter. Das hast du nur noch nicht begriffen.
Merkel und Co. haben die Gesellschaft zerstört. Warum noch irgendwie zusammenhalten, sich an Regeln halten, warum noch zivilisiert sein?
Während andere ungestört mit Kriminalität Millionen verdienen.
Der Zivilisierte ist doch der Dumme, und das merken immer mehr Bürger.

Aha. Also Freifahrtschein zum Arschloch-sein gegenüber allem und jedem.

luis_m
02.03.2016, 13:03
http://www.ksta.de/kultur/konzert-in-der-koelner-philharmonie-abgebrochen--reden-sie-doch-gefaelligst-deutsch---23646344


Mit der Geduld am Ende

Hatten die Zuhörer Frith und Górecki noch widerspruchslos über sich ergehen lassen, so war bei Steve Reich die Geduld hörbar zu Ende. Dessen zur Aufführung gelangendes Stück „Piano Phase“ von 1967 ist dem amerikanischen Minimalismus zuzurechnen: Zwei (hier von Cembalo und Tonband kommende) „Klangfäden“, die sich aus stets wiederholten kurzen Tonfolgen zusammensetzen, driften infolge unterschiedlicher Tempi dergestalt auseinander, dass sich im Zusammenklang immer wieder neue Intervall- und Motivkonstellationen ergeben.



Minimalistische Klangfäden, vorgetragen von einem Iraner, mittels eines hochvirtous bedienten Cembalos.
Was für ein Brei!


Schließlich, als der Künstler fünf, sechs Minuten des original 16 Minuten langen Stücks absolviert hatte, erzwangen Lachen, Klatschen, Pfeifen und andere Geräusche des Missfallens den Abbruch der Darbietung.

Da mag wohl so einigen Zuhörern folgendes im Ohr geklungen haben.

"Der Wolf. Das Lamm. Auf der grünen Wiese. Und das Lamm schrie: Hurz!!! Der Wolf. Das Lamm. Ein Lurch lugt hervor. Hurz!!! Und das Lamm schrie: Hurz!"

Bunbury
02.03.2016, 13:04
Von Fremdenfeindlichkeit kann keine Rede sein. Sie wäre allenfalls der Aufforderung "Sprich Deutsch!" zu entnehmen, die gefallen sein soll - gegenüber dem iranischen Cembalisten (der des Deutschen nicht mächtig ist und sich auf Englisch erklärt hat) natürlich albern und unangemessen.

Warum hat das Musikstück einen Teil der Zuhörer so provoziert? Steve Reich hat doch sogar schon Eingang in die Popmusik gefunden, die ja ihrerseits sehr repetitiv ist, und seine Musik geht runter wie Butter. Wie 'der Neue' erklärte:


Minimal Music ist die am einfachsten zu hörende Musikrichtung im ganzen 20. Jahrhundert. Sie ist nur schlicht sehr eintönig und das gefällt nicht jedem.

Die feindselige Reaktion, die sich an "Piano Phase" entzündet hat, hängt mit dem speziellen Nischenpublikum zusammen: Alte-Musik-Liebhaber, die Hardcore-Cembalo-Szene, deren musikalischer Horizont mit dem Spätbarock aufhört. Alles nach Bach und über 415 Hz gilt bei denen als entartet.

Azrael
02.03.2016, 13:06
"Der Wolf. Das Lamm. Auf der grünen Wiese. Und das Lamm schrie: Hurz!!! Der Wolf. Das Lamm. Ein Lurch lugt hervor. Hurz!!! Und das Lamm schrie: Hurz!"

:haha:

"Äh, maybe we should repeat the part...":haha:

Ausonius
02.03.2016, 13:18
Die feindselige Reaktion, die sich an "Piano Phase" entzündet hat, hängt mit dem speziellen Nischenpublikum zusammen: Alte-Musik-Liebhaber, die Hardcore-Cembalo-Szene, deren musikalischer Horizont mit dem Spätbarock aufhört. Alles nach Bach und über 415 Hz gilt bei denen als entartet.

Ich bin ja nun kein wirklicher Experte, aber persönlich mag ich etliche Stücke aus der minimal music sehr gerne, besonders aber Philipp Glass. Wobei bei vielen seiner Stücke eigentlich von "minimal" keine Rede sein kann; sie haben zwar die charakteristischen Wiederholungen, sind aber schon bei Koyaniisqatsi z.T. bombastisch instrumentiert.

Aber auch Thiersen oder Arvo Pärt sind toll.

Bunbury
02.03.2016, 13:23
Minimalistische Klangfäden, vorgetragen von einem Iraner, mittels eines hochvirtous bedienten Cembalos.
Was für ein Brei!

Man sollte wenigstens wissen, wovon man spricht, und etwas kennen, bevor man es bewertet. 'Piano Phase' ist Reichs Abschied von der seriellen Avantgarde, es ist eines der Initialstücke der 'Minimal Music'. Reich verarbeitet darin seine Erfahrungen mit einem auf Band gesprochenen und dann auf mehreren Geräten gleichzeitig abgespielten Text ('Come out', 'It's gonna rain'): Da keine zwei Tonbandgeräte die exakt gleiche Laufgeschwindigkeit haben, kommt es zu minimalen Verschiebungen - vom anfänglichen Unisono über kanonartige Imitation bis zum reinen Klangbrei.

'Piano Phase' überträgt diese Idee der Phasenverschiebung auf ein Musikinstrument plus Tonband oder zwei Instrumente (Klavier oder Marimba). Auf dem einen Instrument wird die modale Tonfolge konstant wiederholt, auf dem anderen phasenweise um jeweils eine Zählzeit verschoben. Das Interessante bei diesen Phasenverschiebungen: Es werden dabei 'inhärente', also nicht notierte Patterns hörbar.

Hier das Beispiel eines Pianisten, der das Werk aberwitzigerweise allein spielt.


https://www.youtube.com/watch?v=AnQdP03iYIo

Bunbury
02.03.2016, 13:32
Ich bin ja nun kein wirklicher Experte, aber persönlich mag ich etliche Stücke aus der minimal music sehr gerne, besonders aber Philipp Glass. Wobei bei vielen seiner Stücke eigentlich von "minimal" keine Rede sein kann; sie haben zwar die charakteristischen Wiederholungen, sind aber schon bei Koyaniisqatsi z.T. bombastisch instrumentiert.

Aber auch Thiersen oder Arvo Pärt sind toll.

Du hast völlig recht - Glass arbeitet mit viel Bombast und versucht, mit herzlich wenig Material eine monumentale Wirkung zu erzielen. Das Ganze ist auch ein terminologisches Problem, wie so oft, und Minimalismus eine Kritikerphrase, die sich zur Etikettierung eines bestimmten Stils verselbständigt hat, wie üblich gegen den Willen der betroffenen Komponisten (Reich, Riley, la Monte Young et al.). Es wird auch begrifflich nicht zwischen 'minimalistisch' und 'reduktiv' unterschieden.

Filofax
02.03.2016, 13:42
Klassische Werke verlangen i.d.R. ruhige Zuhörer. Nicht weil die Musiker das wünschen, sondern weil die Dramatik des Stückes das erfordert. Das ist z.B. auch der Grund, warum in der Satzpause nicht geklatscht werden soll. Der Spannungsbogen geht verloren. Gebildete und einfühlsame Zuhörer wissen das und erwarten das auch.

Am schlimmsten finde ich es einfach in dem Zusammenhang, wenn in Kirchen Klassikkonzerte stattfinden.

In einer Kirche soll nicht geklatscht werden. Seinem Gott applaudiert man nicht!

Auch beim Betreten eines Gotteshauses Eintritt zu bezahlen finde ich sehr befremdlich.

Anne Bonny
02.03.2016, 13:44
Gepfiffen, gegrölt und gepöbelt hat das Publikum? Ich hätte mit faulen Tomaten geschmissen, wenn mir jemand meinen Bach mit Zwischentönen von mir abgelehnten Komponisten verhunzt hätte. :irre:

Bunbury
02.03.2016, 13:51
Gepfiffen, gegrölt und gepöbelt hat das Publikum? Ich hätte mit faulen Tomaten geschmissen, wenn mir jemand meinen Bach mit von mir abgelehnten Komponisten verhunzt hätte. :irre:

Dann dürftest Du ein solches Konzert nicht besuchen oder müßtest Rücksicht nehmen: auf den Interpreten (eine simple Höflichkeitsfrage) und auf andere Konzertbesucher, denen Nach-Bachische Musik keine Schwierigkeiten bereitet. Das Programm war vorher bekannt - und 'Piano Phase' kein irgendwie reingemogeltes Zugabenstück.

Anne Bonny
02.03.2016, 14:05
Dann dürftest Du ein solches Konzert nicht besuchen oder müßtest Rücksicht nehmen: auf den Interpreten (eine simple Höflichkeitsfrage) und auf andere Konzertbesucher, denen Nach-Bachische Musik keine Schwierigkeiten bereitet. Das Programm war vorher bekannt - und 'Piano Phase' kein irgendwie reingemogeltes Zugabenstück.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Mehrzahl der Konzertbesucher die aufgeführten modernen Komponisten kannten. Ich habe jetzt in die Komposition von Steve Reich hineingehört und bin entnervt!

Flüchtling
02.03.2016, 14:12
Da kann man sich allerdings fragen, warum ein Zuhörer viel Geld ausgibt für eine Musik, die ihm nicht gefällt.
Damit er "In" ist, "En Vogue", Apptudejt.

Bunbury
02.03.2016, 14:22
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Mehrzahl der Konzertbesucher die aufgeführten modernen Komponisten kannten. Ich habe jetzt in die Komposition von Steve Reich hineingehört und bin entnervt!

Das sei Dir gegönnt. Aber leitest Du daraus ein individuelles Widerstandsrecht des Konzertbesuchers ab: ein Recht auf das Stören der Veranstaltung, sobald irgendwelche mißliebige Musik ertönt? Dieses Recht müßte wenn dann für alle gelten, also auch für die Feinde der Barockmusik.

P.S.: Man kann sich über unbekannte Komponisten schlaumachen. Dazu braucht man heute nicht mehr als einen Mausklick.

Leila
02.03.2016, 15:10
Auszugsweise Übersetzung des Vorwortes Alessandro Guidottis zur ersten Druckfassung der „Rappresentatione“ (1600):


„Wenn man dieses Werk – oder andere ähnliche – auf der Bühne darstellen und dabei den Anweisungen von Herrn Emilio de’ Cavalieri folgen will, nach denen diese von ihm neu belebte Musikgattung zu verschiedenen Gemütsbewegungen anregt, z. B. zum Mitleid und zur Freude, zum Weinen und Lachen, und ähnlichen (Affekten) ... ich sage, wenn man dieses Werk aufführen will, so ist es erforderlich, daß alles, was dazu gehört, vollkommen sei. Der Sänger muß eine schöne Stimme haben, von guter Intonation und Tragfähigkeit. Er soll ausdrucksvoll singen, leise und laut, ohne Passagenwerk. Vor allem sollte er die Worte gut artikulieren, daß sie verstanden werden, sie mit Bewegungen und Gesten untermalen, die er nicht nur mit den Händen, sondern auch mit. Schritten vollführt – sie sind sehr wertvolle Mittel zur Erregung des Affekts. Die Instrumente müssen gut gespielt werden, und je nach dem Ort der Aufführung – sei es im Theater oder Saal – soll die Anzahl (der eingesetzten Instrumente) variieren, so, daß sie der jeweiligen musikalischen Darbietung angemessen ist; und der Raum sollte nicht mehr als 1000 Personen fassen. Der größeren Ruhe und dem rechten musikalischen Genuß zuliebe müssen alle bequem sitzen. Veranstaltet man Aufführungen in sehr großen Sälen, kann das Publikum unmöglich den ganzen Text verstehen. Der Sänger wäre gezwungen, die Stimme zu verstärken, und dadurch würde der Affekt schwächer zum Ausdruck kommen. Wenn aber der Text nicht verständlich ist, so wird die viele Musik langweilig. Die Instrumente müssen hinter dem Vorhang im Hintergrund der Bühne gespielt werden, von Musikern, die die Sänger voll(stimmig) und ohne Diminutionen begleiten. “

Hrafnaguð
02.03.2016, 16:20
Von einer "Verrohung der Sitten" schreibt die Welt über ein abgebrochenes Konzert in der Kölner Philharmonie, wo ein iranischer Cembalist, der mit Concerto Köln zusammen konzertierte, wohl so vom Publikum gestört wurde, daß er sein Stück abbrechen mußte.
http://www.welt.de/kultur/buehne-konzert/article152816333/Beispiel-der-Verrohung-heutiger-Konzertbesucher.html

Aus Stuttgart kann ich ähnliches berichten. Immer häufiger wird gestört, gestöhnt, gepfiffen, falsch reingeklatscht usw. So als würde man sich im Musical im SI Centrum befinden und nicht in einem klassischen Konzert, wo es gewisse Regeln gibt. Das Lustprinzip greift immer weiter um sich. Was mir nicht gefällt, wird ausgebuht oder ich verlasse einfach den Saal mitten im Werk, was zu anstrengend ist, dem setze ich mich gar nicht mehr aus.
Daß hierduch die Konzentration der Künstler und auch der Spannungsbogen, die Atmosphäre gestört werden, ist dem Zuschauer immer häufiger egal, was nicht sofort gefällt oder "verstanden" wird, wird sofort abserviert.

Sicher zeigt sich hier nicht nur eine Verrohung des Publikums, sondern auch eine zunehmende Entfremdung des Künstlers von seinen Hörern. Warum wird eine Einführung des Werkes nur auf Englisch gegeben? Warum wird nicht übersetzt? Welche Arroganz steckt dahinter, einfach vorauszusetzen, daß in Deutschland jeder Mensch Englisch spricht? Das kann man vielleicht in einem Gemeindehaus in Remscheid machen, aber nicht in der Kölner Philharmonie.

Ein weiterer Grund dürfte die Art sein, wie dem Zuhörer heute Barockmusik überhaupt nur noch präsentiert wird. Schon seit Jahrzehnten versucht die "authentische Aufführungspraxis" dem Hörer auf belehrende Art vorzuschreiben, was die "eigentlich einzig richtige Art" sei, die großen Werke von Bach usw. zu spielen. Der Anspruch dieser Bewegung war von Anfang an ein absoluter und der bescheidenen Zuhörer, der Nicht-Profi, mußte sich erzählen und erklären lassen, was "richtig" sei und was "falsch". Es ging nie darum, was ihm subjektiv gefällt und was nicht.
Das hat der Konzertbesucher zwar auch gegelaubt und akzeptiert, aber was bekam er geliefert?
In den meisten Fällen einen kaum differenzierten Klangbrei, indem Stimmen nicht mehr herauszuhören sind, in dem viele solistischen Streicher oder Holzbläser einfach mangels Lautstärke gegenüber den Sängern hoffnungslos untergingen, in dem wichtige Teile der Struktur nicht mehr erkennbar waren, in Klein-Besetzungen und atemlosen Tempi, wo Werke wie die Matthäuspassion jegliche Dramatik verloren, die aber angeblich "authentisch" sein sollten.
Wer heute noch auf Youtube sieht, wie andächtig und ergriffen die Hörer früher bei den Ansbacher Bachwochen einem Richter gelauscht hatten, wie beeindruckt sie von einer h-moll-Messe waren, und wer das mit heute vergleicht, der wird wohl konstatieren müssen, daß die mangelnde Begeisterung der Zuhörer auch mit der Aufführungspraxis zusammenhängt.
Belehren ließ sich der Konzertbesucher zwar, gefallen hat es ihm im Unterbewußtsein aber trotzdem nicht.
Und wenn dann noch ellenlange und eintönige Minimal music von Reich oder Glass auf dem Programm steht, dann schwappt der Unmut bzw. die Langeweile eben über. Insofern sollten auch die klassischen Musiker mal darüber nachdenken, wie sie das Publikum wieder für ein Werk begeistern können, und weniger darüber, welches nun die absolut "korrekte" weil originalgetreue Aufführungspraxis sei. Ein Aufführungsziel, das meiner Meinung schon vom Ansatz her falsch ist.

http://www.focus.de/regional/koeln/eklat-in-der-koelner-philharmonie-publikum-erzwingt-konzert-abbruch-reden-sie-doch-gefaelligst-deutsch_id_5326791.html
http://www.ksta.de/kultur/konzert-in-der-koelner-philharmonie-abgebrochen--reden-sie-doch-gefaelligst-deutsch---23646344




Ich glaube der eigentliche Skandal war wohl die Zusammenlegung solch widersprüchlicher Programmpunkte. Minimalmusik und "Neue Musik" zusammen mit Bach aufzuführen.
Während Frith und Gorecki ja noch interessant sein mögen, das Stück "Piano Phase" von Reich allerdings ist 18min völlig eintöniges Geklimper, das sicherlich gut als Themengrundlage
für ein Technostück dienen kann wo es bös durch Filter und Klangverformer gejagt wird, aber in einem dann auch Bach wartenden Publikum wie eine Klangfolter wirken kann, auch wenn
es keine Disharmonie in sich hat. Nicht jeder mag 18min lang die gleiche Tonfolge hören. Das ist so typischer Kunstdreck. Konzeptkunst in Noten, Hirnfick, Schwachsinn, Entartung.
Kein Wunder wenn dann irgendwann die Leute anfangen bekloppt zu spielen.

Bunbury
02.03.2016, 17:03
Kein Wunder[,] wenn dann irgendwann die Leute anfangen[,] bekloppt zu spielen.

Das schaffen die Leute auch so.

derNeue
02.03.2016, 19:53
Am schlimmsten finde ich es einfach in dem Zusammenhang, wenn in Kirchen Klassikkonzerte stattfinden.

In einer Kirche soll nicht geklatscht werden. Seinem Gott applaudiert man nicht!

Auch beim Betreten eines Gotteshauses Eintritt zu bezahlen finde ich sehr befremdlich.

Ich kann gut verstehen, wenn gläubige Christen keine klassischen Konzerte in ihrer Kirche wünschen. Das habe ich auch sehr häufig erlebt.
Es gibt aber natürlich auch die Meinung, daß man umgekehrt eine Matthäuspassion überhaupt nur in einer Kirche und nicht in einem Konzertsaal aufführen darf. So weit würde ich aber nie gehen. Man kann Bach auch nur unter dem rein künstlerischen Aspekt betrachten und schätzen.

derNeue
02.03.2016, 20:00
Ich glaube der eigentliche Skandal war wohl die Zusammenlegung solch widersprüchlicher Programmpunkte. Minimalmusik und "Neue Musik" zusammen mit Bach aufzuführen.
Während Frith und Gorecki ja noch interessant sein mögen, das Stück "Piano Phase" von Reich allerdings ist 18min völlig eintöniges Geklimper, das sicherlich gut als Themengrundlage
für ein Technostück dienen kann wo es bös durch Filter und Klangverformer gejagt wird, aber in einem dann auch Bach wartenden Publikum wie eine Klangfolter wirken kann, auch wenn
es keine Disharmonie in sich hat. Nicht jeder mag 18min lang die gleiche Tonfolge hören. Das ist so typischer Kunstdreck. Konzeptkunst in Noten, Hirnfick, Schwachsinn, Entartung.
Kein Wunder wenn dann irgendwann die Leute anfangen bekloppt zu spielen.

Es kann aber auch manchmal sehr reizvoll sein, Altes und Neues gegenüber zu stellen. In jeder Kunstrichtung. Falls Du zufällig das Rathaus in Bergisch-Gladbach/Bensberg kennst: da wurde sehr gelungen alte und neue Architektur kombiniert.

Aber daß Bach zu einem S. Reich paßt, finde ich auch nicht. Auf der einen Seite Musik mit einer unendlichen Detailfülle und Ausdruckskraft, auf der anderen Seite die bekannte monotone Meditationsmasche.

Insgesamt sehe ich die ganze MM auch eher unter dem Aspekt der revolutionären Erneuerung der Musik, wofür es ja so zahlreiche Beispiele im 20. Jahrhundert gibt. Unter rein künstlerischen Gesichtspunkten finde ich sie nicht so interessant, ebensowenig wie z.B. die Zwölftonmusik, die sich ja entgegen Schönbergs Erwartungen auch nach 100 Jahren nicht durchgesetzt hat, aber immer ihren Stellenwert in der Musikgeschichte behalten wird. Ist nur meine persönliche Meinung, andere Musiker sehen das ganz anders.

Hrafnaguð
02.03.2016, 20:14
Es kann aber auch manchmal sehr reizvoll sein, Altes und Neues gegenüber zu stellen. In jeder Kunstrichtung. Falls Du zufällig das Rathaus in Bergisch-Gladbach/Bensberg kennst: da wurde sehr gelungen alte und neue Architektur kombiniert.

Aber daß Bach zu einem S. Reich paßt, finde ich auch nicht. Auf der einen Seite Musik mit einer unendlichen Detailfülle und Ausdruckskraft, auf der anderen Seite die bekannte monotone Meditationsmasche.

Insgesamt sehe ich die ganze MM auch eher unter dem Aspekt der revolutionären Erneuerung der Musik, wofür es ja so zahlreiche Beispiele im 20. Jahrhundert gibt. Unter rein künstlerischen Gesichtspunkten finde ich sie nicht so interessant, ebensowenig wie z.B. die Zwölftonmusik, die sich ja entgegen Schönbergs Erwartungen auch nach 100 Jahren nicht durchgesetzt hat, aber immer ihren Stellenwert in der Musikgeschichte behalten wird. Ist nur meine persönliche Meinung, andere Musiker sehen das ganz anders.


Ist halt auch Geschmackssache. Aber Steve Reich mit Bach zusammenzupacken, das ist in sich schon eine Verhöhnung des Genies der Bachs.
Hätte man andere zeitgenössische Komponisten genommen, wie etwa Alfred Schnittke (dessen moderne Chorwerke herausragend sind, für meinen Geschmack zumindest),
das wäre etwas anderes gewesen. Gut, das ist keine Musik fürs Cembalo. Aber. Bach mit Reich zusammenpacken, das hat schon was von Ignoranz. Hätten die Leute aber
ausgehalten, wie sehr hätte der Bach da einschlagen können nach dieser monoton gewollten "Kunst". Als würdest du aus einem verdreckten Klosett in einen Rosengarten
kommen und dort wandeln.

Bunbury
02.03.2016, 21:07
Aber Steve Reich mit Bach zusammenzupacken, das ist in sich schon eine Verhöhnung des Genies der Bachs.

Piano, piano, per favore. Nicht daß Steve Reich mich im Übermaß beschäftigt - aber so wie hier über ihn geschrieben wird, sehe ich mich zu seiner Verteidigung aufgerufen. Der wertende Vergleich mit Bach kann nur zuungunsten Reichs ausgehen. Es ist aber auch ein schiefer und deshalb unsinniger Vergleich. Zunächst einmal: Bach als der letzte Nachfahre der frankoflämischen Polyphonie, Bach als der einzige Komponist, bei dem sich exzessive Kontrapunktik mit einem unerhörten Bewußtsein für Funktionsharmonik (mit modalen Einsprengseln) paart, ist ein singuläres Phänomen. Es gab gute Gründe, warum die nachfolgende Generation (incl. der Bach-Söhne) daran nicht mehr angeknüpft hat, und es ist Komponisten seitdem auch nicht gut bekommen, wenn sie sich in historisierender Manier zu direkt an Bach angelehnt haben, wie z.B. Reger, Hindemith oder auch Schönberg und Strawinsky in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie standen dann immer in Versuchung, statt eigenständig zu arbeiten, auf der Grundlage einer moderneren Harmonik und Instrumentationsweise schlechte Bach-Imitationen abzuliefern.

Wenn nun eine Musik satztechnisch auf einer ganz anderen Grundlage entsteht, auf Mehrstimmigkeit verzichtet und keine Entwicklung oder Fortsetzungslogik kennt, ist es unsinnig, kontrapunktische Finessen oder motivisch-thematische Arbeit bei ihr zu suchen. Eine Kohleskizze ist etwas anderes als ein großformatiges Ölgemälde.

'Piano Phase' ist ein experimentelles Werk, in dem Reich - wie schon gesagt - seine aus den Tonbandstücken gewonnene Erfahrung (Phasenverschiebung) auf ein Tonhöheninstrument überträgt und dabei schematisiert: mit einer konstant beibehaltenen Tonfolge in dem einen Instrument und derselben, um jeweils eine Zählzeit verschobenen Tonfolge in dem anderen Instrument. Diese Musik ist sehr unterkühlt; sie will keine Emotionen wecken. Wer übrigens etwas Anspruchsvolleres und Charakteristisches von Reich kennenlernen will, dem sei 'Eight Lines' empfohlen, die 'Music for a large ensemble' oder 'City Life'.

Bunbury
02.03.2016, 21:29
Eight lines:


https://www.youtube.com/watch?v=CuJCp9wsaj8

Music for a large ensemble:


https://www.youtube.com/watch?v=Udn9cZYWmIk

City life:


https://www.youtube.com/watch?v=OY5_cwN1i74

Oder 'Electric Counterpoint Nr.3', der sogar schon gesamplet wurde:


https://www.youtube.com/watch?v=NmWgIidnXX4

Hrafnaguð
02.03.2016, 21:45
Piano, piano, per favore. Nicht daß Steve Reich mich im Übermaß beschäftigt - aber so wie hier über ihn geschrieben wird, sehe ich mich zu seiner Verteidigung aufgerufen. Der wertende Vergleich mit Bach kann nur zuungunsten Reichs ausgehen. Es ist aber auch ein schiefer und deshalb unsinniger Vergleich. Zunächst einmal: Bach als der letzte Nachfahre der frankoflämischen Polyphonie, Bach als der einzige Komponist, bei dem sich exzessive Kontrapunktik mit einem unerhörten Bewußtsein für Funktionsharmonik (mit modalen Einsprengseln) paart, ist ein singuläres Phänomen. Es gab gute Gründe, warum die nachfolgende Generation (incl. der Bach-Söhne) daran nicht mehr angeknüpft hat, und es ist Komponisten seitdem auch nicht gut bekommen, wenn sie sich in historisierender Manier zu direkt an Bach angelehnt haben, wie z.B. Reger, Hindemith oder auch Schönberg und Strawinsky in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie standen dann immer in Versuchung, statt eigenständig zu arbeiten, auf der Grundlage einer moderneren Harmonik und Instrumentationsweise schlechte Bach-Imitationen abzuliefern.

Wenn nun eine Musik satztechnisch auf einer ganz anderen Grundlage entsteht, auf Mehrstimmigkeit verzichtet und keine Entwicklung oder Fortsetzungslogik kennt, ist es unsinnig, kontrapunktische Finessen oder motivisch-thematische Arbeit bei ihr zu suchen. Eine Kohleskizze ist etwas anderes als ein großformatiges Ölgemälde.

'Piano Phase' ist ein experimentelles Werk, in dem Reich - wie schon gesagt - seine aus den Tonbandstücken gewonnene Erfahrung (Phasenverschiebung) auf ein Tonhöheninstrument überträgt und dabei schematisiert: mit einer konstant beibehaltenen Tonfolge im einen Instrument und derselben, um jeweils eine Zählzeit verschobenen Tonfolge in dem anderen Instrument. Diese Musik ist sehr unterkühlt; sie will keine Emotionen wecken. Wer übrigens etwas Anspruchsvolleres und Charakteristisches von Reich kennenlernen will, dem sei 'Eight Lines' empfohlen, die 'Music for a large ensemble' oder 'City Life'.



Interessant. Da ich "hobbymäßig" vom Fach bin (also ein Homestudio betreibe, früher noch mit Bandmaschinen gearbeitet habe), hab ich das aus dem Stück
herausgehört ohne zu wissen worum es da eigentlich ging. Trotzdem mag es ein Durchschnittspublikum das nun auf Bach fiebert in seiner Länge überfordern.
Ich bin offen für alles, das aber, naja, interessant, aber in meinen Augen keine wirkliche Musik.
Obwohl ich für Monotonie durchaus zu haben bin, da ich privat mit binauralen Beats beschäftigt bin, die von monotonen Synthesizerfilterfahrten begleitet werden,
in die aber durchaus harmonische Elemente verschiedener Instrumente (Stimmen, Chöre, Synth-Glocken, traditionelle Instrumente) hineingespielt werden. Ist dann halt 30min die gleiche Harmonie. Funktionsmusik, wenn Du so willst.

Bach war mit Sicherheit ein singuläres Ereignis. Er ist ja auch zu seiner Zeit nicht nur wohlwollend wahrgenommen worden (seelenlose Nähmaschinenmusik, ich weiß nicht mehr wer das gesagt hatte) und ich finde auch nicht alles gut. Seine Partitas und Sonatas für Violine Solo gehören für mich persönlich zu den Favoriten.

"Eight Lines" und "Electric Counterpoint" von Reich hab ich mir mal angehört, das ist schön zu hören. Danke für diesen anderen Eindruck Reichs der mir bis dato unbekannt war und dessen "Piano Phase" mir hier nun eher unangenehm aufgefallen ist. Ich denke das die Chance zu einem "Skandal" bei diesem Stück weitaus geringer gewesen wäre.

Gothaur
02.03.2016, 22:22
Der SPIEGEL schreibt, das Stück von Steve Reich sei für die Zuhörer "zu schwierig" gewesen. Das ist so eine Standartformulierung, wenn das Publikum keine "moderne" Musik mag. In dem Fall stimmt das überhaupt nicht. Minimal Music ist die am einfachsten zu hörende Musikrichtungim ganzen 20. Jahrhundert. Sie ist nur schlicht sehr eintönig und das gefällt nicht jedem.
http://www.spiegel.de/kultur/musik/koeln-konzert-in-philharmonie-abgebrochen-das-war-kein-rassismus-a-1080145.html
Da kannst Du mal sehen, wie unterschiedlich doch die Auffassung bezüglich er Minimal Music ist. Ich finde sie ungeheuer spannend, und auch, wie beispielsweise "Music for 18 Musicians" und ähnliches von Steve Reich ungeheuer entspannend. Wenn meine Frau mithörte, wurde sie immer rappelig dabei, und stand unter Anspannung, ich konnte hingegen herrlich drauf mich irgendwohin meditieren. :)
Oder die Obertonwerke von Glenn Branka, - wow! höre ich immer wieder gerne,- obwohl ich ein großer Liebhaber der Renaissence und des frühen Barock bin. Vielleicht auch gerade deshalb. Wahrscheinlich sogar.
Aber auch ein Avo Pärt, für mich ebenso Minimalist, fängt mein Herz, und hält es fest.
Diese Aufregung nach den Rufen finde ich arg blödsinnig, - ein bezeichnender Schnappreflex in diesen Tagen. Und in der Tat finde ich es eher bedauerlich, daß ausgerechnet Steve Reich solch einen Unmut hervorrief. Aber er ist nicht so einfach. Ich weiß, daß er auch Nervosität und Aggressionen hervorruft.
Aber Beifall und Wut aus dem Publikum gab es immer schon, ist ja auch völlig okey. Nur dieser Facebook-Hype im Anschluß, diese dämliche Anmache und Gehetze anschließend, das fällt aus dem Rahmen.
Gruß

derNeue
03.03.2016, 07:25
Ist halt auch Geschmackssache. Aber Steve Reich mit Bach zusammenzupacken, das ist in sich schon eine Verhöhnung des Genies der Bachs.
Hätte man andere zeitgenössische Komponisten genommen, wie etwa Alfred Schnittke (dessen moderne Chorwerke herausragend sind, für meinen Geschmack zumindest),
das wäre etwas anderes gewesen. Gut, das ist keine Musik fürs Cembalo. Aber. Bach mit Reich zusammenpacken, das hat schon was von Ignoranz. Hätten die Leute aber
ausgehalten, wie sehr hätte der Bach da einschlagen können nach dieser monoton gewollten "Kunst". Als würdest du aus einem verdreckten Klosett in einen Rosengarten
kommen und dort wandeln.

Exakt auf den Punkt getroffen! Schnittke wollte ich gerade nennen, für mich der bedeutendste Komponist der Gegenwart. Mit seiner polystilistischen Schreibweise hätte er hervorragend zu Bach gepaßt. Etwa ein Concerto grosso von Schnittke. Man hätte dann ein tolles Stück gehört, was auch das Cembalo fordert und in der Form wie auch in den Einzelmotiven einen klaren Bezug zu Bach herstellt.
Aber meistens ist es ja eher so, daß gefragt wird, was der Künstler gerade im Repertoire hat und spielen möchte und dann muß man darauf eben Rücksicht nehmen. Leider ist es auch nach wie vor so, daß russische Komponisten im gegensatz zu amerikanischen etwas stiefmütterlich behandelt werden. (Wie in der Politik auch). Wie lange hat es z.B. gedauert, bis Schostakowitsch sich nach dem Kieg im Westen drchgesetzt hat? In den 50er und 60er Jahren hat man immer in Hindemith die Nr.1 gesehen. Da spielen immer viele Dinge eine Rolle. Z.B. ist Schnittke extrem schwer für das Orchester. Da hätte man viel Probenzeit gebraucht. Und ob er Solowerke für Cembalo geschrieben hat, weiß ich jetzt nicht.

derNeue
03.03.2016, 07:39
Piano, piano, per favore. Nicht daß Steve Reich mich im Übermaß beschäftigt - aber so wie hier über ihn geschrieben wird, sehe ich mich zu seiner Verteidigung aufgerufen. Der wertende Vergleich mit Bach kann nur zuungunsten Reichs ausgehen. Es ist aber auch ein schiefer und deshalb unsinniger Vergleich. Zunächst einmal: Bach als der letzte Nachfahre der frankoflämischen Polyphonie, Bach als der einzige Komponist, bei dem sich exzessive Kontrapunktik mit einem unerhörten Bewußtsein für Funktionsharmonik (mit modalen Einsprengseln) paart, ist ein singuläres Phänomen. Es gab gute Gründe, warum die nachfolgende Generation (incl. der Bach-Söhne) daran nicht mehr angeknüpft hat, und es ist Komponisten seitdem auch nicht gut bekommen, wenn sie sich in historisierender Manier zu direkt an Bach angelehnt haben, wie z.B. Reger, Hindemith oder auch Schönberg und Strawinsky in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie standen dann immer in Versuchung, statt eigenständig zu arbeiten, auf der Grundlage einer moderneren Harmonik und Instrumentationsweise schlechte Bach-Imitationen abzuliefern.

Aber alle diese Komponisten haben Bach nie "imitiert". Das wollten die auch gar nicht. Sie wollten vielmehr auf der Grundlage der Tradition etwas ganz neues schaffen. Und das haben sie mit dem neoklassizistischen Stil am Anfang des letzten Jhrh. auch getan. Wenn Du das als Imitation bezeichnest, dann kannst Du auch sagen, z.B. Chopin habe mit seinen 24 Preludes Bach "imitiert", nur weil er sich formal an ihn angelehnt hat. Das ist etwas ganz anderes. Außerdem kannst Du Bachs Musik nicht auf seine Kontrapunktik allein reduzieren. Das ist nur ein Teilbereich seines gesamten Werkes und seiner Bedeutung. Bach wäre immer noch der wichtigste Barockkomponist, wenn er nie eine Fuge geschrieben hätte. Allein schon der Kantaten wegen.

Natürlich kann man Reich nicht mit Bach vergleichen, da er ja, wie Du sagst einen völlig anderen Ansatz hatte. Es ist eben ein grundsätzlicher Unterschied, ob jemand die Musik nur revolutionieren will und damit berühmt wird, oder ob jemand, aus welcher Motivation heraus auch immer, einzigartige Werke schafft, die dann tatsächlich unsterblich werden.

derNeue
03.03.2016, 07:57
Da kannst Du mal sehen, wie unterschiedlich doch die Auffassung bezüglich er Minimal Music ist. Ich finde sie ungeheuer spannend, und auch, wie beispielsweise "Music for 18 Musicians" und ähnliches von Steve Reich ungeheuer entspannend. Wenn meine Frau mithörte, wurde sie immer rappelig dabei, und stand unter Anspannung, ich konnte hingegen herrlich drauf mich irgendwohin meditieren. :)
Oder die Obertonwerke von Glenn Branka, - wow! höre ich immer wieder gerne,- obwohl ich ein großer Liebhaber der Renaissence und des frühen Barock bin. Vielleicht auch gerade deshalb. Wahrscheinlich sogar.
Aber auch ein Avo Pärt, für mich ebenso Minimalist, fängt mein Herz, und hält es fest.
Diese Aufregung nach den Rufen finde ich arg blödsinnig, - ein bezeichnender Schnappreflex in diesen Tagen. Und in der Tat finde ich es eher bedauerlich, daß ausgerechnet Steve Reich solch einen Unmut hervorrief. Aber er ist nicht so einfach. Ich weiß, daß er auch Nervosität und Aggressionen hervorruft.
Aber Beifall und Wut aus dem Publikum gab es immer schon, ist ja auch völlig okey. Nur dieser Facebook-Hype im Anschluß, diese dämliche Anmache und Gehetze anschließend, das fällt aus dem Rahmen.
Gruß

Mit den Obertönen zu experimentieren, ist ja auch so eine Modeerscheinung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Nicht erst seit dem "Gesang der Vögel", auch z.B, die russische sehr gute Komponistin S. Gubaidulina hat das sehr ausgiebig getan. Diese ganzen Richtungen werden ja auch unter dem begriff "Neue Einfachheit" zusammengefaßt. Die MM war da nur der Ausgangspunkt. Ich persönlich höre das ganz gerne zum Entspannen und Abschalten oder zum Versenken und "Wohlfühlen", .B. auf der Autobahn. Wie sich andere eben zum gleichen Zweck eine CD von Hildegard von Bingen auflegen. Und diese Musik war für die Komponisten auch eine Reaktion auf die krass atonale postserielle Musik, die niemand mehr hören (und spielen) wollte. Wer z.B. Lachemann kennt, der schätzt dann Avo Pärt umso mehr.
Mir gefällt das schon, aber das ergreift mich nie so sehr wie irgend ein Werk von Bach, Schumann oder Beethoven, Schnittke usw. Und das hat nichts mit der Epoche oder dem Stil zu tun, sondern mt der dahinter stehenden Idee und musikalischen Aussage.

derNeue
03.03.2016, 08:01
Ist halt auch Geschmackssache. Aber Steve Reich mit Bach zusammenzupacken, das ist in sich schon eine Verhöhnung des Genies der Bachs.
Hätte man andere zeitgenössische Komponisten genommen, wie etwa Alfred Schnittke (dessen moderne Chorwerke herausragend sind, für meinen Geschmack zumindest),
das wäre etwas anderes gewesen. Gut, das ist keine Musik fürs Cembalo. Aber. Bach mit Reich zusammenpacken, das hat schon was von Ignoranz. Hätten die Leute aber
ausgehalten, wie sehr hätte der Bach da einschlagen können nach dieser monoton gewollten "Kunst". Als würdest du aus einem verdreckten Klosett in einen Rosengarten
kommen und dort wandeln.
Übrigens: hervorragend gepaßt hätten auch die Cembalo solo Werke von Ligeti:"Hungarian Rock" oder "Continuum", falls Du die nicht kennst, hör sie Dir mal an, tolle Stücke.

Bunbury
03.03.2016, 08:26
Aber alle diese Komponisten haben Bach nie "imitiert".

Doch - oft bei Reger, in den Finalfugen vieler seiner Werke, oder satztechnisch: mit einem sehr gelehrten, historisierenden Kontrapunkt (die ewigen Fugati); ähnlich bei Hindemith. Strawinksy hat sich in "Dumbarton Oaks" der Aufgabe mit mehr Witz entzogen; wie so oft bei ihm ist das Werk Hommage und zugleich Ironisierung.


Wenn Du das als Imitation bezeichnest, dann kannst Du auch sagen, z.B. Chopin habe mit seinen 24 Preludes Bach "imitiert", nur weil er sich formal an ihn angelehnt hat. Das ist etwas ganz anderes.

Das käme mir auch nie in den Sinn. Chopins "Préludes" verneigen sich vor dem WTK und transformieren es völlig; es kommt etwas ganz anderes dabei heraus, wie Du schreibst.


Außerdem kannst Du Bachs Musik nicht auf seine Kontrapunktik allein reduzieren.

Das habe ich auch nicht getan. Im Gegenteil, ich sprach davon, daß Bach ein ungeheueres Bewußtsein für Harmonik besaß; dazu sehe man sich nur die Choräle an.


Es ist eben ein grundsätzlicher Unterschied, ob jemand die Musik nur revolutionieren will [...]

Aber das ist doch albern; das kannst Du nicht im Ernst meinen. Es setzt sich doch niemand hin und erklärt: So, jetzt mache ich aus Prinzip alles anders, um mich vom Rest der Welt und den Vorvätern abzuheben etc. Das ist eine polemische Trivialherleitung des Neuen, mit der man jeden Neuerer, Schönberg und viele andere, zu diskreditieren versucht hat. Wie gesagt, ich bin kein enragierter Reich-Anhänger. Aber man muß doch allem Gerechtigkeit widerfahren lassen, auch dem Fernerstehenden. Reich war Berio-Schüler und kam mit dem herrschenden Serialismus und Postserialismus nicht zurecht. Er wollte lieber tonal oder modal komponieren und fand in Berio glücklicherweise einen Lehrer, der ihn darin ermutigt hat. Das war also der erste Schritt: weg von der totalen Chromatik. Gleichzeitig empfand Reich aber auch die alte Funktionstonalität als ungenügend, desgleichen die Strukturierung von Musik durch Modulationspläne etc. Ihm schwebte eine aus Klangbändern strukturierte Musik vor, und er war dabei wie viele amerikanische Komponisten von der ostasiatischen Musik beeinflußt (Cowell, Harrison, Partch), speziell von der Gamelan-Musik - der zweite Schritt. Die Musik sollte sich aber trotzdem in jedem Detail logisch aus einem Ordnungsprinzip herleiten; darin blieb Reich dem Ideal der seriellen Avantgarde treu. Daher seine Obsession für "Musik als graduellen Prozeß", später für Kanonik, Diminutionen, Augmentationen - der dritte Schritt. Aus alledem ist Reichs Personalstil entstanden.

Leila
03.03.2016, 08:36
[…] Wer heute noch auf Youtube sieht, wie andächtig und ergriffen die Hörer früher bei den Ansbacher Bachwochen einem Richter gelauscht hatten, wie beeindruckt sie von einer h-moll-Messe waren, und wer das mit heute vergleicht, der wird wohl konstatieren müssen, daß die mangelnde Begeisterung der Zuhörer auch mit der Aufführungspraxis zusammenhängt. […]

Ein paar Termine (bei „CLASSICA“ (http://www.classica.de/de):

Mittwoch, 2.3.2016, 06:05 Uhr: Händel, Orgelkonzert B-Dur op. 4/6
Donnerstag, 3.3.2016, 14:55 Uhr: Bach, Brandenburgisches Konzert Nr. 4 G-Dur BWV 104
Dienstag, 8.3.2016, 10:00 Uhr: Händel, Orgelkonzert F-Dur op. 4/5
Mittwoch, 9.3.2016, 10:00 Uhr: Bach, Partita Nr. 1 B-Dur BWV 825

Wie immer in bester audiovisueller Qualität!

Nanu
03.03.2016, 08:41
Wenn Du das als Imitation bezeichnest, dann kannst Du auch sagen, z.B. Chopin habe mit seinen 24 Preludes Bach "imitiert", nur weil er sich formal an ihn angelehnt hat. Das ist etwas ganz anderes.

Bach ist Mathematiker, Chopeng Chinese.

Leila
03.03.2016, 09:29
Das Benehmen bzw. das Verhalten des Publikums betreffend:

Mitte der 1960er-Jahre besuchte ich mit meinem seligen Vater in einer Stadt im Land Italien eine musikalische und gesangliche Darbietung. Was damals gespielt und gesungen wurde, habe ich vergessen. – Nun werde ich zur Priesterin, die an den Glauben appelliert: Es wurde gegessen, getrunken und mitgesummt! Manche Zuhörer rauchten und husteten sogar. Eine Frau gab mir geröstete Mandeln zu essen, die ich mit meinen Zähnen knackte.

Als die musikalische und gesangliche Darbietung zu Ende war, erhoben sich die Zuhörer, um stehend zu applaudieren. Sie riefen mehrmals laut „bravo“ und „bravissimo“!

Beim Abendessen spulte eine vornehme Frau die Kassette ihres Kassettenrecorders zurück; und alle, die am reichgedeckten Tisch saßen, sangen das Gehörte abermals, als das Tonband von vorn zu laufen begann. – Da wußte ich: Ich werde einst eine Sängerin! — Leider wurde ich bloß eine Erzählerin.

Tutsi
03.03.2016, 09:41
Ich glaube auch, daß viel eingebrochen ist - in der Kunstszene - in "kulturzeit" einmal gesehen, wie Regisseure die Sänger nackt auftreten ließen, also ohne Kostüm - war dann aber bald weg - weil sie alles modern machen wollten.

Aber, sind wir mal ehrlich: die Zuschauer kleiden sich aber auch nicht mehr, als gingen sie in ein niveauvolles Konzert, sondern in eine Frittenbude - wie ich hörte, machen manche Menschen Jeans und Rollkragenpullover zum Standard der Kleiderordnung. Wie paßt das alles zusammen ?


Von einer "Verrohung der Sitten" schreibt die Welt über ein abgebrochenes Konzert in der Kölner Philharmonie, wo ein iranischer Cembalist, der mit Concerto Köln zusammen konzertierte, wohl so vom Publikum gestört wurde, daß er sein Stück abbrechen mußte.
http://www.welt.de/kultur/buehne-konzert/article152816333/Beispiel-der-Verrohung-heutiger-Konzertbesucher.html

Aus Stuttgart kann ich ähnliches berichten. Immer häufiger wird gestört, gestöhnt, gepfiffen, falsch reingeklatscht usw. So als würde man sich im Musical im SI Centrum befinden und nicht in einem klassischen Konzert, wo es gewisse Regeln gibt. Das Lustprinzip greift immer weiter um sich. Was mir nicht gefällt, wird ausgebuht oder ich verlasse einfach den Saal mitten im Werk, was zu anstrengend ist, dem setze ich mich gar nicht mehr aus.
Daß hierduch die Konzentration der Künstler und auch der Spannungsbogen, die Atmosphäre gestört werden, ist dem Zuschauer immer häufiger egal, was nicht sofort gefällt oder "verstanden" wird, wird sofort abserviert.

Sicher zeigt sich hier nicht nur eine Verrohung des Publikums, sondern auch eine zunehmende Entfremdung des Künstlers von seinen Hörern. Warum wird eine Einführung des Werkes nur auf Englisch gegeben? Warum wird nicht übersetzt? Welche Arroganz steckt dahinter, einfach vorauszusetzen, daß in Deutschland jeder Mensch Englisch spricht? Das kann man vielleicht in einem Gemeindehaus in Remscheid machen, aber nicht in der Kölner Philharmonie.

Ein weiterer Grund dürfte die Art sein, wie dem Zuhörer heute Barockmusik überhaupt nur noch präsentiert wird. Schon seit Jahrzehnten versucht die "authentische Aufführungspraxis" dem Hörer auf belehrende Art vorzuschreiben, was die "eigentlich einzig richtige Art" sei, die großen Werke von Bach usw. zu spielen. Der Anspruch dieser Bewegung war von Anfang an ein absoluter und der bescheidenen Zuhörer, der Nicht-Profi, mußte sich erzählen und erklären lassen, was "richtig" sei und was "falsch". Es ging nie darum, was ihm subjektiv gefällt und was nicht.
Das hat der Konzertbesucher zwar auch gegelaubt und akzeptiert, aber was bekam er geliefert?
In den meisten Fällen einen kaum differenzierten Klangbrei, indem Stimmen nicht mehr herauszuhören sind, in dem viele solistischen Streicher oder Holzbläser einfach mangels Lautstärke gegenüber den Sängern hoffnungslos untergingen, in dem wichtige Teile der Struktur nicht mehr erkennbar waren, in Klein-Besetzungen und atemlosen Tempi, wo Werke wie die Matthäuspassion jegliche Dramatik verloren, die aber angeblich "authentisch" sein sollten.
Wer heute noch auf Youtube sieht, wie andächtig und ergriffen die Hörer früher bei den Ansbacher Bachwochen einem Richter gelauscht hatten, wie beeindruckt sie von einer h-moll-Messe waren, und wer das mit heute vergleicht, der wird wohl konstatieren müssen, daß die mangelnde Begeisterung der Zuhörer auch mit der Aufführungspraxis zusammenhängt.
Belehren ließ sich der Konzertbesucher zwar, gefallen hat es ihm im Unterbewußtsein aber trotzdem nicht.
Und wenn dann noch ellenlange und eintönige Minimal music von Reich oder Glass auf dem Programm steht, dann schwappt der Unmut bzw. die Langeweile eben über. Insofern sollten auch die klassischen Musiker mal darüber nachdenken, wie sie das Publikum wieder für ein Werk begeistern können, und weniger darüber, welches nun die absolut "korrekte" weil originalgetreue Aufführungspraxis sei. Ein Aufführungsziel, das meiner Meinung schon vom Ansatz her falsch ist.

http://www.focus.de/regional/koeln/eklat-in-der-koelner-philharmonie-publikum-erzwingt-konzert-abbruch-reden-sie-doch-gefaelligst-deutsch_id_5326791.html
http://www.ksta.de/kultur/konzert-in-der-koelner-philharmonie-abgebrochen--reden-sie-doch-gefaelligst-deutsch---23646344

derNeue
03.03.2016, 13:35
Doch - oft bei Reger, in den Finalfugen vieler seiner Werke, oder satztechnisch: mit einem sehr gelehrten, historisierenden Kontrapunkt (die ewigen Fugati); ähnlich bei Hindemith. Strawinksy hat sich in "Dumbarton Oaks" der Aufgabe mit mehr Witz entzogen; wie so oft bei ihm ist das Werk Hommage und zugleich Ironisierung.

Das ist aber keine Imitation. Imitation wäre, wenn ein Komponist versuchen würde, den Stil einer vergangenen Epoche 100% nachzumachen. Es gibt übrigens einen russische Komponisten, der das tatsächlich macht (Name vergessen). Aber die von Dir genannten natürlich gar nicht. Allein schon in der Harmonik nicht. Das hätten die auch weit von sich gewiesen.







Aber das ist doch albern; das kannst Du nicht im Ernst meinen. Es setzt sich doch niemand hin und erklärt: So, jetzt mache ich aus Prinzip alles anders, um mich vom Rest der Welt und den Vorvätern abzuheben etc.

Doch absolut. Vor allem, wenn das Gefühl vorherrscht, daß das Althergebrachte überholt ist und sich nicht mehr weiterentwicklen läßt, wie das z.B. Schönberg hinsichtlich der Tonalität hatte.


Das ist eine polemische Trivialherleitung des Neuen, mit der man jeden Neuerer, Schönberg und viele andere, zu diskreditieren versucht hat.

Man kann natürlich niemanden allein schon deswegen kritisieren, weil er alte Regeln umwirft und etwas ganz Neues entwickelt. Daß die Zeitgenossen das erstmal nicht verstehen, ist normal. Das ging schon Chopin so, dem man vorwarf, seine Musik sei viel zu "chromatisch", weswegen er ja auch von Schumann verteidigt werden mußte.
Aber andererseits ist es eben auch falsch, zu glauben,nur weil jemand etwas Neues macht, daß er deswegen schon geniale Musik schreiben kann. Das hat man in Deutschland nach dem Krieg eine ganze Weile gedacht. Ich habe das zu Studienzeiten in Köln erlebt, wo vom WDR jedes neue Stück als geniales Werk gefeiert wurde, wenn es nur noch extremer und revolutionärer war als das vorige war. Stockhausen und Zimmerman sind da prominente Beispiele. Wer hört sie heute noch? Eigentlich niemand. Und abseits vom Elfenbeinturm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seiner üppigen Fördergelder (und allen, die davon gelebt haben) hat sie auch damals schon eigentlich niemand gehört.

Oft wurde (und wird) auch der Mythos verbreitet, es seien gerade die "großen" Komponisten gewesen, welche die Epoche und den Stil weiter gebracht hätten. Nichts könnte falscher sein. Die sog. "großen Komponisten" waren gerade häufig die Konservativen. Bach ist das beste Bsp. Auch bei Beethoven, der dann oft ins Feld geführt wird, war das nicht der Fall. Seine Spätwerke haben einen ganz eigenen Personalstil, aber mit Sicherheit haben sie nicht das "Tor zur Romantik" geöffnet. Das waren ganz andere Komponisten.
Nicht einmal die Zwölftontechik wurde von Schönberg erfunden, noch die Leitmotivtechnik von C.M. Weber (wie gemeinhin geglaubt wird) , sondern von unbekannten Komponisten, die heute keiner mehr kennt. Die nicht-tonale Musik hat übrigens eigentlich Franz Liszt "erfunden", und das war ja auch nicht gerade der bedeutendste romantische Komponist.


Wie gesagt, ich bin kein enragierter Reich-Anhänger. Aber man muß doch allem Gerechtigkeit widerfahren lassen, auch dem Fernerstehenden. Reich war Berio-Schüler und kam mit dem herrschenden Serialismus und Postserialismus nicht zurecht. Er wollte lieber tonal oder modal komponieren und fand in Berio glücklicherweise einen Lehrer, der ihn darin ermutigt hat. Das war also der erste Schritt: weg von der totalen Chromatik. Gleichzeitig empfand Reich aber auch die alte Funktionstonalität als ungenügend, desgleichen die Strukturierung von Musik durch Modulationspläne etc. Ihm schwebte eine aus Klangbändern strukturierte Musik vor, und er war dabei wie viele amerikanische Komponisten von der ostasiatischen Musik beeinflußt (Cowell, Harrison, Partch), speziell von der Gamelan-Musik - der zweite Schritt. Die Musik sollte sich aber trotzdem in jedem Detail logisch aus einem Ordnungsprinzip herleiten; darin blieb Reich dem Ideal der seriellen Avantgarde treu. Daher seine Obsession für "Musik als graduellen Prozeß", später für Kanonik, Diminutionen, Augmentationen - der dritte Schritt. Aus alledem ist Reichs Personalstil entstanden.

Ich habe auch nicht das geringste gegen Steve Reich! Es gibt Komponisten, die mir viel weniger sagen als Reich oder Glass. Allerdings bedeutet er mir eben auch längst nicht so viel wie ein Bach. Und eben nicht deswegen, weil er in einer anderen Zeit lebte und einen ganz anderen Stil sowie eine völlig andere Absicht mit seinen Kompositionen verfolgt hat. Sondern einfach deswegen, weil ich seine Werke "nicht so gut" finde wie die von Bach, um es mal ganz banal auszudrücken. Bei anderen Komponisten des 20. Jhrh, z.B. Schnittke, ist das schon wieder etwas ganz anderes.

derNeue
03.03.2016, 13:39
Ein paar Termine (bei „CLASSICA“ (http://www.classica.de/de):

Mittwoch, 2.3.2016, 06:05 Uhr: Händel, Orgelkonzert B-Dur op. 4/6
Donnerstag, 3.3.2016, 14:55 Uhr: Bach, Brandenburgisches Konzert Nr. 4 G-Dur BWV 104
Dienstag, 8.3.2016, 10:00 Uhr: Händel, Orgelkonzert F-Dur op. 4/5
Mittwoch, 9.3.2016, 10:00 Uhr: Bach, Partita Nr. 1 B-Dur BWV 825

Wie immer in bester audiovisueller Qualität!
Danke für den Hinweis!

derNeue
03.03.2016, 13:41
Ich glaube auch, daß viel eingebrochen ist - in der Kunstszene - in "kulturzeit" einmal gesehen, wie Regisseure die Sänger nackt auftreten ließen, also ohne Kostüm - war dann aber bald weg - weil sie alles modern machen wollten.

Aber, sind wir mal ehrlich: die Zuschauer kleiden sich aber auch nicht mehr, als gingen sie in ein niveauvolles Konzert, sondern in eine Frittenbude - wie ich hörte, machen manche Menschen Jeans und Rollkragenpullover zum Standard der Kleiderordnung. Wie paßt das alles zusammen ?
Bei der Kleidung bin ich da nicht so kritisch, aber ich finde, man darf eine Veranstaltung jedenfalls nicht stören.

Mr. BIG
03.03.2016, 15:36
Piano, piano, per favore. Nicht daß Steve Reich mich im Übermaß beschäftigt - aber so wie hier über ihn geschrieben wird, sehe ich mich zu seiner Verteidigung aufgerufen. Der wertende Vergleich mit Bach kann nur zuungunsten Reichs ausgehen. Es ist aber auch ein schiefer und deshalb unsinniger Vergleich. Zunächst einmal: Bach als der letzte Nachfahre der frankoflämischen Polyphonie, Bach als der einzige Komponist, bei dem sich exzessive Kontrapunktik mit einem unerhörten Bewußtsein für Funktionsharmonik (mit modalen Einsprengseln) paart, ist ein singuläres Phänomen. Es gab gute Gründe, warum die nachfolgende Generation (incl. der Bach-Söhne) daran nicht mehr angeknüpft hat, und es ist Komponisten seitdem auch nicht gut bekommen, wenn sie sich in historisierender Manier zu direkt an Bach angelehnt haben, wie z.B. Reger, Hindemith oder auch Schönberg und Strawinsky in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie standen dann immer in Versuchung, statt eigenständig zu arbeiten, auf der Grundlage einer moderneren Harmonik und Instrumentationsweise schlechte Bach-Imitationen abzuliefern.

Wenn nun eine Musik satztechnisch auf einer ganz anderen Grundlage entsteht, auf Mehrstimmigkeit verzichtet und keine Entwicklung oder Fortsetzungslogik kennt, ist es unsinnig, kontrapunktische Finessen oder motivisch-thematische Arbeit bei ihr zu suchen. Eine Kohleskizze ist etwas anderes als ein großformatiges Ölgemälde.

'Piano Phase' ist ein experimentelles Werk, in dem Reich - wie schon gesagt - seine aus den Tonbandstücken gewonnene Erfahrung (Phasenverschiebung) auf ein Tonhöheninstrument überträgt und dabei schematisiert: mit einer konstant beibehaltenen Tonfolge in dem einen Instrument und derselben, um jeweils eine Zählzeit verschobenen Tonfolge in dem anderen Instrument. Diese Musik ist sehr unterkühlt; sie will keine Emotionen wecken. Wer übrigens etwas Anspruchsvolleres und Charakteristisches von Reich kennenlernen will, dem sei 'Eight Lines' empfohlen, die 'Music for a large ensemble' oder 'City Life'.

Bei mir hörte nach Gott Bach beim Bela Bartok bislange die Musik auf.
Danke Bunbury, dass durch dich mir das sauschwer zu spielende Nervengesäge etwas Neues eröffnet hat.

Werde mir das Werk nach 2-3 Monate lange nötiger Erholung trotzdem nochmals geben!:hi:

Tutsi
03.03.2016, 16:30
Bei der Kleidung bin ich da nicht so kritisch, aber ich finde, man darf eine Veranstaltung jedenfalls nicht stören.

Ist halt eine Menge eingerissen, was früher gesellschaftliche Norm bezüglich Würde, Respekt und Achtung hatte. Heute darf Jeder alles und immer und keiner wird gestoppt.
Das geht über billige Beleidigungen und kommender Fäkalsprache einher.
Und ich denke, daß Menschen sich dann fragen, wo sie und ob sie bei diesen "Spielchen" mitmachen wollen.
Und Jeder muß für sich entscheiden, inwiefern er bei seinen Überzeugungen bleibt.

Was haben die Zuschauer direkt erwartet und früher war Kino mal ein Saal, wo alle gespannt dem Film folgten - heute wird überall gegessen - was man auch etwas derber ausdrücken könnte,
dementsprechend sieht es auch überall aus. Eßkultur - naja - nicht bei McDonalds - es fehlt nur noch, daß man in einem Konzert auch mit Pommes Frits und großer Trinkflasche antanzen kann.

Die Selfie Kultur - wer will schon noch Musik nur hören - und die Musik - was das Experementieren angeht - da kommen Leute, die mit Haushaltsgeräten oder Straßenlärm neue Musik machen wollen -
irgendwie geht alles den Bach runter....man sieht es, wenn man sich umschaut....

Gothaur
03.03.2016, 18:24
Mit den Obertönen zu experimentieren, ist ja auch so eine Modeerscheinung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Nicht erst seit dem "Gesang der Vögel", auch z.B, die russische sehr gute Komponistin S. Gubaidulina hat das sehr ausgiebig getan. Diese ganzen Richtungen werden ja auch unter dem begriff "Neue Einfachheit" zusammengefaßt. Die MM war da nur der Ausgangspunkt. Ich persönlich höre das ganz gerne zum Entspannen und Abschalten oder zum Versenken und "Wohlfühlen", .B. auf der Autobahn. Wie sich andere eben zum gleichen Zweck eine CD von Hildegard von Bingen auflegen. Und diese Musik war für die Komponisten auch eine Reaktion auf die krass atonale postserielle Musik, die niemand mehr hören (und spielen) wollte. Wer z.B. Lachemann kennt, der schätzt dann Avo Pärt umso mehr.
Mir gefällt das schon, aber das ergreift mich nie so sehr wie irgend ein Werk von Bach, Schumann oder Beethoven, Schnittke usw. Und das hat nichts mit der Epoche oder dem Stil zu tun, sondern mt der dahinter stehenden Idee und musikalischen Aussage.
Der Witz ist ja folgender: diese Einfachheit hat es von der Technik her in sich. Vor allen durch dieses kontinuierliche, diese Beständigkeit der Wiederholung, in der sich nach und nach die Veränderung, die Variation einspeist, und so die Komposition Stück für Stück weitergeht und variiert.
Das ist bei Reich noch völlig anders, als beispielsweise bei Glenn Branca. Der hatte oft genug was regelrecht Totales, ja auch Totalitäres, das sich im Bombastischen ausdrückt. Das gefällt mir, wenn zich gleiche Instrumente, Orgeln, Flügel, E-Guitarren zum Gleichen anstimmen.
Wahrscheinlich gefallen mir auch deshalb die bretonischen Bagads so sehr, die es ja nicht anders machen, wenn in einer Formation bis zu 30/30/40 Dudelsack-, und Schalmeienbläser und Trommler aufspielen.
Aber als Beispiel minimaler Oper möchte ich jetzt auf Philip Glass - Akhnaten verweisen, denn diese Oper eletrisierte mich schon vor mehr als 25 Jahren, als ich sie erstmalig hörte.

https://www.youtube.com/watch?v=aPvTwoTtFCA&list=PLTUlTwlsdlFTrjbZltuhnFcvWemE96yjb
Am besten, alle Stücke, die ganze Oper durchhören. Ich habe sie schon lange hier in meinem Vinyl Fundus. :)
Gruß

Bunbury
04.03.2016, 10:15
Lieber Neuer,


Das ist aber keine Imitation. Imitation wäre, wenn ein Komponist versuchen würde, den Stil einer vergangenen Epoche 100% nachzumachen.

da verwechselst Du Imitation mit Stilkopie. Imitation bedeutet: Adaption bestimmter Schaffensprinzipien, künstlerischer Arbeitsweisen, in einem anderen Kontext, wobei sich Unstimmigkeiten zwischen den alten und neuen Stilelementen ergeben können. Genau das ist bei Reger der Fall: Satztechnisch halten sich dessen Fugen und Fugati an die Regeln der Bach-Zeit, die ungeheuer differenzierte Alterationsharmonik verlangt aber ganz andere Stimmführungsregeln. Ähnliches bei Schönberg in den frühen 12-tönigen Stücken, deren Satztechnik und Form an tonale Musik (wieder)erinnert, wozu die exzessive Chromatik aber in Widerspruch steht.



Doch absolut. Vor allem, wenn das Gefühl vorherrscht, daß das Althergebrachte überholt ist und sich nicht mehr weiterentwicklen läßt, wie das z.B. Schönberg hinsichtlich der Tonalität hatte.

Das ist grandioser Unfug. Kein seriöser Künstler arbeitet nach solchen Prinzipien, höchstens ein Dilettant. Gerade Schönberg hat mit einer gewissen Naivität für sich reklamiert, nichts als die Tradition fortgeführt zu haben. Sieh Dir seine Schriften an, z.B. "Style and Idea": nichts als Klassikeranalysen. Schönberg hat im Unterricht nie etwas anderes als die Klassiker gelehrt: Bach, Mozart, Beethoven. Brahms.

Der Verzicht auf die Tonalität lag um 1910 einfach in der Luft, er wurde um diese Zeit nicht nur in der Schönberg-Schule, sondern auch bei Skrjabin und den Skrjabinisten in Rußland und bei Ives in den USA vollzogen, vollkommen unabhängig voneinander. Er war die Konsequenz aus der Zerrüttung der Tonalität bei Wagner und Liszt. Schönberg, Webern, Berg hatten nie im Sinn, auf eine Grundtonart als Bezugspunkt zu verzichten. Das ergab sich nur irgenwann von selbst, durch die tonale Überdifferenzierung und die Erweiterung der Tonalität um ganztönige Komplexe, Quartenakkordik, die Arbeit mit mehreren tonalen Zentren etc. Ab einem gewissen Punkt war es absurd, noch Vorzeichen zu notieren (ähnlich übrigens bei Reger). Niemand behauptet, daß es seitdem keine Tonalität mehr geben dürfe. Zumindest hat Schönberg das nie postuliert. Der Verzicht auf Tonalität ist ein genauso legitimes Kunstmittel wie die Beibehaltung der Tonalität.


Aber andererseits ist es eben auch falsch, zu glauben,nur weil jemand etwas Neues macht, daß er deswegen schon geniale Musik schreiben kann.

Kein ernstzunehmender Künstler würde das glauben und Genialität für sich reklamieren; so quasseln nur Kritiker.


Das hat man in Deutschland nach dem Krieg eine ganze Weile gedacht. Ich habe das zu Studienzeiten in Köln erlebt, wo vom WDR jedes neue Stück als geniales Werk gefeiert wurde, wenn es nur noch extremer und revolutionärer war als das vorige war. Stockhausen und Zimmerman sind da prominente Beispiele. Wer hört sie heute noch?

Ich zum Beispiel.


Oft wurde (und wird) auch der Mythos verbreitet, es seien gerade die "großen" Komponisten gewesen, welche die Epoche und den Stil weiter gebracht hätten. Nichts könnte falscher sein. Die sog. "großen Komponisten" waren gerade häufig die Konservativen. Bach ist das beste Bsp. Auch bei Beethoven, der dann oft ins Feld geführt wird, war das nicht der Fall. Seine Spätwerke haben einen ganz eigenen Personalstil, aber mit Sicherheit haben sie nicht das "Tor zur Romantik" geöffnet. Das waren ganz andere Komponisten.
Nicht einmal die Zwölftontechik wurde von Schönberg erfunden, noch die Leitmotivtechnik von C.M. Weber (wie gemeinhin geglaubt wird) , sondern von unbekannten Komponisten, die heute keiner mehr kennt. Die nicht-tonale Musik hat übrigens eigentlich Franz Liszt "erfunden", und das war ja auch nicht gerade der bedeutendste romantische Komponist.

Du gehst von völlig falschen Prämissen aus. Wie schon gesagt, kein Künstler setzt sich hin und entscheidet: Ab heute mache ich alles anders. Wenn Du das glaubst, ist Dir der schöpferische Arbeitsprozeß herzlich unvertraut. Ein Künstler sucht mit ganz bestimmten Ausdrucksmitteln etwas zu sagen, wobei die Ausdrucksmittel in Relation zum Inhalt stehen (sollten). Von Generation zu Generation ergibt sich eine Steigerung der Ausdsrucksmittel, bis das Ganze dialektisch umschlägt: Dann ist plötzlich Reduktion die Steigerung bzw. Ausgangsbasis für etwas Neues (z.B. beim Übergang von der Spätrenaissance zum Barock oder vom Barock zur Frühklassik).

Bach war so neu für seine Zeit, daß sie ihn verdrängen mußte, um das, was er tat, zu verkraften. Völlig singulär bei ihm ist die Kombination der kontrapunktischen Künste (der alten frankoflämischen Schule) mit funktioneller Harmonik. Beethoven hat die motivisch-thematische Arbeit ins Extrem gesteigert; im Grunde genommen ist bei ihm alles schon Durchführung. Das war für seine Zeit unerhört. Schönberg hat das Wiener Ideal der Monothematik bzw. den Willen zur Motivökonomie tief verinnerlicht; aus dem Ideal der Herleitung allen Materials aus einem motivischen Kern ist bei ihm etwas Neues herausgekommen, nämlich die Reihentechnik, zu der es natürlich Vorläufer und Parallelerscheinungen gibt (vor allem die zur selben Zeit und am selben Ort entwickelte 12-Ton-Technik J.M.Hauers - ein musikgeschichtliches Kuriosum...)

Gruß
Bunbury

derNeue
04.03.2016, 11:14
Lieber Neuer,



da verwechselst Du Imitation mit Stilkopie. Imitation bedeutet: Adaption bestimmter Schaffensprinzipien, künstlerischer Arbeitsweisen, in einem anderen Kontext, wobei sich Unstimmigkeiten zwischen den alten und neuen Stilelementen ergeben können. Genau das ist bei Reger der Fall: Satztechnisch halten sich dessen Fugen und Fugati an die Regeln der Bach-Zeit, die ungeheuer differenzierte Alterationsharmonik verlangt aber ganz andere Stimmführungsregeln. Ähnliches bei Schönberg in den frühen 12-tönigen Stücken, deren Satztechnik und Form an tonale Musik (wieder)erinnert, wozu die exzessive Chromatik aber in Widerspruch steht.

Wenn Du es so definieren willst, meinetwegen. Du hast schon recht: Stilkopie wäre der treffendere Ausdruck. Andererseits habe ich noch nie gehört, daß Neoklassizisten ihre Vorbilder "kopiert" hätten. Man spricht dann eher vom Aufgreifen von Stilelementen, aber seis drum.


Das ist grandioser Unfug. Kein seriöser Künstler arbeitet nach solchen Prinzipien, höchstens ein Dilettant. Gerade Schönberg hat mit einer gewissen Naivität für sich reklamiert, nichts als die Tradition fortgeführt zu haben. Sieh Dir seine Schriften an, z.B. "Style and Idea": nichts als Klassikeranalysen. Schönberg hat im Unterricht nie etwas anderes als die Klassiker gelehrt: Bach, Mozart, Beethoven. Brahms.

Natürlich gibt es sehr viele Komponisten, die in erster Linie Grenzen umstoßen wollen. Viele sind gerade dadurch bekannt geworden. Das hat übrigens auch oft etwas mit Marketing zu tun.
Und was Schönberg betrifft: gerade weil er so revolutionär komponierte, hat er andererseits so besonders viel Wert darauf gelegt, in der Tradition der Klassik zu stehen. Das schließt sich keinesfalls aus. Bei Schönberg war es übrigens so, daß er das auch deswegen immer betont hat, um die Qualität seiner Musik damit zu rechtfertigen. Das wird u.a. im Briefwechsel mit R. Strauß und in Äußerungen gegenüber Mahler deutlich. Schon der Name "Neue Wiener Schule" deutet auf eine kapitale Selbstüberschätzung (meiner bescheidenen Meinung nach).


Der Verzicht auf die Tonalität lag um 1910 einfach in der Luft, er wurde um diese Zeit nicht nur in der Schönberg-Schule, sondern auch bei Skrjabin und den Skrjabinisten in Rußland und bei Ives in den USA vollzogen, vollkommen unabhängig voneinander. Er war die Konsequenz aus der Zerrüttung der Tonalität bei Wagner und Liszt. Schönberg, Webern, Berg hatten nie im Sinn, auf eine Grundtonart als Bezugspunkt zu verzichten. Das ergab sich nur irgenwann von selbst, durch die tonale Überdifferenzierung und die Erweiterung der Tonalität um ganztönige Komplexe, Quartenakkordik, die Arbeit mit mehreren tonalen Zentren etc. Ab einem gewissen Punkt war es absurd, noch Vorzeichen zu notieren (ähnlich übrigens bei Reger). Niemand behauptet, daß es seitdem keine Tonalität mehr geben dürfe. Zumindest hat Schönberg das nie postuliert. Der Verzicht auf Tonalität ist ein genauso legitimes Kunstmittel wie die Beibehaltung der Tonalität.

Das ist absolut richtig. Allerdings kannst Du den späten Skjabin nun wirklich nicht mit Schönberg und seinen Schülern vergleichen. Skrjabin hat zwar zwar neue Akkorde "erfunden" und ein eigenes System daraus entwickelt. So gesehen ist seine Musik atonal. Jedoch achtet er immer auf das besondere Spannungsverhältnis zwischen Konsonanzen und Dissonanzen. Bei der neuen Wiener Schule spielen der Klanggehalt der Intervalle überhaupt keine Rolle mehr, weil alle Zusammenklänge Reihenprinzipien unterworfen werden.


Kein ernstzunehmender Künstler würde das glauben und Genialität für sich reklamieren; so quasseln nur Kritiker.

Da scheinst Du nicht so viele Komponisten kennengelernt zu haben. Ich habe so einige kennengelernt und auch teilweise mit ihnen gearbeitet. Ich habe eigentlich nie einen getroffen, der nicht Genialität für sich beansprucht hätte. Ich würde eher so sagen: je schwerer die Musik für den Laien zu "verstehen" ist, umso mehr Wert legt der Urheber auf die Genialität seines Werkes. (Wie eben Schönberg damals auch). Im Durchschnitt. Es gab früher mal eine WDR Reihe in den 70ern, die nannte sich "Workshop neue Musik". Wenn ich daran denke, wie damals mit Ernst und Intellektualität lange darüber diskutiert wurde, ob nun das Schwein in der Kompostion etwas früher einsetzen sollte oder nicht: da kann ich aus heutiger Sicht nur noch drüber schmunzeln.



Ich zum Beispiel.

Da bist Du aber nicht typisch. Schau Dir einfach mal an, wie oft solche werke noch auf den Konzertprogrammen vertreten sind. Ein bekannter Cellist hat mal zu mir gesagt: "Wenn ein moderner Komponist sich beschwert, nicht mehr gespielt zu werden, dann sagt mir das mehr über seine Musik als über die Gesellschaft". Gerade Stockhausen hat sich übrigens vor ein paar Jahren im Interview über diesen Umstand beklagt.



Du gehst von völlig falschen Prämissen aus. Wie schon gesagt, kein Künstler setzt sich hin und entscheidet: Ab heute mache ich alles anders. Wenn Du das glaubst, ist Dir der schöpferische Arbeitsprozeß herzlich unvertraut. Ein Künstler sucht mit ganz bestimmten Ausdrucksmitteln etwas zu sagen, wobei die Ausdrucksmittel in Relation zum Inhalt stehen (sollten). Von Generation zu Generation ergibt sich eine Steigerung der Ausdsrucksmittel, bis das Ganze dialektisch umschlägt: Dann ist plötzlich Reduktion die Steigerung bzw. Ausgangsbasis für etwas Neues (z.B. beim Übergang von der Spätrenaissance zum Barock oder vom Barock zur Frühklassik).

Bach war so neu für seine Zeit, daß sie ihn verdrängen mußte, um das, was er tat, zu verkraften. Völlig singulär bei ihm ist die Kombination der kontrapunktischen Künste (der alten frankoflämischen Schule) mit funktioneller Harmonik. Beethoven hat die motivisch-thematische Arbeit ins Extrem gesteigert; im Grunde genommen ist bei ihm alles schon Durchführung. Das war für seine Zeit unerhört. Schönberg hat das Wiener Ideal der Monothematik bzw. den Willen zur Motivökonomie tief verinnerlicht; aus dem Ideal der Herleitung allen Materials aus einem motivischen Kern ist bei ihm etwas Neues herausgekommen, nämlich die Reihentechnik, zu der es natürlich Vorläufer und Parallelerscheinungen gibt (vor allem die zur selben Zeit und am selben Ort entwickelte 12-Ton-Technik J.M.Hauers - ein musikgeschichtliches Kuriosum...)

Gruß
Bunbury

Dazu später mehr..

Bunbury
04.03.2016, 12:51
]Wenn Du es so definieren willst, meinetwegen. Du hast schon recht: Stilkopie wäre der treffendere Ausdruck. Andererseits habe ich noch nie gehört, daß Neoklassizisten ihre Vorbilder "kopiert" hätten. Man spricht dann eher vom Aufgreifen von Stilelementen, aber seis drum.
Besser: ein verfremdendes Aufgreifen von Stilelementen, wobei Verfremdung und Aneignung (=Imitation) sich gegenseitig legitimieren.



Natürlich gibt es sehr viele Komponisten, die in erster Linie Grenzen umstoßen wollen. Viele sind gerade dadurch bekannt geworden. Das hat übrigens auch oft etwas mit Marketing zu tun.
Heute vielleicht - bei jemandem wie Stockhausen sicherlich, der allerdings schon krankhaft selbstbezogen gewesen ist.



Und was Schönberg betrifft: gerade weil er so revolutionär komponierte, hat er andererseits so besonders viel Wert darauf gelegt, in der Tradition der Klassik zu stehen. Das schließt sich keinesfalls aus. Bei Schönberg war es übrigens so, daß er das auch deswegen immer betont hat, um die Qualität seiner Musik damit zu rechtfertigen. Das wird u.a. im Briefwechsel mit R. Strauß und in Äußerungen gegenüber Mahler deutlich. Schon der Name "Neue Wiener Schule" deutet auf eine kapitale Selbstüberschätzung (meiner bescheidenen Meinung nach).

Du bist offenbar ein enragierter Schönberg-Feind. Sei's drum. Die Bezeichnung 'Neue`oder 'Zweite Wiener Schule' ist apokryph. Sie stammt nicht von Schönberg oder seinen Schülern. Schönbergs Traditionsbezug war kein Reklame-Gag, sondern ernsthaft, und der Hauptbelastungszeuge dafür ist sein Werk. Das hat ja gerade die nachfolgende Generation der Serialisten so auf die Palme gebracht (Boulez et al.), die den Traditionsbruch bei ihm vermißten.



Das ist absolut richtig. Allerdings kannst Du den späten Skjabin nun wirklich nicht mit Schönberg und seinen Schülern vergleichen. Skrjabin hat zwar zwar neue Akkorde "erfunden" und ein eigenes System daraus entwickelt. So gesehen ist seine Musik atonal. Jedoch achtet er immer auf das besondere Spannungsverhältnis zwischen Konsonanzen und Dissonanzen. Bei der neuen Wiener Schule spielen der Klanggehalt der Intervalle überhaupt keine Rolle mehr, weil alle Zusammenklänge Reihenprinzipien unterworfen werden.
Was ja schon mal für die Werke der sogenannten freien Atonalität nicht gilt; die sind harmonisch wunderbar ausgehört. In den frühen 12-Ton-Stücken tritt die Harmonik zurück, aber auch dort gibt es rein klanglich empfundene Stellen.



Da scheinst Du nicht so viele Komponisten kennengelernt zu haben. Ich habe so einige kennengelernt und auch teilweise mit ihnen gearbeitet. Ich habe eigentlich nie einen getroffen, der nicht Genialität für sich beansprucht hätte. Ich würde eher so sagen: je schwerer die Musik für den Laien zu "verstehen" ist, umso mehr Wert legt der Urheber auf die Genialität seines Werkes. (Wie eben Schönberg damals auch). Im Durchschnitt. Es gab früher mal eine WDR Reihe in den 70ern, die nannte sich "Workshop neue Musik". Wenn ich daran denke, wie damals mit Ernst und Intellektualität lange darüber diskutiert wurde, ob nun das Schwein in der Kompostion etwas früher einsetzen sollte oder nicht: da kann ich aus heutiger Sicht nur noch drüber schmunzeln.

In meinen Kreisen gilt: Eigenlob stinkt. Man sagt zwar: Nur Lumpe sind bescheiden. Aber 'Genie' ist verpönt - als Bestandteil typischer Bildungsbürgerphrasen.



Da bist Du aber nicht typisch. Schau Dir einfach mal an, wie oft solche werke noch auf den Konzertprogrammen vertreten sind. Ein bekannter Cellist hat mal zu mir gesagt: "Wenn ein moderner Komponist sich beschwert, nicht mehr gespielt zu werden, dann sagt mir das mehr über seine Musik als über die Gesellschaft". Gerade Stockhausen hat sich übrigens vor ein paar Jahren im Interview über diesen Umstand beklagt.
Hat aber nichts zu besagen. Sie sind inzwischen halt Klassiker. 'Die Soldaten' werden alle Naslang aufgeführt - der horrenden Schwierigkeiten zum Trotz.

derNeue
04.03.2016, 19:41
Du gehst von völlig falschen Prämissen aus. Wie schon gesagt, kein Künstler setzt sich hin und entscheidet: Ab heute mache ich alles anders. Wenn Du das glaubst, ist Dir der schöpferische Arbeitsprozeß herzlich unvertraut. Ein Künstler sucht mit ganz bestimmten Ausdrucksmitteln etwas zu sagen, wobei die Ausdrucksmittel in Relation zum Inhalt stehen (sollten).

So hatte ich das auch nicht gemeint. Natürlich setzt sich keiner hin und macht von heute auf morgen etwas ganz Neues. Das ist schon ein meist lebenslanger Prozess. Allerdings spielt dabei meist der revolutionäre Geist einer größere Rolle als die Suche nach dem musikalischen Inhalt. Und eben auch oft die Lust an der Provokation und die simple Kalkulation, damit bekannt zu werden. Weil, wie man ja auch sieht, im Schnitt gerade diejenigen Komponisten heute zu den "Bedeutendsten zählen, die nicht die großen Neuerer waren.


Bach war so neu für seine Zeit, daß sie ihn verdrängen mußte, um das, was er tat, zu verkraften. Völlig singulär bei ihm ist die Kombination der kontrapunktischen Künste (der alten frankoflämischen Schule) mit funktioneller Harmonik.
Bach ein Neuerer? Finde ich gerade nicht. Er hatte einen sehr ausgeprägten Personalstil, was für seine Zeit sehr ungewöhnlich war. Nach Forkel spielte er doch mal Reinken eine seiner Fugen vor. Der sagte: "Ich dachte, diese Kunst sei ausgestorben, sehe jetzt aber, daß sie in Ihnen noch lebt". Mit anderen Worten: Fugen waren schon längst aus der Mode. Als er seine Matthäuspassion uraufführte, wurde sein altmodischen "zu cantabler" Stil kritisert. Und die Funktionsharmonik hat er auch nicht erfunden. Wahrscheinlich kannte er nichtmal die Begriffe Tonika Dominante und Subdominante, die stammen von Rameau. Bach hat die Harmonik halt perfekt beherrscht und virtuos gehandhabt, ansonsten war er stilistisch ein Fossil in seiner Zeit.


Beethoven hat die motivisch-thematische Arbeit ins Extrem gesteigert; im Grunde genommen ist bei ihm alles schon Durchführung. Das war für seine Zeit unerhört.
Auch hier wieder: starker Personalstil, aber keineswegs der Türöffner für die Romantik. Der ging es um völlig andere Inhalte. Das war Schubert, der zur gleichen Zeit völlig anders komponierte.


Schönberg hat das Wiener Ideal der Monothematik bzw. den Willen zur Motivökonomie tief verinnerlicht; aus dem Ideal der Herleitung allen Materials aus einem motivischen Kern ist bei ihm etwas Neues herausgekommen, nämlich die Reihentechnik, zu der es natürlich Vorläufer und Parallelerscheinungen gibt (vor allem die zur selben Zeit und am selben Ort entwickelte 12-Ton-Technik J.M.Hauers - ein musikgeschichtliches Kuriosum...)

Weiß jetzt nicht genau, wie Du das meinst. Welches Ideal der Monothematik? Die Wiener Klassik (auf die Schönberg sich ja bezog), geht normalerweise von 2-3 Themen aus. In der Romantik findet man das Entwicklen eine ganzen Satzes aus einer einzigen Idee heraus vielleicht bei Brahms, aber sonst?

derNeue
04.03.2016, 20:01
Besser: ein verfremdendes Aufgreifen von Stilelementen, wobei Verfremdung und Aneignung (=Imitation) sich gegenseitig legitimieren.


Heute vielleicht - bei jemandem wie Stockhausen sicherlich, der allerdings schon krankhaft selbstbezogen gewesen ist.

Nicht nur er. Zimmermann war genau so. Und Riehm z.B. heute auch.


Du bist offenbar ein enragierter Schönberg-Feind. Sei's drum. Die Bezeichnung 'Neue`oder 'Zweite Wiener Schule' ist apokryph. Sie stammt nicht von Schönberg oder seinen Schülern. Schönbergs Traditionsbezug war kein Reklame-Gag, sondern ernsthaft, und der Hauptbelastungszeuge dafür ist sein Werk. Das hat ja gerade die nachfolgende Generation der Serialisten so auf die Palme gebracht (Boulez et al.), die den Traditionsbruch bei ihm vermißten.

Naja, nur weil einer über ein Stück "Triosonate" o.ä. schreibt, und die Sätze Menuett und Trio nennt und dann vielleicht noch einen Dreiviertel Takt angibt, steht er für mich noch nicht zwingend in der Tradition von Haydn.
Ich bin kein Schönberg "Feind", gebe aber zu, daß er nicht gerade zu meinen Lieblingskomponisten gehört. Meine Einschätzung musikalischer Qualität ist natürlich, wie bei jedem anderen Menschen, Profi oder Laie, völlig subjektiv. Viele Musiker sehen das ganz anders als ich, und ich könnte ihnen nie die Berechtigung zu ihrer Sichtweise absprechen.
Im Grunde ist es mir völlig egal, welchen Stil jemand hat, welcher Epoche er angehört, welchen Zweck oder welche Aussage sein Werk beeinhaltet. Das alles trenne ich von der Qualität der Musik an sich. Letztlich kommt es für mich nur auf eines an: spricht es mich an oder nicht? Kann mich die Musik mitreißen oder eher nicht?


Was ja schon mal für die Werke der sogenannten freien Atonalität nicht gilt; die sind harmonisch wunderbar ausgehört. In den frühen 12-Ton-Stücken tritt die Harmonik zurück, aber auch dort gibt es rein klanglich empfundene Stellen.

"Rein klanglich empfundene Stellen" mag es sicher geben, das allein ist mir in Bezug auf den harmonischen Anspruch allerdings etwas zu wenig. Außerdem ist ja auch die Frage, ob das vom Komponsten überhaupt so gewollt ist. Wenn ich mit geschlossenen Augen in die Farbeimer greife, und Farbklatscher blind auf die Leinwand werfe, entstehen durch Zufall auch immer einige ausdrucksvolle Kombinationen.


In meinen Kreisen gilt: Eigenlob stinkt. Man sagt zwar: Nur Lumpe sind bescheiden. Aber 'Genie' ist verpönt - als Bestandteil typischer Bildungsbürgerphrasen.

Wenn Du aber in der Kunst etwas ganz Neues machst, und damit viel Kritik einsteckst, dann mußt Du als Komponist schon ein starkes Selbstbewußtsein haben und von Dir überzeugt sein. Und das sind sie meistens auch (meiner Erfahrung nach).


Hat aber nichts zu besagen. Sie sind inzwischen halt Klassiker. 'Die Soldaten' werden alle Naslang aufgeführt - der horrenden Schwierigkeiten zum Trotz.
Die Soldaten hält sich noch einigermaßen, eine Oper ist eben auch immer leichter zu hören als ein absolutes Werk. Aber der ganze große Rest?

Leila
05.03.2016, 09:50
Warum sind die Kompositionen Mozarts, Rossinis und Verdis allgemein beliebter als die Kompositionen Bergs, Schönbergs und Weberns?

Bunbury
05.03.2016, 09:52
Kann es sein, daß Dir jede Art von Neuerung verdächtig vorkommt? Nach Deiner Logik dürfte es bis heute nix anderes als den Gregorianischen Choral geben, denn schon die Entwicklung der Mehrstimigkeit unter Leonin/Perotin war ja das Werk "inhaltsleerer Provokateure".


Natürlich setzt sich keiner hin und macht von heute auf morgen etwas ganz Neues. Das ist schon ein meist lebenslanger Prozess. Allerdings spielt dabei meist der revolutionäre Geist einer größere Rolle als die Suche nach dem musikalischen Inhalt. Und eben auch oft die Lust an der Provokation und die simple Kalkulation, damit bekannt zu werden. Weil, wie man ja auch sieht, im Schnitt gerade diejenigen Komponisten heute zu den "Bedeutendsten zählen, die nicht die großen Neuerer waren.

Dann müßte nach Deiner Logik der nur auf seine Bedeutung schielende Komponist neuerungsfeindlich sein.


Bach ein Neuerer? Finde ich gerade nicht. Er hatte einen sehr ausgeprägten Personalstil, was für seine Zeit sehr ungewöhnlich war. Nach Forkel spielte er doch mal Reinken eine seiner Fugen vor. Der sagte: "Ich dachte, diese Kunst sei ausgestorben, sehe jetzt aber, daß sie in Ihnen noch lebt". Mit anderen Worten: Fugen waren schon längst aus der Mode. Als er seine Matthäuspassion uraufführte, wurde sein altmodischen "zu cantabler" Stil kritisert. Und die Funktionsharmonik hat er auch nicht erfunden. Wahrscheinlich kannte er nichtmal die Begriffe Tonika Dominante und Subdominante, die stammen von Rameau. Bach hat die Harmonik halt perfekt beherrscht und virtuos gehandhabt, ansonsten war er stilistisch ein Fossil in seiner Zeit.

Fugen gab's zu Bachs Zeit wie Sand am Meer, auch bei Telemann oder Händel und anderen evangelischen Kirchenmusikern. Altertümlich war Bachs Rückbezug auf die kontrapunktischen Künste der alten Niederländer (=Frankoflamen). Natürlich hat er auch die Funktionsharmonik nicht erfunden. Aber jetzt zum dritten Mal: die Verquickung kontrapunktischer Setzweise (Imitation, Augmentationen, Diminutionen, Spiegelformen), mit funktionstonalem Denken; die Kontrapunktik nicht mehr auf modaler, sondern funktionstonaler Basis, war singulär und zugleich prägend für alle nachfolgenden Komponisten, die sich darin geübt haben.


Auch hier wieder: starker Personalstil, aber keineswegs der Türöffner für die Romantik. Der ging es um völlig andere Inhalte. Das war Schubert, der zur gleichen Zeit völlig anders komponierte.

Ich sprach nicht von der Zugehörigkeit zu irgendwelchen Stilepochen, sondern von musikalischem Handwerk: bei Beethoven von der ins Extrem gesteigerten motivisch-thematischen Arbeit, die quasi den gesamten Sonatenhauptsatz zu einer Durchführung werden läßt. Darin war Beethoven schulbildend für alle Komponisten nach ihm. Das hat nichts mit Klassik oder Romantik zu tun.



Weiß jetzt nicht genau, wie Du das meinst. Welches Ideal der Monothematik? Die Wiener Klassik (auf die Schönberg sich ja bezog), geht normalerweise von 2-3 Themen aus. In der Romantik findet man das Entwickeln eine ganzen Satzes aus einer einzigen Idee heraus vielleicht bei Brahms, aber sonst?

In der Wiener Klassik (--> Haydn) herrscht das Prinzip der Motivökonomie bzw. der motivischen Ableitung der Themen auseinander, d.h. Themen unterscheiden sich vielleicht charakterlich, sind aber miteinander verwandt. Eine Ausnahme bildet Mozart, wenn nicht auch er dem Extrem, der Monothematik huldigt wie z.B. in den späten Streichquintetten, in denen alle Themen aus einem Kern entwickelt sind.


´Naja, nur weil einer über ein Stück "Triosonate" o.ä. schreibt, und die Sätze Menuett und Trio nennt und dann vielleicht noch einen Dreiviertel Takt angibt, steht er für mich noch nicht zwingend in der Tradition von Haydn.

Wär auch schwieirg, weil Haydn gerade die Triosonate überwunden hat (Pfui! ein Neuerer!) und den generalbaß-freien Tonsatz entwickelt hat. Das impliziert übrigens kein Werturteil. Haydn hatte nichts gegen die Triosonate; ihm ging es darum, eine andere künstlerische Idee zu verwirklichen.


"Rein klanglich empfundene Stellen" mag es sicher geben, das allein ist mir in Bezug auf den harmonischen Anspruch allerdings etwas zu wenig. Außerdem ist ja auch die Frage, ob das vom Komponsten überhaupt so gewollt ist. Wenn ich mit geschlossenen Augen in die Farbeimer greife, und Farbklatscher blind auf die Leinwand werfe, entstehen durch Zufall auch immer einige ausdrucksvolle Kombinationen.

Also, das ist - nach allem, was Du bisher geschrieben hast - weit unter Deinem Niveau. Wenn sich Dir eine bestimmte Musik nicht erschließt, weil Du überfordert bist, folgt daraus nicht, daß der Komponist ein Spinner oder Scharlatan gewesen ist. Alban Berg war von der 12-Ton-Technik gerade wegen ihrer tonalen Möglichkeiten überzeugt: weil sie ihm eine Rückkkehr zum Komponieren mit der erweitert-tonalen Harmonik erlaubte. Bei Schönberg ist diese Rückkehr zur Tonalität ebenfalls zu beobachten (z.B. im Klavierkonzert). Nur Webern hat sich dem Gegenteil verschrieben: einer tonalitätsfreien Musik, bei der sich aber durch die Reduktion auf wenige Akkorde auch eine sehr reizvolle Harmonik ergibt.


Wenn Du aber in der Kunst etwas ganz Neues machst, und damit viel Kritik einsteckst, dann mußt Du als Komponist schon ein starkes Selbstbewußtsein haben und von Dir überzeugt sein.

Und daran ist nichts Verwerfliches. Soll man sich denn von einem feindseligen Umfeld kaputtmachen lassen?

Kreuzbube
05.03.2016, 10:01
Knorkator machten seinerzeit keinen Hehl daraus, was sie von ihren Fans halten...

https://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=sGcBuwPD4rw

Bolle
05.03.2016, 10:09
Warum sind die Kompositionen Mozarts, Rossinis und Verdis allgemein beliebter als die Kompositionen Bergs, Schönbergs und Weberns?

Bitte nicht vergessen dass die heutige "Klassik" zu ihrer Zeit auch Pop-Musik war. Die damaligen Hörer hatten auch unterschiedliche Geschmäcker und eben auch ihre "Hitparaden"!

Leila
05.03.2016, 10:19
Bitte nicht vergessen dass die heutige "Klassik" zu ihrer Zeit auch Pop-Musik war. Die damaligen Hörer hatten auch unterschiedliche Geschmäcker und eben auch ihre "Hitparaden"!

Hoi, Bolle!

Für Dich: Ein paar Statistiken (http://operabase.com/visual.cgi?lang=de&splash=t&go=go).

Gruß von Leila ;)

Bolle
05.03.2016, 10:22
Hoi, Bolle!

Für Dich: Ein paar Statistiken (http://operabase.com/visual.cgi?lang=de&splash=t&go=go).

Gruß von Leila ;)

Liebste Laila, das sind Statistiken aus der heutigen Zeit, von heutigen Aufführungen und Hörern . Das sagt uns nichts über die Hörgewohnheiten früherer Jahrhunderte.

Leila
05.03.2016, 10:54
Liebste Laila, das sind Statistiken aus der heutigen Zeit, von heutigen Aufführungen und Hörern . Das sagt uns nichts über die Hörgewohnheiten früherer Jahrhunderte.

Leider kenne ich keine Statistiken „über die Hörgewohnheiten früherer Jahrhunderte“ (aus Zeiten, als 90 Prozent der Menschen Bauern waren).


[…] Ich zum Beispiel. […]

Ich auch, lieber Bunbury!

Als musikalische Allesfresserin besitze ich von Stockhausen viele LPs und Bücher. Hier eine Auswahl:

Don
05.03.2016, 11:09
Die Transgender-Show in einem Atemzug mit Opern und klassischer Musik zu nennen - das muß man erst mal bringen.

Den pubertären Zirkus bei jenem Spektakel habe ich nie verstanden.

Nun, Rocky Horror ist an sich ein C- oder D- Movie. Er persifliert aber mit unzähligen überkitschten Details das alte Genre aus den 50ern derart maßlos, daß er Kult wurde. Wer zu jung ist und das nur noch von Szenekinos kennt die ihn immer noch für ein halbes Dutzend Zuschauer spielen kann den Hype nicht nachvollziehen.
Ich selbst verstehe junge Leute nicht, die den Zirkus im Puppenkistenformat heute nachäffen, die Alten haben damit im Grunde schon lange abgeschlossen.

Aber egal. Ich flog mit einer Gruppe Freunde in den 80ern mal aus dem Domicile in München raus. Einer Kellermusikkneipe. Dort spielte "Cicero", ein Jazzpianist. Der uns anging, weil wir es wagten während seiner Darbietung mit den Weißbiergläsern anzustoßen. Worauf er zur Antwort bekam "spiel weiter, Clown" oder so ähnlich. Das eskalierte dann etwas.
Wenn der Idiot Grabesstille beanspruchte hätte er vor ein paar Rentnern in einem Konzertsaal auftreten können, aber nicht in Schwabing in einer Musikkneipe. In denen ging stets die Post ab.

Und wenn so ein eingebildeter Fatzke wie im beschriebenen Fall auf einem Cembalo klimpert, dabei Kopfhörer trägt so daß nur er die Begleitinstrumente hören kann (eine sogenannte "Performance" vermutlich, mit der der Künstler meist angeblich irgendwas aussagen will) und sich daran stört daß das dem Publikum nicht gefällt, ist das sein Problem. Nicht das der Gesellschaft.

Das alleinige Bedienen eines Instruments auf einer Bühne verleiht keine Immunität, wurscht welches Genre. Und Klassiker sind nicht deshalb per se toll weil es Klassiker sind.
Er soll froh sein daß sie keine faulen Tomaten dabei hatten.
Mein Lieblingsbeispiel hierfür ist Verdis Nabucco. Ich wette jetzt, die meisten widersprechen aufs heftigste weil sie mal den Gefangenenchor gehört haben. Weil das das einzige Stück aus dieser Murksoper ist das jemals in irgendwelchen Medien gespielt wurde. Der Rest ist derart unsäglich schlecht daß mir die Worte fehlen. Ich tat mir das mehrfach an um herauszufinden ob es da etwas gibt in das man sich erstmal reinhören muß. Es gibt nichts. Es ist schlicht furchtbar.
Da hat er geschludert, der Verdi.

Don
05.03.2016, 11:12
Irgendwie wurde der obige Beitrag doppelt, sorry.

derNeue
05.03.2016, 12:17
Warum sind die Kompositionen Mozarts, Rossinis und Verdis allgemein beliebter als die Kompositionen Bergs, Schönbergs und Weberns?

Eine gute Frage, Leila. Eine Frage, über die auch schon viel nachgedacht wurde. Das Hauptproblem der Musik Schönbergs und seiner Nachfolger bis hin zu Boulez und anderen ist, daß sie eine Musik schreiben, die für den Hörer nicht erfahrbar ist. Einfach gesagt: Sie haben ein theoretisches Kompositionsprinzip entworfen, daß allein auf der Aneinaderreihung von Tonreihen, später auch anderer Parameter beruht. Salopp ausgedrückt: sie haben Musik mit dem Rechenschieber gemacht und meinten, damit ein genau so gutes und gültiges System entwickelt zu haben wie das vorangegangene tonale System.
Das ist aber nicht der Fall, denn es ignoriert eine simple Tatsache: Unser harmonisches System, das sich inetwa in der Renaissance herausgebildet hat, beruht nicht auf willkürlichen Festlegungen wie die serielle Musik und die 12 Tontechnik. Es beruht vielmehr auf Naturgersetzen. Diese Gesetze hängen mit dem unterschiedlichen Klangehalt von Konsonanzen und Dissonanzen zusammen und den sich daraus ergebenden Spannungen, die die Grundlage für die abendländische Harmonik schon seit dem Mittelalter bilden. Dieser Klanggehalt wiederum hat physikalische Ursachen, da er mit den Schwingungszahlen der Töne und den sich daraus ergebenden Überschneidungen der Sinuskurven zusammenhängt. Es lohnt sich, sich damit einmal zu beschäftigen, denn unsere ganze abendländische Musik fußt darauf. Das alles wußten die Komponisten der Renaissance natürlich noch nicht, aber sie haben es gehört und aus diesen Hörerfahrungen ihr kompositorischen Gesetze entwickelt.
Und nicht nur die Harmonik: auch der formale Aufbau der Werke, etwa die Sonatenhauptsatzform, die Rondoform, der symmetrische Themenaufbau usw., ist keineswegs willkürlich, sondern entspricht exakt der Hörpsychologie des Zuhörers. Ungefähr kann man sagen: eine Sonate oder eine Sinfonie ist ähnlich gebaut wie eine Geschichte die einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende hat. Das Thema Wiederkennen von Einzelteilen spielt dabei eine psychologisch ganz wichtige Rolle.
Wenn nun ein Schönberg dem ein völlig neues System entgegenstellt, dann mag das auch in sich logisch und konsequent ausgedacht sein. Nur geht es am Hörer vorbei weil es sich eben nicht aus den Naturgesetzen der Akustik und der Psychologie des Zuhöreres in Jahrhunderten entwickelt hat, sondern als theretisches Konzept, quasi im luftleeren Raum.

Veruschka
05.03.2016, 12:28
...

Sicher zeigt sich hier nicht nur eine Verrohung des Publikums, sondern auch eine zunehmende Entfremdung des Künstlers von seinen Hörern. Warum wird eine Einführung des Werkes nur auf Englisch gegeben? Warum wird nicht übersetzt? Welche Arroganz steckt dahinter, einfach vorauszusetzen, daß in Deutschland jeder Mensch Englisch spricht? Das kann man vielleicht in einem Gemeindehaus in Remscheid machen, aber nicht in der Kölner Philharmonie....
Und sowas von dir? Ich meine, du reitest doch so auf Bildung rum, dann dann sollte man schon einigermaßen Englisch verstehen.
Kann die Aufregung jetzt auch nicht nachvollziehen.
Verdi wird ja auch nicht in Deutsch aufgeführt.

Antisozialist
05.03.2016, 12:31
Von einer "Verrohung der Sitten" schreibt die Welt über ein abgebrochenes Konzert in der Kölner Philharmonie, wo ein iranischer Cembalist, der mit Concerto Köln zusammen konzertierte, wohl so vom Publikum gestört wurde, daß er sein Stück abbrechen mußte.
http://www.welt.de/kultur/buehne-konzert/article152816333/Beispiel-der-Verrohung-heutiger-Konzertbesucher.html

Aus Stuttgart kann ich ähnliches berichten. Immer häufiger wird gestört, gestöhnt, gepfiffen, falsch reingeklatscht usw. So als würde man sich im Musical im SI Centrum befinden und nicht in einem klassischen Konzert, wo es gewisse Regeln gibt. Das Lustprinzip greift immer weiter um sich. Was mir nicht gefällt, wird ausgebuht oder ich verlasse einfach den Saal mitten im Werk, was zu anstrengend ist, dem setze ich mich gar nicht mehr aus.
Daß hierduch die Konzentration der Künstler und auch der Spannungsbogen, die Atmosphäre gestört werden, ist dem Zuschauer immer häufiger egal, was nicht sofort gefällt oder "verstanden" wird, wird sofort abserviert.

Sicher zeigt sich hier nicht nur eine Verrohung des Publikums, sondern auch eine zunehmende Entfremdung des Künstlers von seinen Hörern. Warum wird eine Einführung des Werkes nur auf Englisch gegeben? Warum wird nicht übersetzt? Welche Arroganz steckt dahinter, einfach vorauszusetzen, daß in Deutschland jeder Mensch Englisch spricht? Das kann man vielleicht in einem Gemeindehaus in Remscheid machen, aber nicht in der Kölner Philharmonie.

Ein weiterer Grund dürfte die Art sein, wie dem Zuhörer heute Barockmusik überhaupt nur noch präsentiert wird. Schon seit Jahrzehnten versucht die "authentische Aufführungspraxis" dem Hörer auf belehrende Art vorzuschreiben, was die "eigentlich einzig richtige Art" sei, die großen Werke von Bach usw. zu spielen. Der Anspruch dieser Bewegung war von Anfang an ein absoluter und der bescheidenen Zuhörer, der Nicht-Profi, mußte sich erzählen und erklären lassen, was "richtig" sei und was "falsch". Es ging nie darum, was ihm subjektiv gefällt und was nicht.
Das hat der Konzertbesucher zwar auch gegelaubt und akzeptiert, aber was bekam er geliefert?
In den meisten Fällen einen kaum differenzierten Klangbrei, indem Stimmen nicht mehr herauszuhören sind, in dem viele solistischen Streicher oder Holzbläser einfach mangels Lautstärke gegenüber den Sängern hoffnungslos untergingen, in dem wichtige Teile der Struktur nicht mehr erkennbar waren, in Klein-Besetzungen und atemlosen Tempi, wo Werke wie die Matthäuspassion jegliche Dramatik verloren, die aber angeblich "authentisch" sein sollten.
Wer heute noch auf Youtube sieht, wie andächtig und ergriffen die Hörer früher bei den Ansbacher Bachwochen einem Richter gelauscht hatten, wie beeindruckt sie von einer h-moll-Messe waren, und wer das mit heute vergleicht, der wird wohl konstatieren müssen, daß die mangelnde Begeisterung der Zuhörer auch mit der Aufführungspraxis zusammenhängt.
Belehren ließ sich der Konzertbesucher zwar, gefallen hat es ihm im Unterbewußtsein aber trotzdem nicht.
Und wenn dann noch ellenlange und eintönige Minimal music von Reich oder Glass auf dem Programm steht, dann schwappt der Unmut bzw. die Langeweile eben über. Insofern sollten auch die klassischen Musiker mal darüber nachdenken, wie sie das Publikum wieder für ein Werk begeistern können, und weniger darüber, welches nun die absolut "korrekte" weil originalgetreue Aufführungspraxis sei. Ein Aufführungsziel, das meiner Meinung schon vom Ansatz her falsch ist.

http://www.focus.de/regional/koeln/eklat-in-der-koelner-philharmonie-publikum-erzwingt-konzert-abbruch-reden-sie-doch-gefaelligst-deutsch_id_5326791.html
http://www.ksta.de/kultur/konzert-in-der-koelner-philharmonie-abgebrochen--reden-sie-doch-gefaelligst-deutsch---23646344

In den Pendlerzügen sind die Sitten auch nicht besser. Da wird gehustet, laut geredet und telefoniert. Da kann man nicht einmal in Ruhe etwas lesen und holt sich auch noch den Tod.

derNeue
05.03.2016, 12:50
Kann es sein, daß Dir jede Art von Neuerung verdächtig vorkommt? Nach Deiner Logik dürfte es bis heute nix anderes als den Gregorianischen Choral geben, denn schon die Entwicklung der Mehrstimigkeit unter Leonin/Perotin war ja das Werk "inhaltsleerer Provokateure".


Habe ich derartiges geäußert? Ich dachte, aus meinen Beiträgen sei hervorgegangen, daß ich gerade der Meinung bin, im 20. Jahrhundert gibt es unendlich viel großartige Musik, auch atonale. Nur Schönberg etc. zähle ich für mich persönlich weniger dazu. Natürlich muß es ständig Neuerungen in der Kunst geben. Aber andererseits ist nicht jede Neuerung schon deswegen gut, weil sie neu ist.


Dann müßte nach Deiner Logik der nur auf seine Bedeutung schielende Komponist neuerungsfeindlich sein.


? das geht nun irgendwie völlig an dem vorbei, was ich geschrieben habe.


Fugen gab's zu Bachs Zeit wie Sand am Meer, auch bei Telemann oder Händel und anderen evangelischen Kirchenmusikern. Altertümlich war Bachs Rückbezug auf die kontrapunktischen Künste der alten Niederländer (=Frankoflamen). Natürlich hat er auch die Funktionsharmonik nicht erfunden. Aber jetzt zum dritten Mal: die Verquickung kontrapunktischer Setzweise (Imitation, Augmentationen, Diminutionen, Spiegelformen), mit funktionstonalem Denken; die Kontrapunktik nicht mehr auf modaler, sondern funktionstonaler Basis, war singulär und zugleich prägend für alle nachfolgenden Komponisten, die sich darin geübt haben.

Es gab zwar noch Fugen, aber sie waren bereits im Aussterben begriffen. Händel hat vergleichsweise kaum noch welche geschrieben, seine Opern waren demgegenüber der große Erfolg und trafen exakt den Zeitgeschmack.
Übrigens ist es auch nicht ganz richtig, Bach als direkten Nachfahren der frankoflämische-belgischen Vokalpolyphonie der Renaissance zu sehen. Der hatte auch viele andere Einflüsse, die auf seinen Stil gewirkt haben, zB. der italienische Stil Vivaldis u.a. In erster Linie war er aber Autodidakt und am meisten von der Musik seiner eigenen Familie beeinflußt.



Ich sprach nicht von der Zugehörigkeit zu irgendwelchen Stilepochen, sondern von musikalischem Handwerk: bei Beethoven von der ins Extrem gesteigerten motivisch-thematischen Arbeit, die quasi den gesamten Sonatenhauptsatz zu einer Durchführung werden läßt. Darin war Beethoven schulbildend für alle Komponisten nach ihm. Das hat nichts mit Klassik oder Romantik zu tun.

Der Ausgangspunktder Diskussion war aber die Frage der Neuerung (Schönberg). Also die Frage, wer die Epochenentwicklung vorangetrieben hat. Und das war eben nicht Beethoven (s.0.) Wenn wir hier über den Spätstil Beethovens diskutieren wollten, sollten wir einen eigenen Strang dazu eröffnen.




In der Wiener Klassik (--> Haydn) herrscht das Prinzip der Motivökonomie bzw. der motivischen Ableitung der Themen auseinander, d.h. Themen unterscheiden sich vielleicht charakterlich, sind aber miteinander verwandt. Eine Ausnahme bildet Mozart, wenn nicht auch er dem Extrem, der Monothematik huldigt wie z.B. in den späten Streichquintetten, in denen alle Themen aus einem Kern entwickelt sind.

Das ist wahr, das kann man so sagen. Nicht ohne Einschränkung natürlich, Mozart hat auch sehr viele antithetische Themen geschrieben; denke z.B. an das Anfangsthema der Jupitersinfonie.


Wär auch schwieirg, weil Haydn gerade die Triosonate überwunden hat (Pfui! ein Neuerer!) und den generalbaß-freien Tonsatz entwickelt hat. Das impliziert übrigens kein Werturteil. Haydn hatte nichts gegen die Triosonate; ihm ging es darum, eine andere künstlerische Idee zu verwirklichen.

War ja auch nur ein Beispiel. Dann nehmen wir eben eine typisch klassische Form, z.B. das Klaviertrio. Aber was ich damit sagen wollte, wurde doch klar, oder?



Also, das ist - nach allem, was Du bisher geschrieben hast - weit unter Deinem Niveau. Wenn sich Dir eine bestimmte Musik nicht erschließt, weil Du überfordert bist, folgt daraus nicht, daß der Komponist ein Spinner oder Scharlatan gewesen ist. Alban Berg war von der 12-Ton-Technik gerade wegen ihrer tonalen Möglichkeiten überzeugt: weil sie ihm eine Rückkkehr zum Komponieren mit der erweitert-tonalen Harmonik erlaubte. Bei Schönberg ist diese Rückkehr zur Tonalität ebenfalls zu beobachten (z.B. im Klavierkonzert). Nur Webern hat sich dem Gegenteil verschrieben: einer tonalitätsfreien Musik, bei der sich aber durch die Reduktion auf wenige Akkorde auch eine sehr reizvolle Harmonik ergibt.


Nun, da hast Du natürlich recht, das muß ich immer einräumen. Deswegen schreibe ich aber auch immer ausdrücklich "nach meinem Empfinden". Anderen geht es anders. "Überfordern" tut mich die Musik übriges nicht im geringsten, da kenne ich ganz anderes. Ich sehe nur einfach nicht so viel in ihr wie andere. Und es gibt wiederum auch viele Profimusiker, denen es genau so geht wie mir.
Ich halte eben Schönberg nicht für einen genialen Komponist. Das hat Richard Strauß übrigens auch nicht getan und Schönberg war zu Tode betrübt, als er davon erfuhr.
Was kann ich mehr sagen? Ich bin tolerant und akzeptiere andere Meinungen über Musik. Ich kenne Musiker, die halten Korngold für den größten Komponist, der je gelebt hat. Es gibt für solche Fragen keinen objektiven Maßstab.
Es ist wie mit in dem bekannten Spruch: "Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, dann liegt das nicht unbedingt am Buch". Aber eben auch nicht unbedingt am Kopf.
Wir wissen es nicht und wir werden es nie erfahren.


Und daran ist nichts Verwerfliches. Soll man sich denn von einem feindseligen Umfeld kaputtmachen lassen?
Nein das sollte man natürlich nicht.
Aber umgekehrt: jegliche Selbstkritik vermissen zu lassen und die ganze Welt zu verachten, weil sie die selbst geschaffene Kunst nicht ausreichend bewundert, ist wohl auch nicht die beste Haltung.

Leila
05.03.2016, 13:14
[…]

Herzlichen Dank, lieber Neuer, für Deine Ausführungen!

Nun muß ich Dir gestehen, daß ich bloß eine Musikliebhaberin bin. Als solche fehlt mir das musikwissenschaftliche Vokabularium beinahe vollständig – was nicht nur meiner Vergeßlichkeit zuzuschreiben ist, sondern auch der Tatsache, daß ich schon immer lieber Musik hörte als über sie zu theoretisieren.

Weder mit Dir noch mit Bunbury vermag ich daher theoretisch mithalten. Was ich praktisch kann, ist nicht viel: Ich kann mit meinen ungelenken Fingern unbeholfen auf die Tasten eines Klaviers drücken oder die Saiten einer Laute zupfen (und tue ich dies, dann lade ich deshalb keine Zuhörer ein, weil ich imstande bin, mich selbst zu blamieren).

Stockhausens ‚musikalische Darbietungen‘ lernte ich vor vielen Jahren in Osaka kennen. – Aber dies teilte ich schon dort (http://www.politikforen.net/showthread.php?145494-Farbige-n-als-Schwiegertochter-oder-Schwiegersohn&p=6639192&viewfull=1#post6639192) mit!

Generell denke ich, daß jemand, der den Geschmack von Brombeeren dem Geschmack von Erdbeeren vorzieht, genußvoll Brombeeren essen sollte.

Gruß von Leila

P.S.: Zur Zeit höre ich diese Musik sehr gerne:


https://www.youtube.com/watch?v=Ql8mByZwwPg

sunbeam
05.03.2016, 13:19
Ich gehe regelmäßig in die Oper nach München, und ich würde es mir verbitten wenn ein Arschloch im Publikum mitten in einer Arie das Klatschen, Jubeln oder Buhen anfängt. Was mir persönlich auch auffällt, das heutzutage im Kino die Mehrheit unfähig ist, länger als 25 Minuten konzentriert und ruhig einem Film zu folgen. Ich gehe daher seit 15 Jahren nicht mehr ins Kino, das Getuschel, ständige im Film aufstehen, Lichtimpulse von Handys oder Handygeklingel geht mir auf den Sack. Mir kommt es so vor als wäre die Masse nach 30 Jahren Privatfernsehen und den alle 25-Minütigen Werbeunterbrechungen auf eben diese Zyklen konditioniert, alles was länger die Aufmerksamkeit erfordert, macht innerlich unruhig und nervös.

Kreuzbube
05.03.2016, 13:23
Ich gehe regelmäßig in die Oper nach München, und ich würde es mir verbitten wenn ein Arschloch im Publikum mitten in einer Arie das Klatschen, Jubeln oder Buhen anfängt. Was mir persönlich auch auffällt, das heutzutage im Kino die Mehrheit unfähig ist, länger als 25 Minuten konzentriert und ruhig einem Film zu folgen. Ich gehe daher seit 15 Jahren nicht mehr ins Kino, das Getuschel, ständige im Film aufstehen, Lichtimpulse von Handys oder Handygeklingel geht mir auf den Sack. Mir kommt es so vor als wäre die Masse nach 30 Jahren Privatfernsehen und den alle 25-Minütigen Werbeunterbrechungen auf eben diese Zyklen konditioniert, alles was länger die Aufmerksamkeit erfordert, macht innerlich unruhig und nervös.

Wahrscheinlich auch die Blasen-Funktion...:))

sunbeam
05.03.2016, 13:24
Wahrscheinlich auch die Blasen-Funktion...:))

Wer unfähig ist seine Urinade vorher zu entladen, ist sowieso blöd wie ein Toastbrot!

Kreuzbube
05.03.2016, 13:29
Wer unfähig ist seine Urinade vorher zu entladen, ist sowieso blöd wie ein Toastbrot!

Na ja...beim Pöbel ist Alles möglich. Dieser unselige Eis-und Getränkeverkauf tut ein Übriges. Gab`s zu DDR-Zeiten nicht. Da hatte man seine Ruhe im Kino.

sunbeam
05.03.2016, 13:32
Na ja...beim Pöbel ist Alles möglich. Dieser unselige Eis-und Getränkeverkauf tut ein Übriges. Gab`s zu DDR-Zeiten nicht. Da hatte man seine Ruhe im Kino.

Selbst im Westen, als nach der Langnese-Werbung und vor dem Film der Verkauf startete, waren es Max. fünf Leute die während der Vorführung raus mussten, und die waren so clever ihre Inkontinenz richtig einzuschätzen und hatten Plätze am Gang, um die anderen nicht zu stören.

Kreuzbube
05.03.2016, 13:35
Selbst im Westen, als nach der Langnese-Werbung und vor dem Film der Verkauf startete, waren es Max. fünf Leute die während der Vorführung raus mussten, und die waren so clever ihre Inkontinenz richtig einzuschätzen und hatten Plätze am Gang, um die anderen nicht zu stören.

Tja, früher hatten die Leute noch höflichen Respekt im Umgang miteinander. Der ist wohl tendentiell auf der Strecke geblieben.:)

sunbeam
05.03.2016, 13:38
Tja, früher hatten die Leute noch höflichen Respekt im Umgang miteinander. Der ist wohl tendentiell auf der Strecke geblieben.:)

Das stimmt. In allen Lebenslagen!

Kreuzbube
05.03.2016, 13:40
Das stimmt. In allen Lebenslagen!

Ich denke, das läßt sich wieder geradebiegen. Man muß nur als Vorbild vorangehen und nicht warten, bis Andere den Anfang machen. Funktioniert im Alltag recht gut...und fühlt sich v.a. gut an.:)

Leila
05.03.2016, 14:15
Und sowas von dir? Ich meine, du reitest doch so auf Bildung rum, dann dann sollte man schon einigermaßen Englisch verstehen.
Kann die Aufregung jetzt auch nicht nachvollziehen.
Verdi wird ja auch nicht in Deutsch aufgeführt.

Liebe Veruschka!

Der Neue meinte die Erklärung der Aufführung, nicht die Aufführung selbst!

Als passionierte Opernbesucherin und langjährige Bezahlerin mehrerer Generalabonnemente las ich vor den Opernaufführungen stets alles, was über die jeweils dargebotene Oper in „Reclams Opernführer“ zu lesen war. Auch besorgte ich mir die Libretti aus privaten oder öffentlichen Bibliotheken. – Daß ich vor dem Opernbesuch ein Bad nahm, mein getrocknetes langes Haupthaar streng zurückband und kunstvoll verknotete, mich in wertvolle Gewänder hüllte, schien mir der damaligen Gepflogenheit angemessen zu sein. Da ich kein einziges Schmuckstück besitze (weder Edelsteine noch Perlen), geriet ich nie in die Versuchung, meinen Schmuck vorzuzeigen.

Alles in allem: Ich bin ganz und gar der Ansicht des Neuen. Die ‚Neutöner’ und ‚Zwölftonmusiker‘ halte ich allesamt für Exoten, die niemals den Geschmack der Mehrheit treffen werden. Dies mag daran liegen, daß sich kein ‚musikalisch normalbegabter Mensch‘ ihre atonalen und disharmonischen Kompositionen merken (und schon gar nicht singen) kann. Bildlich gesprochen: Die ‚musikalischen Erneuerer‘ kommen mir wie die Propagandisten der Magersucht vor – als Vertreter von Schlankheitspräparaten: Peter Paul Rubens contra Alberto Giacometti.

Gruß von Leila

Bunbury
05.03.2016, 14:34
Es gab zwar noch Fugen, aber sie waren bereits im Aussterben begriffen. Händel hat vergleichsweise kaum noch welche geschrieben, seine Opern waren demgegenüber der große Erfolg und trafen exakt den Zeitgeschmack.
Übrigens ist es auch nicht ganz richtig, Bach als direkten Nachfahren der frankoflämische-belgischen Vokalpolyphonie der Renaissance zu sehen. Der hatte auch viele andere Einflüsse, die auf seinen Stil gewirkt haben, zB. der italienische Stil Vivaldis u.a. In erster Linie war er aber Autodidakt und am meisten von der Musik seiner eigenen Familie beeinflußt.

Die Fuge war im Barock eine Allerweltsgattung, in der man als Komponist zu reüssieren hatte. Aber selbst wenn sie bereits ausgestorben gewesen wäre, was hat Bach falsch gemacht, als er ein Doppel-Kompendium von Präludien und Fugen in allen Dur- und Molltonarten schrieb und dabei noch eine subtile Tonartencharakteristik mitlieferte? - Das Entscheidende bei JSB ist wirklich die Verquickung von kontrapunktischem Stil und Funktionsharmonik. Alles andere, die Einflüsse aus dem italienischen Concerto grosso, der Triosonate und der italienischen Oper (--> "Johannespassion") und französischen Stilelementen ist daneben sekundär.


Der Ausgangspunktder Diskussion war aber die Frage der Neuerung (Schönberg). Also die Frage, wer die Epochenentwicklung vorangetrieben hat. Und das war eben nicht Beethoven (s.0.) Wenn wir hier über den Spätstil Beethovens diskutieren wollten, sollten wir einen eigenen Strang dazu eröffnen.
Ich habe mich zum Spätstil überhaupt nicht geäußert. Die ins Extrem gesteigerte motivisch-thematische Arbeit ist bereits ein Stilmerkmal des frühen LvB. Außerdem ist es grundfalsch, Neuerungen mit einem Wechsel des Epochenstils gleichzusetzen. Was willst Du dann zu Komponisten sagen, die nur innerhalb einer Stilepoche mit Neuerungen aufgewartet haben, wie z.B. Beethoven und Wagner?


Aber was ich damit sagen wollte, wurde doch klar, oder?

Streng genommen: nein. Du hast ein merkwürdiges Bild von Komponisten oder von Künstlern allgemein. Ein Künstler wird primär von seinem Mitteilungs- oder Ausdrucksbedürfnis angetrieben. Eitelkeit oder Geltungsdrang sind sekundär auch vorhanden; anders kommt man wohl garnicht dazu, sich in seinem Mitteilungsdrang wildfremden Menschen aufzudrängen. Was einen Künstler beschäftigt, ist 1.) die Lösung bestimmter rein innerkünstlerischer Fragen (ein bestimmtes Stil- als Ausdrucksmittel zu benutzen) 2.) der Wunsch, mit einem bestimmten Ausdrucksmittel seine Umgebung, zur Not die halbe Menschheit anzusprechen 3.) die Hoffnung, von der eigenen Arbeit leben zu können.


Ich halte eben Schönberg nicht für einen genialen Komponisten. Das hat Richard Strauß übrigens auch nicht getan und Schönberg war zu Tode betrübt, als er davon erfuhr.

Wo hast Du das her? Zum einen hat Strauß den frühen Schönberg sehr geschätzt, ihm Stipendien verschafft etc. Zum anderen hat Schönberg mit Straußens Ablehnung gut leben können. Hochbetrübt wäre er gewesen, wenn Mahler ihn nicht wertgeschätzt hätte - aber da bestand keine Gefahr. Im Übrigen sollte man die eigene Hoch- oder Geringschätzung anderer Komponisten nicht von Straußens Urteil abhängig machen.


Es ist wie mit in dem bekannten Spruch: "Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, dann liegt das nicht unbedingt am Buch". Aber eben auch nicht unbedingt am Kopf. Wir wissen es nicht und wir werden es nie erfahren.

Am Buch kann's nicht liegen; es sei denn, es wäre ein Placebo im Regal eines Möbelgeschäfts.



Aber umgekehrt: jegliche Selbstkritik vermissen zu lassen und die ganze Welt zu verachten, weil sie die selbst geschaffene Kunst nicht ausreichend bewundert, ist wohl auch nicht die beste Haltung.

Gut genug, um die Situation durchzustehen: einer gegen alle - ein junger Künstler, am Beginn seiner Entwicklung, verlacht oder ignoriert, gegen die Selbstzufriedenheit einer sich am Approbierten berauschenden Masse.

derNeue
05.03.2016, 14:35
Fugen gab's zu Bachs Zeit wie Sand am Meer, auch bei Telemann oder Händel und anderen evangelischen Kirchenmusikern. Altertümlich war Bachs Rückbezug auf die kontrapunktischen Künste der alten Niederländer (=Frankoflamen). Natürlich hat er auch die Funktionsharmonik nicht erfunden. Aber jetzt zum dritten Mal: die Verquickung kontrapunktischer Setzweise (Imitation, Augmentationen, Diminutionen, Spiegelformen), mit funktionstonalem Denken; die Kontrapunktik nicht mehr auf modaler, sondern funktionstonaler Basis, war singulär und zugleich prägend für alle nachfolgenden Komponisten, die sich darin geübt haben.


Nochmal, weil es mich interessiert: Wie kommst Du eigentlich zu dieser These? Ich will an Deinen Beiträgen nicht herummäkeln, Du kennst Dich gut aus in der Musik aber mich würde interessieren woher Du die These hast, Bach habe als erster und singulär die kontrapunktische Satzweise mit funktionalem Denken in den Harmonien verbunden?
Ich kann das nicht so ganz nachvollziehen.
Gerade weil Du ja richtigerweise darauf hinweist, daß noch andere zu dieser Zeit Fugen geschrieben haben. Händel z.B. war schon viel mehr in der Kadenzharmonik verhaftet als Bach. Der hat seine Fugen auch funktional harmonisiert und nicht nach den linearen Regeln der Renaissance! Wieso soll also Bach der erste und einzige gewesen sein? Es stimmt allerdings, daß Bach derjenige war, der die weitaus anspruchsvollsten Fugen schrieb.
Es war doch eher so, daß sich das, was wir heute Funktionsharmonik nennen, langsam und kontinuierlich bei allen Komponisten dieser Zeit herausgebildet hat. Die Akkorde z.B. aus den tyischen Schlußklauseln des Renaissancekontrapunkt, der Quintfall im Bass am Schluß als Beispiel. Aus diesen strengen Stimmführungsregeln, die allein auf die Einzelintervalle abzielten aber noch nicht "in Akkorden" gedacht waren.
Dann kam irgendeiner (in dem Fall Rameau), und hat sich die Töne angeschaut, wie sie vertikal im mehrstimmigen Satz zueinander stehen, und hat gesagt: das definieren wir jetzt als "Akkord". Wenn dieser Akkord eine Septe hat, definieren wir das als "Dominante". Mit hinzugefügter Sexte (Sixt ajoutee) nennen wir das "Subdomnante". Für Rameau war übrigens noch jeder Akkord mit einer Septe, auf den der Quintfall im Bass folgte, ein "Dominante". Auch Mollakkorde und alle sonstigen Zwischendominanten.
Nach allem, was ich darüber weiß und gelesen habe, hat Bach noch gar nicht so gedacht, gar nicht so sehr in Akkorden, sondern einfach linear in Stimmführungsregeln, die sich seit der Renaissance entsprechend weiterentwickelt hatten. Wie das ja überhaupt oft so ist, daß zuerst die Praxis da ist, und später das theoretsche Regelwerk dazu. Die Stufenharmonik gab es ja auch schon vor Riemann, nur hat Riemann sie als erster so definiert.
Wie auch immer, das Thema ist interessant und daher würde mich interesieren, wo Deine These herkommt.

derNeue
05.03.2016, 15:47
Alles in allem: Ich bin ganz und gar der Ansicht des Neuen. Die ‚Neutöner’ und ‚Zwölftonmusiker‘ halte ich allesamt für Exoten, die niemals den Geschmack der Mehrheit treffen werden. Dies mag daran liegen, daß sich kein ‚musikalisch normalbegabter Mensch‘ ihre atonalen und disharmonischen Kompositionen merken (und schon gar nicht singen) kann. Bildlich gesprochen: Die ‚musikalischen Erneuerer‘ kommen mir wie die Propagandisten der Magersucht vor – als Vertreter von Schlankheitspräparaten: Peter Paul Rubens contra Alberto Giacometti.

Gruß von Leila
Das kann ich gut nachvollziehen, Leila.
Ich sehe das so: Musik muß immer hörend erfahrbar sein. Sie kann ruhig atonal sein, spannend, böse, laut, schrill, aber der Hörer muß immer irgendeine Form von Struktur erkennen. Sie darf eins nie sein: chaotisch. Denn dann hat der Hörer keine Möglichkeit zu einem ästhetischen Erlebnis. Chaos ist das gegenteil von Ästhetik. Schönbergs Musik ist natürlich alles andere als chaotisch, nur sind die Regeln, nach denen sie komponiert wurde, eben nicht hörend erfahrbar. Bei Stravinskys Sacre z.B. ist das etwas völlig anderes: es gibt wiederkehrende merkbare Motive, Rhythmen, spannende Polytonalität. So ist dieses Stück ein Erlebnis. Auch Schnittke habe ich oft musiziert. Das Publikum war jedesmal gebannt. Man merkt das immer, wenn der Funke überspringt.

Leila
05.03.2016, 16:13
In den Pendlerzügen sind die Sitten auch nicht besser. Da wird gehustet, laut geredet und telefoniert. Da kann man nicht einmal in Ruhe etwas lesen und holt sich auch noch den Tod.

Darum bin ich gegen die Pendlerei bzw. gegen die Hin-und-her-Hetzerei!

Als Nostalgikerin befürworte ich die Langsamkeit und Bedachtsamkeit, obschon ich die Geschwindigkeit liebe.

Vor vielen Jahren absolvierte ich stellvertretend die Tour eines erkrankten Blumentransporteurs. Während meiner Fahrt zu den Blumenbörsen, Blumenläden und Treibhäusern hielt ich mich mittels Philip Glass’ Komposition „The Photographer“ (https://en.wikipedia.org/wiki/The_Photographer) wach (auch trank ich die mitgeführte Thermosflasche Kaffee leer).

Nachmittags – auf dem Heimweg – wurde ich per Natel darum gebeten, eine zweite Tour zu fahren (aus Gründen, die hier nicht nochmals erwähnen mag). – Als ich nach der zweiten Tour daheim ankam (vorher befüllte ich den Tank des LKWs noch mit Dieseltreibstoff) kollabierte ich nach einer mehr als fünfzigstündigen angestrengten Wachsamkeit physisch und intellektuell.

Als ich nach vierundzwanzig Stunden Schlaf erwachte, konnte ich den „Photographer“ auswendig singen.

derNeue
05.03.2016, 16:14
Die Fuge war im Barock eine Allerweltsgattung, in der man als Komponist zu reüssieren hatte. Aber selbst wenn sie bereits ausgestorben gewesen wäre, was hat Bach falsch gemacht, als er ein Doppel-Kompendium von Präludien und Fugen in allen Dur- und Molltonarten schrieb und dabei noch eine subtile Tonartencharakteristik mitlieferte? - Das Entscheidende bei JSB ist wirklich die Verquickung von kontrapunktischem Stil und Funktionsharmonik. Alles andere, die Einflüsse aus dem italienischen Concerto grosso, der Triosonate und der italienischen Oper (--> "Johannespassion") und französischen Stilelementen ist daneben sekundär.

Du hast eine Tendenz, musikalische Entwicklungen auf wenige Schlagworte zu reduzieren. Die Wahrheit ist vielschichtiger. So, wie Du das herunterbrichst, ist es im Grunde genommen schon falsch.
(Ebenso übrigens Deine These zu Beethovens Kompositionsstil bez. Materialverarbeitung. Sie ist eben nur halbwahr. Auf der einen Seite stimmt es, auf der anderen Seite könnte ich Dir haufenweise Gegenbeispiele aus seinem Werk nennen).


Ich habe mich zum Spätstil überhaupt nicht geäußert. Die ins Extrem gesteigerte motivisch-thematische Arbeit ist bereits ein Stilmerkmal des frühen LvB. Außerdem ist es grundfalsch, Neuerungen mit einem Wechsel des Epochenstils gleichzusetzen. Was willst Du dann zu Komponisten sagen, die nur innerhalb einer Stilepoche mit Neuerungen aufgewartet haben, wie z.B. Beethoven und Wagner?

Und ich habe meinerseits nie bestritten, daß Komponisten sich auch innerhalb einer Epoche weiterentwickeln.
Mir ging es doch nur um Folgendes: Etwas Neues ist nicht zwangsläufig gut. Es kann gut sein, muß aber nicht. Und nur um für diese meine These eine Beispiel anzuführen, habe ich auf die Tatsache hingewiesen, daß diejenigen, welche die Epoche stilistisch vorangetrieben haben, eher nicht die "großen Komponisten" waren. Sie waren also sehr revolutionär, aber trotzdem nicht die allerbesten ihrer Zeit. Mehr wollte ich überhaupt nicht sagen.


Streng genommen: nein. Du hast ein merkwürdiges Bild von Komponisten oder von Künstlern allgemein. Ein Künstler wird primär von seinem Mitteilungs- oder Ausdrucksbedürfnis angetrieben. Eitelkeit oder Geltungsdrang sind sekundär auch vorhanden; anders kommt man wohl garnicht dazu, sich in seinem Mitteilungsdrang wildfremden Menschen aufzudrängen. Was einen Künstler beschäftigt, ist 1.) die Lösung bestimmter rein innerkünstlerischer Fragen (ein bestimmtes Stil- als Ausdrucksmittel zu benutzen) 2.) der Wunsch, mit einem bestimmten Ausdrucksmittel seine Umgebung, zur Not die halbe Menschheit anzusprechen 3.) die Hoffnung, von der eigenen Arbeit leben zu können.

Da Du Dich da so genau auszukennen scheinst: Belassen wir es dabei.


Wo hast Du das her? Zum einen hat Strauß den frühen Schönberg sehr geschätzt, ihm Stipendien verschafft etc. Zum anderen hat Schönberg mit Straußens Ablehnung gut leben können. Hochbetrübt wäre er gewesen, wenn Mahler ihn nicht wertgeschätzt hätte - aber da bestand keine Gefahr. Im Übrigen sollte man die eigene Hoch- oder Geringschätzung anderer Komponisten nicht von Straußens Urteil abhängig machen.

Das stimmt. Strauiß hat Schönberg gefördert. Nur als der dann mit seiner 12Ton Musik begann, sagte Strauß zu Schönbergs darüber nichts, kritisierte das aber Alma Mahler gegenüber. Er schrieb in einem Brief, daß es besser sei, wenn Schönberg "Schnee schaufeln" anstatt komponieren würde. Anlass waren die "5 Orchesterstücke, die er 1912 Strauß zur Begutachtung geschickt hatte (in Auftrag gegeben von Srauß)Leider kam Schönberg das über seinen Schüler zu Ohren.
Gustav Mahler konnte ihm aber auch nicht mehr folgen, nur sagte er das seinem Schützling im Gegensatz zu Strauß direkt ins Gesicht.

Nun spielt es tatsächlich keine Rolle, was Strauß oder Mahler dachten, aber immerhin denken das auch heute, 100 Jahre später, immer noch sehr viele Musiker.

Don
05.03.2016, 17:02
Eine gute Frage, Leila. Eine Frage, über die auch schon viel nachgedacht wurde. Das Hauptproblem der Musik Schönbergs und seiner Nachfolger bis hin zu Boulez und anderen ist, daß sie eine Musik schreiben, die für den Hörer nicht erfahrbar ist. Einfach gesagt: Sie haben ein theoretisches Kompositionsprinzip entworfen, daß allein auf der Aneinaderreihung von Tonreihen, später auch anderer Parameter beruht. Salopp ausgedrückt: sie haben Musik mit dem Rechenschieber gemacht und meinten, damit ein genau so gutes und gültiges System entwickelt zu haben wie das vorangegangene tonale System.
Das ist aber nicht der Fall, denn es ignoriert eine simple Tatsache: Unser harmonisches System, das sich inetwa in der Renaissance herausgebildet hat, beruht nicht auf willkürlichen Festlegungen wie die serielle Musik und die 12 Tontechnik. Es beruht vielmehr auf Naturgersetzen. Diese Gesetze hängen mit dem unterschiedlichen Klangehalt von Konsonanzen und Dissonanzen zusammen und den sich daraus ergebenden Spannungen, die die Grundlage für die abendländische Harmonik schon seit dem Mittelalter bilden. Dieser Klanggehalt wiederum hat physikalische Ursachen, da er mit den Schwingungszahlen der Töne und den sich daraus ergebenden Überschneidungen der Sinuskurven zusammenhängt. Es lohnt sich, sich damit einmal zu beschäftigen, denn unsere ganze abendländische Musik fußt darauf. Das alles wußten die Komponisten der Renaissance natürlich noch nicht, aber sie haben es gehört und aus diesen Hörerfahrungen ihr kompositorischen Gesetze entwickelt.
Und nicht nur die Harmonik: auch der formale Aufbau der Werke, etwa die Sonatenhauptsatzform, die Rondoform, der symmetrische Themenaufbau usw., ist keineswegs willkürlich, sondern entspricht exakt der Hörpsychologie des Zuhörers. Ungefähr kann man sagen: eine Sonate oder eine Sinfonie ist ähnlich gebaut wie eine Geschichte die einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende hat. Das Thema Wiederkennen von Einzelteilen spielt dabei eine psychologisch ganz wichtige Rolle.
Wenn nun ein Schönberg dem ein völlig neues System entgegenstellt, dann mag das auch in sich logisch und konsequent ausgedacht sein. Nur geht es am Hörer vorbei weil es sich eben nicht aus den Naturgesetzen der Akustik und der Psychologie des Zuhöreres in Jahrhunderten entwickelt hat, sondern als theretisches Konzept, quasi im luftleeren Raum.

Das ist in etwa richtig beschrieben.
Auch Kulturen mit traditionell anderen Tonfolgen übernahmen sehr schnell die Heptatonik nachdem sie mit ihr in engeren Kontakt kamen.
Z.B. China ausgehend von der Pentatonik oder Indien, wo Ragas nur noch in der traditionellen Klassik verwendet werden.
Andere, oder auch in Europa ältere Tonsysteme begründeten sich auch in der mangelnden Fähigkeit die harmonische Heptatonik instrumentell darzustellen.

Don
05.03.2016, 17:29
Bitte nicht vergessen dass die heutige "Klassik" zu ihrer Zeit auch Pop-Musik war. Die damaligen Hörer hatten auch unterschiedliche Geschmäcker und eben auch ihre "Hitparaden"!

Nur für Eliten. Der Rest bekam davon so gut wie nichts mit.
Das gemeine Volk hatte Kirchenlieder und ein paar schrammelnde Bänkelsänger auf dem Jahrmarkt.

Die Eliten saßen wiederum großteils im Auditorium weil sie einfach aus gesellschaftlichen Zwängen heraus mußten. Andererseits waren sie auch nicht gerade reizüberflutet.

Aber auch damals fielen schon Komponisten mit ihren Werken beim Publikum böse auf die Nase und provozierten teils recht unmutige Reaktionen. Betraf das auch ihre fürstlichen Gönner die sie aushielten, war das schnell unangenehm.

Die heutige Anspruchshaltung vieler "Künstler" erinnert doch gelegentlich an das bekannte "Respekt!" einschlägig bekannter Nichtperformer.

Bolle
05.03.2016, 17:37
Nur für Eliten. Der Rest bekam davon so gut wie nichts mit.
Das gemeine Volk hatte Kirchenlieder und ein paar schrammelnde Bänkelsänger auf dem Jahrmarkt.

Die Eliten saßen wiederum großteils im Auditorium weil sie einfach aus gesellschaftlichen Zwängen heraus mußten. Andererseits waren sie auch nicht gerade reizüberflutet.

Aber auch damals fielen schon Komponisten mit ihren Werken beim Publikum böse auf die Nase und provozierten teils recht unmutige Reaktionen. Betraf das auch ihre fürstlichen Gönner die sie aushielten, war das schnell unangenehm.

Die heutige Anspruchshaltung vieler "Künstler" erinnert doch gelegentlich an das bekannte "Respekt!" einschlägig bekannter Nichtperformer.

Ja Mozart war so ein Rocker!

Makkabäus
05.03.2016, 18:08
Dann soll man das Publikum vorher schulen im Umgang mit der Aura eines klassischen Konzerts !

Leila
05.03.2016, 18:09
[…]

Lieber Neuer!

Mein Lebenswandel verlief nicht gerade, sondern kurvenreich. – Anfangs der 1970er-Jahre lernte ich einen Schreinermeister kennen, der mir den Aufenthalt in seiner Schreinerei ermöglichte.

Als ich die Geräusche bzw. den Lärm all der Maschinen (Bandsäge, Bohrmaschine, Hobelmaschine, Kehlmaschine, Kreissäge und Schleifmaschine) hörte, da dachte ich: Auch das ist Musik!

Damals entwarf ich das Drehbuch zu einem neunstündigen Dokumentarfilm (den jedoch niemand produzieren wollte).

Die Zusammenfassung des erwähnten Drehbuchs:

Max steht in aller Frühe auf, um sich zur Arbeit zu begeben.
Max leimt von morgens Siebenuhr bis Neunuhr gehobelte Bretter zusammen.
Max hört zum wiederholten Mal aus einem Lautsprecher dieselbe Melodie.
Max verliebt sich während der Neunuhrpause in Swetlana, die ihn kaum beachtet.
Max leimt bis zur Mittagszeit viele gehobelte Bretter zusammen, eines nach dem andern.
Max sitzt während der Mittagszeit neben Swetlana. – Sie rückt vor ihm schamvoll weg und ißt, was sich in ihrem Thermosgefäß befindet.
Max leimt bis drei Uhr nachmittags noch viele gehobelte Bretter zusammen. Er hört die Töne der Bandsägen, Bohrmaschinen, Hobelmaschinen, Kehlmaschinen, Kreissägen und Schleifmaschinen.
Max sitzt während der Nachmittagspause wieder neben Swetlana. – Diese Unnahbare entfernte sich jedoch abermals von ihm.
Max will sich nach Feierabend mit Swetlana verabreden. – Swetlana gibt vor, nach Hause gehen zu müssen.
Max fährt mit seinem Fahrrad heim und träumt von Swetlana.
Swetlana träumt in ihrem Bett von Max.

Tatsächlich war ich die Swetlana.– Den kontinuierlichen Lärm der Holzbearbeitungsmaschinen versuchte ich in einer musikalischen Komposition festzuhalten (lange bevor ich eine Vorstellung von der seriellen und minimalistischen Musik hatte). – Als ein Jahrzehnt später der Musikstil namens „Techno“ aufkam, dachte ich: „Wenn ihr wüßtet, was ich weiß!“ – Heute würde ich jedem Liebhaber der Technomusik ein dreimonatiges Praktikum in einer Schreinerei empfehlen.

Gruß von Leila

Leila
05.03.2016, 18:24
Als eine, die in ganz Europa herumgereist ist, kann ich sagen, noch nie ein Restaurant namens „Disharmonie“ gesehen zu haben.

Leila
05.03.2016, 21:01
Nur zur Information: Der Begriff „Minimal Music“ stammt nicht von mir! – Wenn man mich damit beauftragt hätte, einen Begriff für diese Musikgattung zu erfinden, dann hätte ich (entgegen des Denglischwahns) das schlichte deutsche Wort „Ruhestörung“ vorgeschlagen, das – wie jeder Block- und Hauswart weiß – „Lärm“ bedeutet.

Die Bezeichnung „Minimal Music“ müßte meiner Meinung nach auf deutsch „Totenstille“ heißen.

Mütterchen
06.03.2016, 06:05
...
Hier das Beispiel eines Pianisten, der das Werk aberwitzigerweise allein spielt.


https://www.youtube.com/watch?v=AnQdP03iYIo (gekürzt durch mich)

Ich habe das vorher nicht gekannt und hier zum ersten Mal gehört. Und irgendwie hat es sich so in meinen Kopf eingebrannt dass es dort ständig zu hören ist. Ich glaube sogar, ich habe deswegen heute Nacht so wenig geschlafen. Keine Ahnung ob ich das jetzt als positive oder negative Auswirkung werten soll. Jedenfalls ist es so.

Mütterchen
06.03.2016, 06:07
... gekürzt durch mich

An der Stelle mal ein herzliches Dankeschön für diesen Strang.

Bolle
06.03.2016, 06:16
Hier noch ein (journalistisches) Meisterwerk:


Frage des Tages

Reicht der Hass schon bis in den Konzertsaal?

Rainer Pöllmann im Gespräch mit Gesa Ufer

Das Konzert am vergangenen Sonntag in der Kölner Philharmonie wird der iranische Cembalo-Spieler Mahan Esfahani nicht vergessen. Zuschauer forderten, er solle Deutsch sprechen. Später sorgten Zwischenrufe für den Abbruch eines Musikstückes.
So etwas hat es schon lange nicht mehr bei einem klassischen Konzert gegeben: Wegen Zwischenrufen hat der iranische Cembalo-Spieler Mahan Esfahani am Sonntag sein Konzert in der Kölner Philharmonie unterbrochen.
Es begann damit, dass der Musiker in das Konzert auf Englisch einführte. Die Zuhörer forderten, der Musiker solle Deutsch sprechen. Der Musikredakteur Rainer Pöllmann wertet die störenden Zwischenrufe als "unkonventionelles Verhalten".

"Man kann das über sich ergehen lassen"

Möglicherweise hat einigen Zuschauern das moderne Stück des Minimal-Musikers Steve Reich nicht gefallen, das von Esfahani und dabei begleitet von einem Computer gespielt wurde. Die Komposition sei nicht besonders verstörend und die Einbeziehung eines Computers "ein völlig gängiges Verfahren in Neuer Musik".
Pöllmann kritisiert das Verhalten des Publikums. "Man kann das über sich ergehen lassen", sagt er. Auch Buh-Rufe nach dem Konzert wären zu vertreten, aber keine Störung während der Aufführung.
Bevor er wegen der Buh-Rufe und anderer Störungen von der Bühne ging, fragte der Musiker noch in einer kurzen ergreifenden Rede nach den Gründen der Ablehnung und der Angst. Rainer Pöllmann will den Zuschauern nicht allgemein Ausländerfeindlichkeit vorwerfen. Trotzdem kann er sich solch störende Reaktionen in der kommenden Woche auf die Konzerte des amerikanischen Dirigenten James Gaffigan oder der kanadischen Sopranistin Barbara Hannigan in der Kölner Philharmonie nicht vorstellen - auch dann nicht, wenn sie auf Englisch sprechen. Es sei bemerkenswert, dass das Publikum ausgerechnet bei einem Iraner so reagiert habe.

Fehlt eigentlich nur der Hinweis auf AfD oder PEGIDA Kulturbanausen!

http://www.deutschlandradiokultur.de/frage-des-tages-reicht-der-hass-schon-bis-in-den-konzertsaal.2156.de.html?dram:article_id=347237

Don
06.03.2016, 07:39
Dann soll man das Publikum vorher schulen im Umgang mit der Aura eines klassischen Konzerts !

Quatsch. Klassik ist nichts weiter als Musik und nicht heilig.
Sie gefällt, oder eben nicht. Punkt.

Don
06.03.2016, 07:42
(gekürzt durch mich)

Ich habe das vorher nicht gekannt und hier zum ersten Mal gehört. Und irgendwie hat es sich so in meinen Kopf eingebrannt dass es dort ständig zu hören ist. Ich glaube sogar, ich habe deswegen heute Nacht so wenig geschlafen. Keine Ahnung ob ich das jetzt als positive oder negative Auswirkung werten soll. Jedenfalls ist es so.


https://www.youtube.com/watch?v=RAx0P-8n5K4

Mütterchen
06.03.2016, 07:53
...

Hurz kenn' ich doch, Don. :)

Ich bin ganz bestimmt nicht der Typ Mensch der sich bei solch einer Veranstaltung mit gewagten Interpretationen äußern würde. Ich bin kein erklärter Freund moderner Malerei, Musik, Literatur.
Und trotzdem hat mir einiges von dem, was hier vorgestellt wurde, richtig gut gefallen. Die Akhnaten- Prelude, die hier eingestellt wurde, z.B. auch.

Nikolaus
06.03.2016, 07:57
Fehlt eigentlich nur der Hinweis auf AfD oder PEGIDA Kulturbanausen!Kulturbanausentum ist kein Alleinstellungsmerkmal von Pegida und Konsorten. Und bei einem Konzert lassen die sich bestimmt nicht blicken.
Oder hast du Insiderinformationen?

Reilinger
06.03.2016, 08:06
Hier noch ein (journalistisches) Meisterwerk:



Fehlt eigentlich nur der Hinweis auf AfD oder PEGIDA Kulturbanausen!

http://www.deutschlandradiokultur.de/frage-des-tages-reicht-der-hass-schon-bis-in-den-konzertsaal.2156.de.html?dram:article_id=347237



Umgekehrt könnte man auch fragen: darf ich einen "iranischen" Musiker nur allein deshalb nicht beschissen finden, weil er Iraner ist? Muß ich ihn gottgleich verehren, seiner Gene wegen und alles toll finden, was er tut? Ist es vielleicht gar religionsabhängig?

Die Idiotie deutscher Journalisten ist wirklich durch nichts mehr zu übertreffen.

Bolle
06.03.2016, 08:08
Kulturbanausentum ist kein Alleinstellungsmerkmal von Pegida und Konsorten. Und bei einem Konzert lassen die sich bestimmt nicht blicken.
Oder hast du Insiderinformationen?

Schon klar, böse Menschen haben keine Lieder.......:D

Reilinger
06.03.2016, 08:10
Schon klar, böse Menschen haben keine Lieder.......:D

Nur gut, dass edle Linke nie in die Verlegenheit geraten, dümmliche Vorurteile zu hegen... :haha:

Nikolaus
06.03.2016, 08:15
Schon klar, böse Menschen haben keine Lieder.......:DAber eine Pegida-Hymne.

Bergischer Löwe
06.03.2016, 08:19
Wenn ich schon "minimal Music" höre....

Wenn ich es brauche, lege ich die Ouvertüre von "Rienzi" auf. Dann wird alles andere bedeutungs- und wertlos.

Chronos
06.03.2016, 08:28
Aber eine Pegida-Hymne.
Immer noch besser als die Kampfrufe, die Musels überhaupt an Tönen rausbringen: "Allahu Kackbar". Oder hast du schonmal einen Musel singen hören (vom Brüllaffen-Gejaule von der Gebetsrakete herunter abgesehen)?

Dann doch viel lieber eine PEGIDA-Hymne-

Don
06.03.2016, 08:32
Kulturbanausentum ist kein Alleinstellungsmerkmal von Pegida und Konsorten. Und bei einem Konzert lassen die sich bestimmt nicht blicken.
Oder hast du Insiderinformationen?

Bemerke ich hier Vorurteile?

Geht doch.

derNeue
06.03.2016, 09:07
Das ist in etwa richtig beschrieben.
Auch Kulturen mit traditionell anderen Tonfolgen übernahmen sehr schnell die Heptatonik nachdem sie mit ihr in engeren Kontakt kamen.
Z.B. China ausgehend von der Pentatonik oder Indien, wo Ragas nur noch in der traditionellen Klassik verwendet werden.
Andere, oder auch in Europa ältere Tonsysteme begründeten sich auch in der mangelnden Fähigkeit die harmonische Heptatonik instrumentell darzustellen.

Das stimmt. Die ganze Welt hat die abendländische Diatonik übernommen. Das ist sicher auch durch die abendländisch dominierten Medien, die überall verbreiteten Popsongs usw. gekommen. Aber auch vorher schon: klassische abendländische Musik ist fast überall Bestandteil der Kultur geworden, sogar in Manaus im Dschungel. Viele Nationen pflegen daneben auch ihr eigenes Erbe weiter, etwa die Pekinger Oper mit ihrer traditionel chinesischen Musik. Aber gerade in Asien war die Adaption besonders stark. Westliche Musikhochschulen wurden jahrzehntelang erst von Japanern dann von Koreanern bevölkert.
Und einer der weltweit besten Bach-Interpreten arbeitet heute in Japan (Suzuki). Die singen mittlerweile fast akzentfreies Deutsch.
Umgekehrt hat es auch gewisse Einflüsse gegeben, etwa die Übernahme der Stilelemente der Gamelanmusik von Debussy gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Insel Java hat übrigens die höchstentwickelte Musik nach der europäischen hervorgebracht.
Jedoch sind die Einflüsse der außereuropäischen Musik auf die abendländische Klassik insgesamt eher marginal geblieben.

derNeue
06.03.2016, 09:12
Lieber Neuer!

Mein Lebenswandel verlief nicht gerade, sondern kurvenreich. – Anfangs der 1970er-Jahre lernte ich einen Schreinermeister kennen, der mir den Aufenthalt in seiner Schreinerei ermöglichte.

Als ich die Geräusche bzw. den Lärm all der Maschinen (Bandsäge, Bohrmaschine, Hobelmaschine, Kehlmaschine, Kreissäge und Schleifmaschine) hörte, da dachte ich: Auch das ist Musik!

Damals entwarf ich das Drehbuch zu einem neunstündigen Dokumentarfilm (den jedoch niemand produzieren wollte).

Die Zusammenfassung des erwähnten Drehbuchs:

Max steht in aller Frühe auf, um sich zur Arbeit zu begeben.
Max leimt von morgens Siebenuhr bis Neunuhr gehobelte Bretter zusammen.
Max hört zum wiederholten Mal aus einem Lautsprecher dieselbe Melodie.
Max verliebt sich während der Neunuhrpause in Swetlana, die ihn kaum beachtet.
Max leimt bis zur Mittagszeit viele gehobelte Bretter zusammen, eines nach dem andern.
Max sitzt während der Mittagszeit neben Swetlana. – Sie rückt vor ihm schamvoll weg und ißt, was sich in ihrem Thermosgefäß befindet.
Max leimt bis drei Uhr nachmittags noch viele gehobelte Bretter zusammen. Er hört die Töne der Bandsägen, Bohrmaschinen, Hobelmaschinen, Kehlmaschinen, Kreissägen und Schleifmaschinen.
Max sitzt während der Nachmittagspause wieder neben Swetlana. – Diese Unnahbare entfernte sich jedoch abermals von ihm.
Max will sich nach Feierabend mit Swetlana verabreden. – Swetlana gibt vor, nach Hause gehen zu müssen.
Max fährt mit seinem Fahrrad heim und träumt von Swetlana.
Swetlana träumt in ihrem Bett von Max.

Tatsächlich war ich die Swetlana.– Den kontinuierlichen Lärm der Holzbearbeitungsmaschinen versuchte ich in einer musikalischen Komposition festzuhalten (lange bevor ich eine Vorstellung von der seriellen und minimalistischen Musik hatte). – Als ein Jahrzehnt später der Musikstil namens „Techno“ aufkam, dachte ich: „Wenn ihr wüßtet, was ich weiß!“ – Heute würde ich jedem Liebhaber der Technomusik ein dreimonatiges Praktikum in einer Schreinerei empfehlen.

Gruß von Leila

Nicht schlecht. Das erinnert mich an das Stück "Hopkins the factory worker" von Max Brand, das ich in den 80er Jahren mal in London gehört habe. Die hatten damals eine "Weimar Reihe".

derNeue
06.03.2016, 09:13
gekürzt durch mich

An der Stelle mal ein herzliches Dankeschön für diesen Strang.

Gern.

derNeue
06.03.2016, 09:24
Hier noch ein (journalistisches) Meisterwerk:



Fehlt eigentlich nur der Hinweis auf AfD oder PEGIDA Kulturbanausen!

http://www.deutschlandradiokultur.de/frage-des-tages-reicht-der-hass-schon-bis-in-den-konzertsaal.2156.de.html?dram:article_id=347237



Vor diesem "Hass" scheinen die ja mittlerweile mächtig Angst zu haben, wenn sie jede harmlose Pöbelei schon auf diese Schiene schieben.
In den 70er Jahren hat irgendwann mal Pinchas Zuckerman im Herkulessaal dirigiert. Als er gerade die Augen zu machte und zum Einsatz ansetzte, brüllte eine Stimme aus dem Publikum: "Licht!" Völlig aus dem Konzept gebracht und um Fassung ringend drehte sich Zuckerman herum und stammelte etwas wie: "I have never had this problem in my life" Trotzem hat er das Kozert normal zuende gebracht.
Damals haben die Zeitungen dieses Verhalten des Zuschauers auf den pöbelhaften bayerischen Nationalcharakter geschoben.
Pöbeleien hat es immer schon gegeben, aber heute sind sie deutlich häufiger geworden.

Veruschka
06.03.2016, 10:48
Kulturbanausentum ist kein Alleinstellungsmerkmal von Pegida und Konsorten. Und bei einem Konzert lassen die sich bestimmt nicht blicken.
Oder hast du Insiderinformationen?
Tja, wen findet man so eigentlich im Konzertsaal?
Die politische Einstellung sieht man ja den Leuten nicht an bzw. ich habe jedenfalls noch nie einen Punker oder einer einen kahlköpfigen Springerstiefelträger in der Münchner Philharmonie gesehen.

Meist sind es doch ältere Herrschaften. Diese Art von Musik erschließt sich aber wohl auch erst, wenn man schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat. Ich war schon Mitte 20, als ich das erste Mal "Nabucco" gesehen habe.
An den Gefangenenchor muss ich heute noch denken...ein tolles Erlebnis.

Don
06.03.2016, 12:24
Tja, wen findet man so eigentlich im Konzertsaal?
Die politische Einstellung sieht man ja den Leuten nicht an bzw. ich habe jedenfalls noch nie einen Punker oder einer einen kahlköpfigen Springerstiefelträger in der Münchner Philharmonie gesehen.

Meist sind es doch ältere Herrschaften. Diese Art von Musik erschließt sich aber wohl auch erst, wenn man schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat. Ich war schon Mitte 20, als ich das erste Mal "Nabucco" gesehen habe.
An den Gefangenenchor muss ich heute noch denken...ein tolles Erlebnis.

Für den Rest hattest du hoffentlich Ohrstöpsel und Chips dabei.

Nikolaus
06.03.2016, 18:14
Bemerke ich hier Vorurteile?

Geht doch.Es war Bolle, der den Pegidaverdacht geäußert hat.
Ich hab sie ja sogar in Schutz genommen: Nicht jeder Idiot ist zwangsläufig ein Pegidist.

Anita Fasching
06.03.2016, 18:17
Es war Bolle, der den Pegidaverdacht geäußert hat.
Ich hab sie ja sogar in Schutz genommen: Nicht jeder Idiot ist zwangsläufig ein Pegidist.

Und nicht jeder Pegidist ist zwangsläufig ein Idiot, wolltest du doch sicher noch anmerken.

Don
06.03.2016, 18:19
Es war Bolle, der den Pegidaverdacht geäußert hat.
Ich hab sie ja sogar in Schutz genommen: Nicht jeder Idiot ist zwangsläufig ein Pegidist.

du bist ja begabter als SiggiPop.

Nikolaus
06.03.2016, 18:34
Meist sind es doch ältere Herrschaften. Diese Art von Musik erschließt sich aber wohl auch erst, wenn man schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat. Ich war schon Mitte 20, als ich das erste Mal "Nabucco" gesehen habe.
An den Gefangenenchor muss ich heute noch denken...ein tolles Erlebnis.Ich bin auf den Geschmack gekommen, als ich einem Krakauer beim Kopieren von Laserdiscs behilflich war. :) Da war ich auch nicht mehr der jüngste.

Nikolaus
06.03.2016, 18:35
du bist ja begabter als SiggiPop.Oh danke. Wer ist das?

OneDownOne2Go
06.03.2016, 18:45
Oh danke. Wer ist das?

Na, dieser fette Windbeutel:

http://stopmebeforeivoteagain.org/wp-content/uploads/2015/05/sigmar_3312326b.jpg

Bunbury
07.03.2016, 21:20
Lieber Neuer,

zunächst einmal: Ich schließe mich der Vorrednerin an


An der Stelle mal ein herzliches Dankeschön für diesen Strang.

und danke Dir nebenher auch für diese schöne Gelegenheit, sich sachlich und freundlich auszutauschen, selbst wenn wir in einigen Punkten gegensätzliche Auffassungen haben. Das ist im HPF keine Selbstverständlichkeit.


Schönbergs Musik ist natürlich alles andere als chaotisch, nur sind die Regeln, nach denen sie komponiert wurde, eben nicht hörend erfahrbar.

Auch Schönbergs Musik ist hörend erfahrbar; sie braucht nur etwas mehr Hörerfahrung (und natürlich den guten Willen, sich von ihr - wie von jeder guten Musik - beschenken zu lassen). Umgekehrt: Ein Gutteil der Strukturmerkmale in der Kunstmusik wird vom Laien nicht hörend nachvollzogen. Wer hört in einer Sonatenexposition, daß das Seitenthema exakt in der Dominante steht, außer ein paar Leute mit gutem musikalischem Gedächtnis und absolutem Gehör? Wer hört den Krebsgang einer Melodie, egal ob in einer frankoflämischen Motette oder bei Schönberg? Der Witz ist, daß ein Laie diese Bezüge gar nicht wahrnehmen muß und trotzdem etwas von der Musik hat.


[...] aber mich würde interessieren, woher Du die These hast, Bach habe als erster und singulär die kontrapunktische Satzweise mit funktionalem Denken in den Harmonien verbunden?

Gerade weil Du ja richtigerweise darauf hinweist, daß noch andere zu dieser Zeit Fugen geschrieben haben. Händel z.B. war schon viel mehr in der Kadenzharmonik verhaftet als Bach. Der hat seine Fugen auch funktional harmonisiert und nicht nach den linearen Regeln der Renaissance!

- zumal die Fuge als Gattung völlig auf die Funktionstonalität angewiesen ist. Es hat sie in vortonaler Zeit nicht gegeben, und alle nachtonalen Versuche à la Paul von Klenau (12-Ton-Fugen) sind idiotisch, weil die Fuge auf die Tonika-Dominant-Spannung angewiesen ist.


Der hat seine Fugen auch funktional harmonisiert und nicht nach den linearen Regeln der Renaissance! Wieso soll also Bach der erste und einzige gewesen sein? Es stimmt allerdings, daß Bach derjenige war, der die weitaus anspruchsvollsten Fugen schrieb.

Dein Mißverständnis besteht darin, kontrapunktische Arbeit auf Fugenkomposition zu reduzieren. Kontrapunktik bei Bach bedeutet vielerlei: Choralbearbeitung, also die Arbeit mit einem cantus firmus plus eigenständigen oder daraus abgeleiteten Gegenstimmen, Kanontechniken (in der Art der alten Frankoflamen, deren Spiegelkünste außer Bach keinen mehr interessiert hat) und deren Übertragung in den Fugenkontext (vor allem in der KdF), den Orgel-Triosatz, viel Imitatorik - wie Schönberg so schön sagte: Polyphonie als die Kunst, Stimmen zu erfinden, die sich selbst begleiten können. - Gleichzeitig war Bach ein ausgesprochener Harmoniker. Das hat Goethe aus ihm herausgehört und so benannt. Dazu muß man sich nur die Choräle ansehen, die selten auf die nächstliegende Art, sondern ganz eigenwillig harmonisiert sind (und es wirkt nie gekünstelt!). - Und nun kommt beides zusammen. Du hast mit Bach zwei Komponisten zum Preis von einem: Er kodiert seine Musik gewissermaßen doppelt, harmonisch in sich vollkommen stimmig – und zugleich als Resultat polyphoner Stimmführung.


Es war doch eher so, daß sich das, was wir heute Funktionsharmonik nennen, langsam und kontinuierlich bei allen Komponisten dieser Zeit herausgebildet hat. Die Akkorde z.B. aus den tyischen Schlußklauseln des Renaissancekontrapunkt, der Quintfall im Bass am Schluß als Beispiel. Aus diesen strengen Stimmführungsregeln, die allein auf die Einzelintervalle abzielten, aber noch nicht "in Akkorden" gedacht waren.

Ja, vollkommen richtig, und schon etliche Generationen vor Vadder Bach.


Dann kam irgendeiner (in dem Fall Rameau), und hat sich die Töne angeschaut, wie sie vertikal im mehrstimmigen Satz zueinander stehen, und hat gesagt [...]

wobei die Musiktheorie um ca. eine Generation der Musikentwicklung hinterherhinkt, so daß Komponisten längst mit anderen Problemen beschäftigt sind als denen, die in den Lehrbüchern kodifiziert werden.


Du hast eine Tendenz, musikalische Entwicklungen auf wenige Schlagworte zu reduzieren. Die Wahrheit ist vielschichtiger. So, wie Du das herunterbrichst, ist es im Grunde genommen schon falsch.

Da bitte ich Dich, den Beweis anzutreten. Ich lasse mich gern vom Gegenteil überzeugen. Die Notwendigkeit, einen komplexeren Sachverhalt auf ein paar kurze Sätze bzw. Schlüsselbegriffe zu reduzieren, ergibt sich aus dem Ort unseres Gedankenaustauschs: einem Politikforum. Ich kann aber gerne noch ausführlicher werden, wenn der Rest der Mitlesenden hier nicht rebelliert.


Ebenso übrigens Deine These zu Beethovens Kompositionsstil bez. Materialverarbeitung. Sie ist eben nur halbwahr. Auf der einen Seite stimmt es, auf der anderen Seite könnte ich Dir haufenweise Gegenbeispiele aus seinem Werk nennen.

Ich weiß nicht, was Du meinst. Dem Ideal der Fortsetzungslogik war bei LvB alles unterworfen, auch in gröberen Werken wie den Symphonien; es war bei ihm geradezu eine fixe Idee, die von Haydn herrührt und mit der Empfindung zu tun hatte, daß die reine potpurri-hafte Aneinanderreihung von Ideen unkünstlerisch ist. Das Ideal war eben die motivisch-thematische Ableitung des Materials und dessen logische Verknüpfung/Verarbeitung, am reinsten ausgeprägt in der Satztechnik des Streichquartetts, das - um nochmal Goethe zu zitieren - als "Gespräch unter vier vernünftigen Leuten" charakterisiert wurde - ein sehr aufklärerisches Ideal, für Beethoven natürlich hochbedeutsam.


Mir ging es doch nur um Folgendes: Etwas Neues ist nicht zwangsläufig gut. Es kann gut sein, muß aber nicht. Und nur um für diese meine These eine Beispiel anzuführen, habe ich auf die Tatsache hingewiesen, daß diejenigen, welche die Epoche stilistisch vorangetrieben haben, eher nicht die "großen Komponisten" waren. Sie waren also sehr revolutionär, aber trotzdem nicht die allerbesten ihrer Zeit.

Das mag für die ersten Barockkomponisten gelten, Jacopo Peri, Emilio de Cavalieri. Aber schon Monteverdi ist ein Komponist ersten Ranges. Für die Frühklassiker mag es auch wieder gelten, die Mannheimer oder Wiener jener Zeit, aber schon die Bach-Söhne werden notorisch unterschätzt. Und von den ersten Komponisten der frühen Moderne: Schönberg, Berg, Webern, Bartók, Strawinsky, ist kein einziger zweitrangig.


Das stimmt. Strauß hat Schönberg gefördert. Nur als der dann mit seiner 12Ton Musik begann, sagte Strauß zu Schönberg darüber nichts, kritisierte das aber Alma Mahler gegenüber. Er schrieb in einem Brief, daß es besser sei, wenn Schönberg "Schnee schaufeln" anstatt komponieren würde. Anlass waren die "5 Orchesterstücke, die er 1912 Strauß zur Begutachtung geschickt hatte [...]

die aber frei atonal, nicht 12-tönig sind, und man darf nicht vergessen, daß sich Strauß mit "Elektra" auf demselben Weg befunden hatte - raus aus der Tonalität. Klytämnestras Angstvisionen unterscheiden sich kaum von der "Erwartung". Erst mit dem "Rosenkavalier" hatte Strauß sich entschieden, auf dem Boden einer erweiterten Tonalität zu verbleiben.


Gustav Mahler konnte ihm aber auch nicht mehr folgen, nur sagte er das seinem Schützling im Gegensatz zu Strauß direkt ins Gesicht.

Mahler hat Schönberg sogar rezipiert: Der Kopfsatz der 9.Symphonie ist ohne "Pelleas und Melisande" undenkbar, und der erste Satz der 10. paraphrasiert den Kopfsatz von Schönbergs 2.Streichquartett (dessen Hauptthema), vom atonalen Klangeinbruch in der Satzmitte ganz zu schweigen...

Herzliche Grüße!
Bunbury

Bunbury
07.03.2016, 21:41
Ich habe das vorher nicht gekannt und hier zum ersten Mal gehört. Und irgendwie hat es sich so in meinen Kopf eingebrannt dass es dort ständig zu hören ist. Ich glaube sogar, ich habe deswegen heute Nacht so wenig geschlafen. Keine Ahnung ob ich das jetzt als positive oder negative Auswirkung werten soll. Jedenfalls ist es so.

Ich würd's als was Gutes ansehen: Es beschäftigt Dich. Die beste Musik ist die, die sich im Kopf des Hörenden weiterentwickelt.

Panier
07.03.2016, 23:50
gekürzt durch mich

An der Stelle mal ein herzliches Dankeschön für diesen Strang.

Hier kommen ja so viele Aspekte zur Sprache! Ihr solltet wirklich ernsthaft in Erwägung ziehen, einenneuen Themenbereich "Kulturbetrieb" oder "Musikbetrieb" oder so ähnlich einzurichten.

Gedanke am Rande: kann die Sächsische Staatsoper Dresden (vulgo: "Semperoper") an einem der traditionellen Pegida-Versmmlungsplätzen eigentlich noch Richard Strauss' Salome aufführen? Immerhin endet dieses Werk mit dem Ausruf "Man TÖTE dieses Weib!".

Bunbury
08.03.2016, 00:33
Gedanke am Rande: kann die Sächsische Staatsoper Dresden (vulgo: "Semperoper") als einem der traditionellen Pegida-Versammlungsplätze eigentlich noch Richard Strauss' Salome aufführen? Immerhin endet dieses Werk mit dem Ausruf "Man TÖTE dieses Weib!".

Ist ja schon sehr aktuell - mit der Rolle des jungen Syrers, an dessen Seite Salome (im Angela-Merkel-Hosenanzug, mit Kanzlerinnen-Raute) ein Selfie schießen könnte. Eine aktualisierende Regietheater-Neuinszenierung müßte zudem noch Jochanaan als Joachim Gauck stilisieren, Herodias als Claudia Roth und Herodes als Horst Seehofer.

derNeue
08.03.2016, 14:21
Lieber Neuer,

zunächst einmal: Ich schließe mich der Vorrednerin an



und danke Dir nebenher auch für diese schöne Gelegenheit, sich sachlich und freundlich auszutauschen, selbst wenn wir in einigen Punkten gegensätzliche Auffassungen haben. Das ist im HPF keine Selbstverständlichkeit.

Danke,immer wieder gern.


Auch Schönbergs Musik ist hörend erfahrbar; sie braucht nur etwas mehr Hörerfahrung (und natürlich den guten Willen, sich von ihr - wie von jeder guten Musik - beschenken zu lassen). Umgekehrt: Ein Gutteil der Strukturmerkmale in der Kunstmusik wird vom Laien nicht hörend nachvollzogen. Wer hört in einer Sonatenexposition, daß das Seitenthema exakt in der Dominante steht, außer ein paar Leute mit gutem musikalischem Gedächtnis und absolutem Gehör? Wer hört den Krebsgang einer Melodie, egal ob in einer frankoflämischen Motette oder bei Schönberg? Der Witz ist, daß ein Laie diese Bezüge gar nicht wahrnehmen muß und trotzdem etwas von der Musik hat.

Schönbergs Musik ist insofern hörend erfahrbar, als das der Hörer etwas dabei empfindet. Aber ihre Strukturelemente, die eben das ästhetische Erleben ausmachen, sind hörend nicht erfahrbar. Vereinfacht: kein Mensch kann sich eine Zwölftonreihe merken. Damit fällt der für das ästhetische Erleben essentielle Faktor der Wiederkennung weg. Das wäre noch nichts besonderes, wenn die wegfallende Melodik durch andere erkennbare Strukturen in anderen Parametern ersetzt würde. Was bei Schönberg aber nicht der Fall ist.

Was die klassischen Formen angeht, so sind diese auch für den Laien hörend erfahrbar. Ein Thema, auch eine Fortspinnung, läßt sich wiedererkennen, auch wenn der Hörer kein Vorwissen über die Form mitbringt. Die natürliche Spannung zwischen Dissonanz und Auflösung empfindet jeder musikalische Mensch, was man auch daran sieht, daß sich die abendländische Harmonik weltweit verbreitet hat. Bach Kantaten werden u.a. am meisten geschätzt in Japan. Du hast recht, daß der Hörer immer nur einen kleinen Ausschnitt der Detailfülle eines klassischen Werkes erfassen kann. Durch wiederholtes Hören wie auch durch musikalische Vorbildung erweitert sich dann dieser Ausschnitt und der Hörer "entdeckt" immer mehr in der Musik.


- zumal die Fuge als Gattung völlig auf die Funktionstonalität angewiesen ist. Es hat sie in vortonaler Zeit nicht gegeben, und alle nachtonalen Versuche à la Paul von Klenau (12-Ton-Fugen) sind idiotisch, weil die Fuge auf die Tonika-Dominant-Spannung angewiesen ist.

Nun, man könnte sicher auch eine neue Form der Fuge definieren, die ohne Kadenzen auskommt. Da sind die Komponisten sehr kreativ. Aber was die Zeit vorher angeht, hast Du recht.


Dein Mißverständnis besteht darin, kontrapunktische Arbeit auf Fugenkomposition zu reduzieren. Kontrapunktik bei Bach bedeutet vielerlei: Choralbearbeitung, also die Arbeit mit einem cantus firmus plus eigenständigen oder daraus abgeleiteten Gegenstimmen, Kanontechniken (in der Art der alten Frankoflamen, deren Spiegelkünste außer Bach keinen mehr interessiert hat) und deren Übertragung in den Fugenkontext (vor allem in der KdF), den Orgel-Triosatz, viel Imitatorik - wie Schönberg so schön sagte: Polyphonie als die Kunst, Stimmen zu erfinden, die sich selbst begleiten können. - Gleichzeitig war Bach ein ausgesprochener Harmoniker. Das hat Goethe aus ihm herausgehört und so benannt. Dazu muß man sich nur die Choräle ansehen, die selten auf die nächstliegende Art, sondern ganz eigenwillig harmonisiert sind (und es wirkt nie gekünstelt!). - Und nun kommt beides zusammen. Du hast mit Bach zwei Komponisten zum Preis von einem: Er kodiert seine Musik gewissermaßen doppelt, harmonisch in sich vollkommen stimmig – und zugleich als Resultat polyphoner Stimmführung.

Kontrapunktiker sind immer auch Harmoniker. Sie denken von ihrem Ursprung her nur mehr im Intervall- als im Harmoniesatz. Etwa 80% von Bachs Musik ist mehr oder weniger polyphon. Das ist mir bewußt. Bach war sowohl auf harmonischem wie auch auf kontrapunktischem Gebiet ein Meister. Seine im Vergleich zu seinen Zeitgenossen farbenreichere Harmonik resultiert aus den zahlreichen Zwischendominanten, die er benützt und die ihm ein großes Reservoir an nicht mehr leitereigenen Dreiklängen ermöglicht. Das findest Du nicht bei Telemann und noch weniger bei Händel oder Vivaldi.
Mir ging es allein um Deine Aussage, Bach hätte die Fugenform als erster mit der Funktionsharmonik verbunden. Das glaube ich so nicht. das war eher eine parallel laufende Entwicklung, die dem Geist der Zeit entsprach. Die polyphone Musik im allgemeinen war schon um 1600 auf dem absteigenden Ast. Anstelle der Motette war das Madrigal getreten und die Monodie, der Sologesang mit BC-Begleitung.
Schau Dir mal homophone Musik in der Spätrenaissance an. Z.B. Opernausschnitte, Tänze, Madrigale usw. Schon hier zeigen sich Ansätze von Dreiklangsdenken. Das Dreiklangsmaterial bewegt sich meist in etwa 6 Stufen im Quintenzirkel, wobei noch kein klares tonales Zentrum auszumachen ist.
Was die polyphone Musik betrifft hat es ca. 100 Jahre länger gedauert. Aber auch schon vor Bach gab es Fugen und Kadenzharmonik. Wenn Du willst, könnte ich Dir einige Beispiele heraussuchen.


Da bitte ich Dich, den Beweis anzutreten. Ich lasse mich gern vom Gegenteil überzeugen. Die Notwendigkeit, einen komplexeren Sachverhalt auf ein paar kurze Sätze bzw. Schlüsselbegriffe zu reduzieren, ergibt sich aus dem Ort unseres Gedankenaustauschs: einem Politikforum. Ich kann aber gerne noch ausführlicher werden, wenn der Rest der Mitlesenden hier nicht rebelliert.

Mir schien es, als woltest Du Beethovens Personalstil auf seine Art der Materialverarbeitung reduzieren. Vielleicht war das ja auch ein Mißverständnis. Sein Stil hat ja fast einen größeren Wandel durchlaufen als der irgend eines anderen Komponisten. In seinen frühen Werken nehmen die Durchführungen und Verarbeitungsteile ungefähr einen ebenso großen Platz ein wie bei Mozart oder Haydn. In der mittleren Periode vergrößert sich dieser Anteil. In den Spätwerken ist das dann wiederum sehr unterschiedlich. Einiges wird extrem breit ausgewalzt, anderes bleibt einfach im Raum stehen (vor allem Triviales). Dafür wären die letzten Quartette oder z.B. die Bagatellen für Klavier op 126 ein gutes Beispiel.


Ich weiß nicht, was Du meinst. Dem Ideal der Fortsetzungslogik war bei LvB alles unterworfen, auch in gröberen Werken wie den Symphonien; es war bei ihm geradezu eine fixe Idee, die von Haydn herrührt und mit der Empfindung zu tun hatte, daß die reine potpurri-hafte Aneinanderreihung von Ideen unkünstlerisch ist. Das Ideal war eben die motivisch-thematische Ableitung des Materials und dessen logische Verknüpfung/Verarbeitung, am reinsten ausgeprägt in der Satztechnik des Streichquartetts, das - um nochmal Goethe zu zitieren - als "Gespräch unter vier vernünftigen Leuten" charakterisiert wurde - ein sehr aufklärerisches Ideal, für Beethoven natürlich hochbedeutsam.

Da müßtest Du mir erklären, was Du meinst. Beispielsweise die Themen in den Hauptsätzen sind bei Beethoven oft antithetisch und keineswegs voneinander abgeleitet. Sie stehen eben nur in dieser Hinsicht in Beziehung zueinander, daß sie extreme Gegensätze sind. Bei Mozart oder Brahms könnte ich Dir da eher folgen.



Das mag für die ersten Barockkomponisten gelten, Jacopo Peri, Emilio de Cavalieri. Aber schon Monteverdi ist ein Komponist ersten Ranges. Für die Frühklassiker mag es auch wieder gelten, die Mannheimer oder Wiener jener Zeit, aber schon die Bach-Söhne werden notorisch unterschätzt. Und von den ersten Komponisten der frühen Moderne: Schönberg, Berg, Webern, Bartók, Strawinsky, ist kein einziger zweitrangig.

Man kann es sicher nicht verallgemeinern, aber im großen und Ganzen finde ich, stimmt meine Feststellung. Die Bachsöhne gehören für mich nicht zu den großen Komponisten und über Schönberg haben wir uns ja schon ausgetauscht. Aber es gibt viele Gegenbeispiele, da hast Du recht.


die aber frei atonal, nicht 12-tönig sind, und man darf nicht vergessen, daß sich Strauß mit "Elektra" auf demselben Weg befunden hatte - raus aus der Tonalität. Klytämnestras Angstvisionen unterscheiden sich kaum von der "Erwartung". Erst mit dem "Rosenkavalier" hatte Strauß sich entschieden, auf dem Boden einer erweiterten Tonalität zu verbleiben.

Strauß hat den Boden der Tonalität aber nie so komplett verlassen wie Schönberg. Man hört das in jeder seiner Opern, auch in der Salome. Sein Stil zu dieser Zeit wird als "gebrochene Tonalität" bezeichnet. Der Hörer findet immer zurück auf die altgewohnten Bahnen. Ansonsten habe ich auch nichts gegen atonale Musik an sich. Es gibt jede Menge geniale atonale oder freitonale Musik im vorigen Jahrhundert, die weit über Strauß hinausgeht. Mir geht es eigentlich nur um das hörende Erkennen einer ästhetischen Struktur an sich. Wie ich das oben beschrieben habe. Und was mich betrifft, so denke ich, ein Musikerleben und jede Menge Erfahrung mit Musik des 20. Jahrhunderts sollte ausreichen, um nicht mehr davon auszugehen, daß mir hier einfach die Hörerfahrung fehlen würde. Zumal sehr viele bekannte Künstler die Dinge in Bezug auf die neue Wiener Schule genau so sehen wie ich. (Aber nicht alle, das gebe ich gerne zu!)
Ich sehe das so: Wenn ein Komponist etwas Neues macht und er wird zu Lebzeiten dafür verlacht und ausgebuht, dann ist das normal. Wenn aber nach hundert Jahren seine Musik immer noch nicht zum Standartrepertoire gehört, mehr und mehr vom Status "lebendig gespielt" in die Schublade "musikhistorisch bedeutend" abgelegt wird, dann ist es sicher kein Fehler, davon auszugehen, daß das auch mit der Musik selbst zusammenhängen könnte.

derNeue
08.03.2016, 16:37
Mir ging es allein um Deine Aussage, Bach hätte die Fugenform als erster mit der Funktionsharmonik verbunden. Das glaube ich so nicht. das war eher eine parallel laufende Entwicklung, die dem Geist der Zeit entsprach. Die polyphone Musik im allgemeinen war schon um 1600 auf dem absteigenden Ast. Anstelle der Motette war das Madrigal getreten und die Monodie, der Sologesang mit BC-Begleitung.
Schau Dir mal homophone Musik in der Spätrenaissance an. Z.B. Opernausschnitte, Tänze, Madrigale usw. Schon hier zeigen sich Ansätze von Dreiklangsdenken. Das Dreiklangsmaterial bewegt sich meist in etwa 6 Stufen im Quintenzirkel, wobei noch kein klares tonales Zentrum auszumachen ist.
Was die polyphone Musik betrifft hat es ca. 100 Jahre länger gedauert. Aber auch schon vor Bach gab es Fugen und Kadenzharmonik. Wenn Du willst, könnte ich Dir einige Beispiele heraussuchen.


Z.B. das hier, hab ich gerade im Netz gefunden: Fugen von Buxtehude, der hat ja sehr viele Orgelwerke geschrieben. Der hatte auch seine eigene Konzertreihe in Lübeck, die wohl sehr angesehen war. Vor oder gleichzeitig- aber in jedem Fall unabhängig von Bach entstanden: reine funktionale Kadenzharmonik. Die entsprechen vom Aufbau her recht genau Stücken wie z.B. Bachs c-moll Fuge aus dem W.T.
http://ks.imslp.info/files/imglnks/usimg/d/d5/IMSLP05204-Buxtehude-Fugues.pdf

Ähnliches hab ich auch noch in meinem eigenen Notenbestand, kann ich nur nicht einscannen: Fugen von Frescobaldi (die heißen allerdings nicht immer so) , Sweelinck oder Pachelbel.

Bunbury
08.03.2016, 17:37
Schönbergs Musik ist insofern hörend erfahrbar, als das der Hörer etwas dabei empfindet. Aber ihre Strukturelemente, die eben das ästhetische Erleben ausmachen, sind hörend nicht erfahrbar. Vereinfacht: kein Mensch kann sich eine Zwölftonreihe merken. Damit fällt der für das ästhetische Erleben essentielle Faktor der Wiederkennung weg. Das wäre noch nichts besonderes, wenn die wegfallende Melodik durch andere erkennbare Strukturen in anderen Parametern ersetzt würde. Was bei Schönberg aber nicht der Fall ist.

Ich kann's nicht ändern, aber das ist falsch. Schönberg selbst hat darauf insistiert, daß der reihentechnische Hintergrund eine Privatsache des Komponisten ist. Fürs Verständnis seiner Kompositionen ist die 12-Ton-Erbsenzählerei völlig irrelevant. Und seine Musik bestätigt das insofern, als ihre Formen (Sonatensatz, Sonatenrondo, 3-teilige Liedform, stilisierte Tänze) und Formteile (Themen, Überleitungen, Durchführungen) mit den Reihenabläufen nicht kongruieren. Diese Inkongruenz haben ihm Boulez und andere Serialisten später zum Vorwurf gemacht. Webern hat diese Kongruenz angestrebt und die Reihenbindung seine Musik durch besonders kunstvolle Reihenbildung hörbar zu machen versucht (durch Reihen, die in sich schon ihre Spiegelformen enthalten). Und was ist passiert? Die ersten von Webern hörbar beeinflußten Komponisten, Cage und Feldman, hat diese Reihenbildung überhaupt nicht gejuckt; sie haben sich nur an dem zerrissenen pointillistischen Klangbild orientiert.


Was die klassischen Formen angeht, so sind diese auch für den Laien hörend erfahrbar. Ein Thema, auch eine Fortspinnung, läßt sich wiedererkennen, auch wenn der Hörer kein Vorwissen über die Form mitbringt. Die natürliche Spannung zwischen Dissonanz und Auflösung empfindet jeder musikalische Mensch, was man auch daran sieht, daß sich die abendländische Harmonik weltweit verbreitet hat. Bach Kantaten werden u.a. am meisten geschätzt in Japan. Du hast recht, daß der Hörer immer nur einen kleinen Ausschnitt der Detailfülle eines klassischen Werkes erfassen kann. Durch wiederholtes Hören wie auch durch musikalische Vorbildung erweitert sich dann dieser Ausschnitt und der Hörer "entdeckt" immer mehr in der Musik.

Was aber auch für die von Dir ungeliebte Musik gilt. Mindestens Leila und ich sind der Beweis.


Nun, man könnte sicher auch eine neue Form der Fuge definieren, die ohne Kadenzen auskommt. Da sind die Komponisten sehr kreativ. Aber was die Zeit vorher angeht, hast Du recht.

Meinst Du, ohne die Tonika-/Dominantspannung kann die Fuge überleben? Ich weiß es nicht. Ich kenne nur ein Beispiel einer gelungenen Fuge im nichttonalen Kontext, den Schlußsatz aus Henzes Klaviersonate, der allerdings versteckte tonale Bezüge aufweist.


Mir ging es allein um Deine Aussage, Bach hätte die Fugenform als erster mit der Funktionsharmonik verbunden.

Herrjemerschnee, wie oft denn noch? Das hast Du Dir irgendwie zurechtgemodelt! Ich sprach bei Bach von der Kombination harmonischen und polyphonen Denkens generell, auf sein Gesamtschaffen bezogen. Bitte laß das mal in Deinen großen Schädel hinein!


Schau Dir mal homophone Musik in der Spätrenaissance an. Z.B. Opernausschnitte [...]

Das würde ich gerne! Ich kenne nur keine Oper aus der Renaissancezeit.


[...] Tänze, Madrigale usw. Schon hier zeigen sich Ansätze von Dreiklangsdenken. Das Dreiklangsmaterial bewegt sich meist in etwa 6 Stufen im Quintenzirkel, wobei noch kein klares tonales Zentrum auszumachen ist.

Das stimmt. Am interessantesten sind in den polyphonen Messen und Motetten die Einschübe in rein akkordischem Blocksatz - für bestimmte, aus theologischen Gründen hervorgehobene Schlüsselbegriffe -, Noëma genannt, in denen sich der homophone Satz ankündigt.


Mir schien es, als woltest Du Beethovens Personalstil auf seine Art der Materialverarbeitung reduzieren. Vielleicht war das ja auch ein Mißverständnis. Sein Stil hat ja fast einen größeren Wandel durchlaufen als der irgend eines anderen Komponisten. In seinen frühen Werken nehmen die Durchführungen und Verarbeitungsteile ungefähr einen ebenso großen Platz ein wie bei Mozart oder Haydn. In der mittleren Periode vergrößert sich dieser Anteil.

Interessant sind in dem Zusammenhang die Überleitungsteile, die zu kleinen Durchführungen mutieren - was allerdings schon bei Haydn vorgebildet ist.


Da müßtest Du mir erklären, was Du meinst. Beispielsweise die Themen in den Hauptsätzen sind bei Beethoven oft antithetisch und keineswegs voneinander abgeleitet. Sie stehen eben nur in dieser Hinsicht in Beziehung zueinander, daß sie extreme Gegensätze sind. Bei Mozart oder Brahms könnte ich Dir da eher folgen.

Selbst wenn sie antithetisch sind, gibt es oft feine diastematische Zusammenhänge. Oder die Themen in ihrer Gegensätzlichkeit sind auf ihre Kombinierbarkeit in der Durchführung hin angelegt.


[...] Einiges wird extrem breit ausgewalzt, anderes bleibt einfach im Raum stehen (vor allem Triviales). Dafür wären die letzten Quartette oder z.B. die Bagatellen für Klavier op 126 ein gutes Beispiel.

Bei den späten Quartetten wundert's mich, daß Du sie als Beispiel anführst. Bei denen gibt es ja sogar werkübergreifende motivische Zusammenhänge!

Bei den Bagatellen op.126 stimme ich Dir vollkommen zu. Aber das sind eben auch Stücke mit reduziertem künstlerischen Anspruch (aus LvBs Perspektive betrachtet), wie schon der Werktitel verrät - was uns nicht daran hindert, diese Stücke als vollkommene Musik zu bewundern.


Man kann es sicher nicht verallgemeinern, aber im großen und Ganzen finde ich, stimmt meine Feststellung.

Hand aufs Herz: Es geht Dir bei dem Beharren auf Deiner Feststellung nur um die Verunglimpfung Schönbergs und seiner Schüler, mit denen Du partout nicht zurechtkommst. Was mir daran mißfällt, ist die Verwandlung einer privaten Abneigung in eine verallgemeinerndes Werturteil. Ich komme mit der romantischen italienischen Oper nicht zurecht. Aber ich gebe z.B. nicht Verdi, sondern mir die Schuld. Ich würde mich hüten, aus meiner Abneigung ein musikästhetisches Weltbild zusammenzubasteln (wär mir ein Leichtes!), das Verdis kompositorisches Scheitern zu beweisen versucht. Ich bitte Dich um dieselbe Noblesse Schönberg gegenüber. Und komm mir nicht mit Aufführungszahlen, Mehrheitsmeinungen oder Zeugnissen anderer Komponisten. Das ist alles so wenig aussagekräftig wie das Gegenteil.


Wenn ein Komponist etwas Neues macht und er wird zu Lebzeiten dafür verlacht und ausgebuht, dann ist das normal. Wenn aber nach hundert Jahren seine Musik immer noch nicht zum Standartrepertoire gehört, mehr und mehr vom Status "lebendig gespielt" in die Schublade "musikhistorisch bedeutend" abgelegt wird, dann ist es sicher kein Fehler, davon auszugehen, daß das auch mit der Musik selbst zusammenhängen könnte.

Njet. Die Musik der Wiener Schule plus Nachfolgekomponisten à la B.A.Zimmermann ist so mit das Sperrigste, was es in der Neuen Musik gibt, ausgenommen gewisse Berg-Werke, spröder sogar als vieles aus der Nachkriegszeit (Ligeti et al.). Aber das beweist überhaupt nichts. Und selbst wenn Leila und ich die einzigen wären, die solche Musik hörend nachvollziehen können und von ihr womöglich zu Tränen gerührt werden, dann hat diese Musik schon ihr Daseinsrecht erstritten, und wer mit ihr nicht zurechtkommt - siehe weiter oben - sollte dann einfach passen und sich anderem Schönen zuwenden, statt diese Musik ohne Not schlechtzureden...

Bunbury
08.03.2016, 17:57
Z.B. das hier, hab ich gerade im Netz gefunden: Fugen von Buxtehude, der hat ja sehr viele Orgelwerke geschrieben. Der hatte auch seine eigene Konzertreihe in Lübeck, die wohl sehr angesehen war. Vor oder gleichzeitig- aber in jedem Fall unabhängig von Bach entstanden: reine funktionale Kadenzharmonik. Die entsprechen vom Aufbau her recht genau Stücken wie z.B. Bachs c-moll Fuge aus dem W.T. [...]
Ähnliches hab ich auch noch in meinem eigenen Notenbestand, kann ich nur nicht einscannen: Fugen von Frescobaldi (die heißen allerdings nicht immer so), Sweelinck oder Pachelbel.

Bitte, bitte, laß ab davon... Dein ganzer Furor beruht auf einem Mißverständnis (siehe oben). Du rennst bei mir offene Türen ein, und Deine Beispiele sind schon allein deswegen so unnötig, weil die Fuge als Gattung - wie gesagt - auf die Tonalität angewiesen ist. Ihre Entstehungs- und Blütezeit war das Generalbaßzeitalter, die erste Stilepoche, die in Akkordfunktionen gedacht hat. Man kann sogar darüber streiten, ob sie als Gattung nicht nur im Barock lebendig gewesen ist - von Beethovens aberwitzigen Fugen mal abgesehen. In der Romantik, bei Mendelssohn und Schumann, leidet die Fuge unter der liedhaften Thematik, die dem Fugenideal widerspricht - Fugenthemen sollten ein möglichst offenes Ende haben und nicht wie eine Liedperiode abschließen. Aber auch da gibt es phantastische Ausnahmen (César Franck - und natürlich Brahms: "Ein deutsches Requiem"). Im 20.Jahrhundert ist Bartóks Fuge aus der "Musik für Saiteninstrumente etc." eine hervorhebenswerte Ausnahme. Aber es fällt auf, daß die Fuge nach Bach generell zum Übungsstück, zur Lehrlingsarbeit herabsinkt und keinen richtigen Sitz im Leben mehr hat.

Rikimer
08.03.2016, 18:10
Da kann man sich allerdings fragen, warum ein Zuhörer viel Geld ausgibt für eine Musik, die ihm nicht gefällt.

Vermutlich kommt er mit der naiven Vorstellung bzw. Illusion. in den Saal, es wuerde noch gute Musik gespielt. Nun, die Moderne hat nichts schoenes und gutes mehr zu bieten. Nur Chaos, Unruhe, Unfrieden. Das uebertraegt sich natuerlich auch auf den Zuhoerer, welcher, anstatt sich bei der Musik zu entspannen und in der Schoenheit der Kunst zu verlieren, geistig-seelisch terrorisiert wird von Kuenstlern, welche selbst nahe am Wahnsinn spazieren gehen in ihrem Sinnen modern, fortschrittlich, avantgardistisch zu sein. Dabei sich konsequent am tierischem, an niederen, primitiven orientieren und es sich dort bequem machen, waerend alle Arten und Weisen des abartigen ausprobiert werden im freien Fall.

derNeue
08.03.2016, 18:56
Ich kann's nicht ändern, aber das ist falsch. Schönberg selbst hat darauf insistiert, daß der reihentechnische Hintergrund eine Privatsache des Komponisten ist. Fürs Verständnis seiner Kompositionen ist die 12-Ton-Erbsenzählerei völlig irrelevant. Und seine Musik bestätigt das insofern, als ihre Formen (Sonatensatz, Sonatenrondo, 3-teilige Liedform, stilisierte Tänze) und Formteile (Themen, Überleitungen, Durchführungen) mit den Reihenabläufen nicht kongruieren. Diese Inkongruenz haben ihm Boulez und andere Serialisten später zum Vorwurf gemacht. Webern hat diese Kongruenz angestrebt und die Reihenbindung seine Musik durch besonders kunstvolle Reihenbildung hörbar zu machen versucht (durch Reihen, die in sich schon ihre Spiegelformen enthalten). Und was ist passiert? Die ersten von Webern hörbar beeinflußten Komponisten, Cage und Feldman, hat diese Reihenbildung überhaupt nicht gejuckt; sie haben sich nur an dem zerrissenen pointillistischen Klangbild orientiert.


Dann erkläre mir doch mal bitte, was an einem Stück wie der Suite für Klavier op 25 (reine Zwölftonreihung) hörend erfahrbar sein soll. Wie gesagt: hörend. Ich meine eben nicht, daß er Präludium, Gavotte, Musette, Menuett/Trio usw. drüber schreibt um mit dem Holzhammer den Barockbezug herzustellen. Ich meine auch nicht, daß er im Menuett den 3/4 Takt benutzt, 4taktigen Teileaufbau anlegt mit Wiederholungszeichen etc. Das sind nämlich alles nur Äußerlichkeiten. Zumal Taktstriche, nebenbei bemerkt in großen Teilen der modernen Musik sowieso überflüssig sind, da sie keine metrischen Betonungsfunktionen mehr haben. Sie dienen dann mehroder weniger nur noch den Musikern als Hilfe zum Einstudieren.
Nei ich meine ganz simpel: auf welche Parameter in diesem Stück soll sich das ästhetische Erlebnis der Form, des Wiederkehrens von zuvor Gehörtem, beziehen? Denn genau das ist die Voraussetzung für das Erleben von musikalischer Ästhetik oder, wie der Laie sagt: "Die Musik versteh ich".


Was aber auch für die von Dir ungeliebte Musik gilt. Mindestens Leila und ich sind der Beweis.

Ich meine mich zu erinnern, daß Leila sich anders geäußert hätte, aber seis drum: ich habe bereits mehrfach eingeräumt, daß andere das anders sehen. Und das freut mich.


Meinst Du, ohne die Tonika-/Dominantspannung kann die Fuge überleben? Ich weiß es nicht. Ich kenne nur ein Beispiel einer gelungenen Fuge im nichttonalen Kontext, den Schlußsatz aus Henzes Klaviersonate, der allerdings versteckte tonale Bezüge aufweist.

Kenne ich jetzt nicht, aber ist nicht die Glenn Gould Fuge auch atonal?


Herrjemerschnee, wie oft denn noch? Das hast Du Dir irgendwie zurechtgemodelt! Ich sprach bei Bach von der Kombination harmonischen und polyphonen Denkens generell, auf sein Gesamtschaffen bezogen. Bitte laß das mal in Deinen großen Schädel hinein!

Gut dann einigen wir uns auf Folgendes: Bach war derjenige, der die funktionale Harmonik und den höchstentwickelten Kontrapunkt in perfekter und unerreichter Weise kombiniert hat. Damit kann ich leben. Ich meine allerdings, Du hättest gesagt, er sei der erste gewesen, die diese beiden Kompositionsprinzipien kombiniert hätte. Das wäre dann falsch, wie ich gezeigt habe.


Das würde ich gerne! Ich kenne nur keine Oper aus der Renaissancezeit.

Ich könnte Dir auch hier ein paar Beispiele raussuchen.



Das stimmt. Am interessantesten sind in den polyphonen Messen und Motetten die Einschübe in rein akkordischem Blocksatz - für bestimmte, aus theologischen Gründen hervorgehobene Schlüsselbegriffe -, Noëma genannt, in denen sich der homophone Satz ankündigt.

Ja, das hat Monteverdi glaub ich auch so gefordert. Aus Respekt gegenüber Gott. Er war wohl einer der ersten, die das homophone Prinzip vertreten haben.



Interessant sind in dem Zusammenhang die Überleitungsteile, die zu kleinen Durchführungen mutieren - was allerdings schon bei Haydn vorgebildet ist.



Selbst wenn sie antithetisch sind, gibt es oft feine diastematische Zusammenhänge. Oder die Themen in ihrer Gegensätzlichkeit sind auf ihre Kombinierbarkeit in der Durchführung hin angelegt.

Nun tauchen ja aber nicht unbedingt in jeder Durchführung beide Themen überhaupt auf. Grundsätzlich gebe ich Dir hier aber recht: Die Erfindung der "motivisch-thematischen Arbeit" ist eine typische Erscheinung der Wiener Klassik. Nur heißt das umgekehrt wiederum nicht, daß alles Material etwa im Sonatenhauptsatz voneinander ageleitet wäre oder sich immer aus einer einzigen Keimzelle ergeben würde. Da könnte ich Dir unzählige Gegenbeispiele nennen. Es wäre sicher interessant, hierüber mal eine Statistik anzufertigen.



Bei den späten Quartetten wundert's mich, daß Du sie als Beispiel anführst. Bei denen gibt es ja sogar werkübergreifende motivische Zusammenhänge!

Du findest da Beispiele für praktisch alles, das wäre einen eigenen Strang wert.


Bei den Bagatellen op.126 stimme ich Dir vollkommen zu. Aber das sind eben auch Stücke mit reduziertem künstlerischen Anspruch (aus LvBs Perspektive betrachtet), wie schon der Werktitel verrät - was uns nicht daran hindert, diese Stücke als vollkommene Musik zu bewundern.
Vielleicht, oder einfach anderem musikalischen Anspruch. Die Bagatellen wurden ja auch von seinen Spätwerken am meisten angefeindet.



Hand aufs Herz: Es geht Dir bei dem Beharren auf Deiner Feststellung nur um die Verunglimpfung Schönbergs und seiner Schüler, mit denen Du partout nicht zurechtkommst. Was mir daran mißfällt, ist die Verwandlung einer privaten Abneigung in eine verallgemeinerndes Werturteil. Ich komme mit der romantischen italienischen Oper nicht zurecht. Aber ich gebe z.B. nicht Verdi, sondern mir die Schuld. Ich würde mich hüten, aus meiner Abneigung ein musikästhetisches Weltbild zusammenzubasteln (wär mir ein Leichtes!), das Verdis kompositorisches Scheitern zu beweisen versucht. Ich bitte Dich um dieselbe Noblesse Schönberg gegenüber. Und komm mir nicht mit Aufführungszahlen, Mehrheitsmeinungen oder Zeugnissen anderer Komponisten. Das ist alles so wenig aussagekräftig wie das Gegenteil.

Auf Deinen Schönberg läßt Du nichts kommen, nicht wahr? Das darfst Du gerne. Aber mal ehrlich: persönliche Abneigung einer Musik und allgemeines Werturteil kannst Du doch gar nicht wirklich trennen! Wenn ich sage: mir gefällt eine Musik nicht, dann folgt doch schon zwingend daraus:Ich halte nicht viel von dieser Musik. Ich habe ja mein Urteil nie als allgemeingültig angesehen, sondern immer konzediert, daß andere das mit genau dem gleichen Recht wie ich anders sehen!
Aber gerade in meinem Fall mußt Du mir schon zugestehen, daß ich Werturteile über Musik fälle! Das tue ich bei jedem Komponisten, nicht nur bei Schönberg. Von Cage halte ich z.B. auch nicht viel, um nur ein beispiel zu nennen. Ich kenne keinen Musiker, der so eine Wertskala für sich nicht im Kopf hätte, solange ihm die Musik überhaupt etwas bedeutet. Und ich halte das auch für völlig legitim, solange man tolerant gegenüber anderen Meinungen ist. Meine Ansicht nach "underrated" ist z.B. Skrjabin, im Westen auch Neoromantiker wie Rachmaninow, Miaskowsky u.v.a.
Die Bachsöhne allerdings nicht, da unterscheide ich mich wiederum von Dir. Über solche Fragen und Ansichten tausche ich mich gerne aus.



Njet. Die Musik der Wiener Schule plus Nachfolgekomponisten à la B.A.Zimmermann ist so mit das Sperrigste, was es in der Neuen Musik gibt, ausgenommen gewisse Berg-Werke, spröder sogar als vieles aus der Nachkriegszeit (Ligeti et al.). Aber das beweist überhaupt nichts. Und selbst wenn Leila und ich die einzigen wären, die solche Musik hörend nachvollziehen können und von ihr womöglich zu Tränen gerührt werden, dann hat diese Musik schon ihr Daseinsrecht erstritten, und wer mit ihr nicht zurechtkommt - siehe weiter oben - sollte dann einfach passen und sich anderem Schönen zuwenden, statt diese Musik ohne Not schlechtzureden...
Tut mir mittlerweile echt leid, was ich über Schönberg gesagt habe. Und natürlich würde ich nicht im Traum die Daseinsberechtigung irgendeiner Musik in Zweifel ziehen! Wenn Du meinst, die Musik sei einfach zu sperrig, sollten wir vielleicht nochmal 100 Jahre warten.
Aber im Ernst: Wenn Dich diese Musik zu Tränen rührt, dann freut mich das ganz aufrichtig und damit hat die Musik auch schon ihren Zweck erfüllt. Unterschiedlichste Reaktionen auf musikalische Kunstwerke habe ich immer wieder erlebt, das ist das Normalste von der Welt! Lass Dich nicht verunsichern, bleib einfach bei Deiner Meinung. gesteh aber auch anderen zu, daß sie das anders empfinden und ihre Empfindungen auch äußern. Wir haben beide nicht das Exklusivrecht auf die "wahre Sichtweise".

derNeue
08.03.2016, 19:07
Bitte, bitte, laß ab davon... Dein ganzer Furor beruht auf einem Mißverständnis (siehe oben). Du rennst bei mir offene Türen ein, und Deine Beispiele sind schon allein deswegen so unnötig, weil die Fuge als Gattung - wie gesagt - auf die Tonalität angewiesen ist. Ihre Entstehungs- und Blütezeit war das Generalbaßzeitalter, die erste Stilepoche, die in Akkordfunktionen gedacht hat. Man kann sogar darüber streiten, ob sie als Gattung nicht nur im Barock lebendig gewesen ist - von Beethovens aberwitzigen Fugen mal abgesehen. In der Romantik, bei Mendelssohn und Schumann, leidet die Fuge unter der liedhaften Thematik, die dem Fugenideal widerspricht - Fugenthemen sollten ein möglichst offenes Ende haben und nicht wie eine Liedperiode abschließen. Aber auch da gibt es phantastische Ausnahmen (César Franck - und natürlich Brahms: "Ein deutsches Requiem"). Im 20.Jahrhundert ist Bartóks Fuge aus der "Musik für Saiteninstrumente etc." eine hervorhebenswerte Ausnahme. Aber es fällt auf, daß die Fuge nach Bach generell zum Übungsstück, zur Lehrlingsarbeit herabsinkt und keinen richtigen Sitz im Leben mehr hat.

..was wohl damit zusammen hängt, daß polyphone Musik überhaupt im Grunde der Hörpsychologie widerspricht (hoffentlich ist Dir das jetzt nicht wieder zu ketzerisch :ätsch: ). Im Grunde ist es ja so, wie wenn Du ein Buch ließt, und versuchst, immer 2 Sätze gleichzeitig zu lesen und zu verstehen: es geht nicht wirklich.
Der Mensch kann sich nur auf ein Themensubjekt auf einmal konzentrieren. Ja, die Nachfolgekomponisten haben alle ihre Tribut geleistet und ihre persönliche Verbeugung vor der Fuge gemacht (Beethovens Spätstil ja ganz besonders). Aber es sind alles Ausnahmen geblieben. Polyphone Musik als Massenware, als Gebrauchsmusik ist völlig ausgestorben.
Ich meine, das hängt auch damit zusammen, daß das Komponieren in der Renaissancezeit noch sehr mathematisch abgelaufen ist. Und auch Bachs Fugen sind ja nie "für den Hörer" geschrieben worden, etwa für eine Gelegenheit, oder auch nur zur "Erquickung des Gehörs". Ich denke, Fugen schreiben war für Bach eine Art und Weise, Gottes Größe zu zeigen und wie sie sich in der Musik offenbart, indem er aufzeigt, was musikalisch alles möglich ist. An mögliche Hörer hat er dabei zu allerletzt gedacht. Deswegen auch sein letztes großes Werk, die "Kunst der Fuge".

Leila
08.03.2016, 20:18
Berichtigung und Ergänzung meines Beitrags #89 (http://www.politikforen.net/showthread.php?170020-Konzerteklat-in-der-K%C3%B6lner-Philharmonie&p=8433245&viewfull=1#post8433245):

Da meine vielen Tagebücher noch immer nicht allesamt elektronisch erfaßt sind, muß ich sie manuell durchsuchen, wenn ich etwas finden will, das ich vor langer Zeit der Mitteilung für wert erachtete.

Ich lernte genau im Jahr 1973 einen Bastler und Tüftler kennen, der in der Lage war, mittels seines 16-Spur-Rekorders diverse Geräusche aufzunehmen und diese miteinander zu vermischen. Und nicht nur das: Er konnte mit den mir unbegreiflichen elektronischen Geräten die aufgenommenen Geräusche nach Belieben beschleunigen und verlangsamen und lauter oder leiser ertönen lassen. Und eben diese vielfältigen Möglichkeiten der akustischen Verfremdung erweckten in mir das Bedürfnis, eine ‚Arbeitersymphonie‘ zu komponieren.

Nebst den obenerwähnten Maschinengeräuschen hörte ich noch das Rauschen des Aggregates, das durch Rohröffnungen Staub und Späne aufsog, das Zischen mehrerer Preßluftpistolen, das Klappern von Brettern, das Geräusch der Schiebetüre, das Geschrei der Arbeiter, das Geklingel eines Telephons, das Geklapper einer Schreibmaschine, die Nachrichten aus einem Lautsprecher und den viertelstündlichen Schlag einer Kirchenglocke.

Da dachte ich: All diese Geräusche müßte man auf Tonband aufzeichnen und sie den Stubenhockern zwangsweise mindestens acht Stunden lang vorspielen, damit sie eine Vorstellung von der akustischen Folter erlangen würden.

Nebenbei: In Gedanken stellte ich mir beim An- und Abschalten der Hobelmaschine ein abhebendes oder aufsetzendes Flugzeug vor.

Bunbury
08.03.2016, 21:43
Dann erkläre mir doch mal bitte, was an einem Stück wie der Suite für Klavier op 25 (reine Zwölftonreihung) hörend erfahrbar sein soll. Wie gesagt: hörend. [...]
ich meine ganz simpel: auf welche Parameter in diesem Stück soll sich das ästhetische Erlebnis der Form, des Wiederkehrens von zuvor Gehörtem, beziehen? Denn genau das ist die Voraussetzung für das Erleben von musikalischer Ästhetik oder, wie der Laie sagt: "Die Musik versteh ich".

Wobei man einem beginnenden Klassik-Liebhaber die Suite op.25 ersparen würde, genauso wie Skrjabins Préludes op.74 oder Jolivets "Mana". Also, zur Suite: Zum einen muß man den absonderlichen Klavierklang einzuordnen wissen. Schönberg hatte kurz zuvor die Serenade komponiert, die u.a. eine Mandoline erfordert, und in der Suite imitiert das Klavier über weite Strecken den Mandolinenklang (oder präziser: Schönbergs Vorstellung vom Mandolinenklang, wie in der Serenade realisiert). Ferner: Schönberg hatte in der frei atonalen Phase mit formal völlig freien, wiederholungslosen, athematischen Stücken experimentiert. In der Suite ist er schon auf halbem Weg zurück zur normalen Thematik - durch die Reihenbindung bedingt -, aber erst auf halbem Weg, d.h. es gibt zwar unterschwellige Motivbezüge, die aber nicht unbedingt sinntragend sind (das Menuett ist wohl der melodisch-konventionellste Satz, aber nach meinem Empfinden auch der schwächste). Fürs Erfassen der Musik sind andere Parameter entscheidend: Satzdichte (= Stimmfülle contra ausgedünntem Satz), Stimmungswechsel (Aggressivität contra Lyrik, ungestümes Vorpreschen contra Verweilen/Ausruhen), harte Dissonanzen (kleine Sekunden und Nonen, große Septime) contra weiche Dissonanzen (große Sekunden und Nonen, kleine Septime, Tritonus), wobei weiche Dissonanzen in diesem Kontext die entspannende Wirkung von Konsonanzen haben, während reale Konsonanzen mit größter Vorsicht behandelt werden, weil sie deplatziert wirken bzw. "falsche", nämlich an der Tonalität geschulte Hörerwartungen wecken. Die Suite ist keine Ausdrucksmusik, trotz der erstarrten, sozusagen eingefrorenen Expressionismen; sie ist reine musique pour faire plaisir - eine Feststellung, die manche wohl nicht nachvollziehen können.

Statt jetzt gleich wieder loszubelfern, was für ein Urgeheul an Musiksurrogat da jemand zu rechtfertigen versucht, kann ich nur bitten, sich einmal vorurteilsfrei dieser Musik so zuzuwenden, wie sie gehört werden möchte. Es hat prinzipiell keinen Sinn, Kunstwerke an einem Maßstab zu messen, den sie nicht erfülllen wollen. Ich weiß, daß mit diesem Argument auch jede Scharlatanerie gerechtfertigt werden kann. Die Suite op.25 ist nun auch ausgerechnet eines der sprödesten Werke aus Schönbergs Hand; dieses Werk einem Laienpublikum vorzustellen, ist eine denkbar fiese Aufgabe. Ich empfehle, das Werk in der Einspielung von Glenn Gould zu hören, und die Noten - wenn möglich - mitzulesen. Und was die Sprödigkeit betrifft (man verzeihe mir den Vergleich, ich bin halt ein Mann): Diese Musik ist wie eine zickige, launische, unberechenbare und verrückt gekleidete Frau, anstrengend und enervierend; aber wenn man sich von ihrer Rauhheit nicht abschrecken läßt, entdeckt man dahinter einen intelligenten, warmherzigen Menschen. Es dauert nur einige Zeit, bis man sie erkennt.


Kenne ich jetzt nicht, aber ist nicht die Glenn Gould Fuge auch atonal?

Nee, ganz brav tonal.


Gut dann einigen wir uns auf Folgendes: Bach war derjenige, der die funktionale Harmonik und den höchstentwickelten Kontrapunkt in perfekter und unerreichter Weise kombiniert hat. Damit kann ich leben. Ich meine allerdings, Du hättest gesagt, er sei der erste gewesen, die diese beiden Kompositionsprinzipien kombiniert hätte.

Ich sagte, daß er der erste und einzige war, der die kontrapunktischen Künste der Frankoflamen (imitatorische Spiegelungen, Proportionskanons) auf funktionstonaler Basis angewendet hat.


Die Erfindung der "motivisch-thematischen Arbeit" ist eine typische Erscheinung der Wiener Klassik. Nur heißt das umgekehrt wiederum nicht, daß alles Material etwa im Sonatenhauptsatz voneinander abgeleitet wäre oder sich immer aus einer einzigen Keimzelle ergeben würde. Da könnte ich Dir unzählige Gegenbeispiele nennen. Es wäre sicher interessant, hierüber mal eine Statistik anzufertigen.

Es gibt vor allem in der Romantik, im schwierigen Versuch, dem übermächtigen Modell LvB auszuweichen, neue Durchführungstechniken: einen unveränderten Melodieverlauf immer neu zu harmonisieren (Schubert), aus mehreren, präzise formulierten Themensegmenten neue Themen zusammenzustellen (Borodin), unterschiedliche Melodieverläufe auf dieselbe Art zu rhythmisieren (Bruckner), zwei Themen kontrapunktisch übereinanderzutürmen (ganz viele) - und natürlich alles vermischt. Da kommt kein Statistiker hinterher.


[...] Ich kenne keinen Musiker, der so eine Wertskala für sich nicht im Kopf hätte, solange ihm die Musik überhaupt etwas bedeutet. Und ich halte das auch für völlig legitim, solange man tolerant gegenüber anderen Meinungen ist.

Ich bin anders gepolt. Erst einmal ist es etwas anderes, im Lieben subjektiv zu sein, als im Hassen. Es kränkt mich nicht, wenn jemand neben mir Verdi liebt. Aber es kränkt mich, wenn jemand neben mir Cage haßt und seinen Haß auch noch für universell bedeutsam hält. Außerdem habe ich die vielleicht verrückte Gabe, sehr viel Musik zu lieben, von Pérotin bis - um mal wieder on topic zu sein - Steve Reich.


Meine Ansicht nach "underrated" ist z.B. Skrjabin, im Westen auch Neoromantiker wie Rachmaninow, Miaskowsky u.v.a.

Bei Miaskowsky stimme ich Dir zu. Aber die beiden anderen sind doch zu Recht als Klassiker der frühen Moderne etabliert. Höchstens der späte (und für mich natürlich viel interessantere) Skrjabin wird zuwenig rezipiert.

Bunbury
08.03.2016, 21:46
Der Mensch kann sich nur auf ein Themensubjekt auf einmal konzentrieren.

Bist Du Dir da sicher? Muß ich drüber nachdenken.


Ich denke, Fugen schreiben war für Bach eine Art und Weise, Gottes Größe zu zeigen und wie sie sich in der Musik offenbart [...]

Wunderschön formuliert - dafür würde ich Dir gerne einen grünen Punkt geben. Geht leider nicht.

Bunbury
08.03.2016, 22:25
[...] Text [...]

Liebe Leila,

Deine Musik würde ich gerne einmal kennenlernen. Was mich nur stutzig macht, ist Deine Geräusch-Rezeption, Geräusch ausschließlich als akustische Folter verstanden. Oder habe ich Dich mißverstanden?

Bei anderen Künstlern gibt es ein anderes, sozusagen unpolemisches Verständnis von Geräusch: das Geräusch (im Gegensatz zur fixierten Tonhöhe) einfach als eine komplexere Frequenz. John Cage war der erste, der das Geräusch in dieser Form genutzt und den fixierbaren Tonhöhen als gleichberechtigt gegenübergestellt hat. Man kann natürlich darüber streiten, ob er, in New York lebend und dort Tag und Nacht einem permanent hohen Geräuschpegel ausgesetzt, einfach einen akustischen Störenfried in sein Schaffen integriert hat, um ihn nicht mehr als störend empfinden zu müssen - die berühmte Identifikation mit dem Angreifer. Aber zumindest ist seine Geräuschmusik (von den frühen Stücken abgesehen, den 'Constructions in metal' und den 'Imaginary Landscapes') überwiegend ruhig, sogar sehr friedlich, meditativ, was zu Cages Orientierung am Zen-Buddhismus paßte...

Herzliche Grüße!
Bunbury

Leila
08.03.2016, 22:58
Herzlich geliebter Bunbury!

Deinen Zeilen entnehme ich, daß Du ein Musikwissenschaftler bist – also jemand, der mehr über die Konstruktion der Musik weiß, als ich Musikliebhaberin, die allein dem Musikgenuß frönt.

Ich erlaube mir nun, Dir eine Hypothese zu unterbreiten, in der Hoffnung, daß Du mir eine Antwort auf sie geben kannst. – Meine Hypothese lautet wie folgt: Wenn man das Tonbandgerät vor der Arie erfunden hätte, dann wären uns Hörern die stetigen Wiederholungen erspart geblieben – und auch die Minimal Music, deren einziger Genuß dieser ist: akustische Abweichungen festzustellen (ein Weber würde die Webmaschine anhalten, sobald er im Gewebe einen Fehler entdeckt).


Deine Dich liebevoll grüßende
Deine Dich liebevoll grüßende
D e i n e Dich
Deine D i c h
l i e b e v o l l grüßende
liebevoll g r ü ß e n d e

Leila ;)

Ausonius
09.03.2016, 07:09
Vermutlich kommt er mit der naiven Vorstellung bzw. Illusion. in den Saal, es wuerde noch gute Musik gespielt. Nun, die Moderne hat nichts schoenes und gutes mehr zu bieten. Nur Chaos, Unruhe, Unfrieden. Das uebertraegt sich natuerlich auch auf den Zuhoerer, welcher, anstatt sich bei der Musik zu entspannen und in der Schoenheit der Kunst zu verlieren, geistig-seelisch terrorisiert wird von Kuenstlern, welche selbst nahe am Wahnsinn spazieren gehen in ihrem Sinnen modern, fortschrittlich, avantgardistisch zu sein. Dabei sich konsequent am tierischem, an niederen, primitiven orientieren und es sich dort bequem machen, waerend alle Arten und Weisen des abartigen ausprobiert werden im freien Fall.

Ich muss es mal so hart sagen: du hast doch hier mal wieder null Ahnung von der Sache, Hauptsache, du hast hier mal deine üblichen Gemeinplätze zu Kulturzerfall usw. abgesetzt. Ich bin bestimmt auch kein Experte, habe aber von ein paar der hier thematisierten Komponisten schon mal gehört. Das angesprochene Stück von Steve Reich mögen manche als nervig empfinden, aber nicht, weil es so "primitiv" wäre, sondern eher zu technisch-mathematisch angelegt ist. Moderne Orchestermusik kann genauso gut leise und harmonisch sein:


https://www.youtube.com/watch?v=TJ6Mzvh3XCc

P.S.: Nebenaspekt: es vergeht sicher kein Tag in Deutschland, an dem man Mozart, Haydn, Bach und Beethoven nicht irgendwo live gespielt hören kann.

derNeue
09.03.2016, 10:47
Wobei man einem beginnenden Klassik-Liebhaber die Suite op.25 ersparen würde, genauso wie Skrjabins Préludes op.74 oder Jolivets "Mana". Also, zur Suite: Zum einen muß man den absonderlichen Klavierklang einzuordnen wissen. Schönberg hatte kurz zuvor die Serenade komponiert, die u.a. eine Mandoline erfordert, und in der Suite imitiert das Klavier über weite Strecken den Mandolinenklang (oder präziser: Schönbergs Vorstellung vom Mandolinenklang, wie in der Serenade realisiert). Ferner: Schönberg hatte in der frei atonalen Phase mit formal völlig freien, wiederholungslosen, athematischen Stücken experimentiert. In der Suite ist er schon auf halbem Weg zurück zur normalen Thematik - durch die Reihenbindung bedingt -, aber erst auf halbem Weg, d.h. es gibt zwar unterschwellige Motivbezüge, die aber nicht unbedingt sinntragend sind (das Menuett ist wohl der melodisch-konventionellste Satz, aber nach meinem Empfinden auch der schwächste). Fürs Erfassen der Musik sind andere Parameter entscheidend: Satzdichte (= Stimmfülle contra ausgedünntem Satz), Stimmungswechsel (Aggressivität contra Lyrik, ungestümes Vorpreschen contra Verweilen/Ausruhen), harte Dissonanzen (kleine Sekunden und Nonen, große Septime) contra weiche Dissonanzen (große Sekunden und Nonen, kleine Septime, Tritonus), wobei weiche Dissonanzen in diesem Kontext die entspannende Wirkung von Konsonanzen haben, während reale Konsonanzen mit größter Vorsicht behandelt werden, weil sie deplatziert wirken bzw. "falsche", nämlich an der Tonalität geschulte Hörerwartungen wecken. Die Suite ist keine Ausdrucksmusik, trotz der erstarrten, sozusagen eingefrorenen Expressionismen; sie ist reine musique pour faire plaisir - eine Feststellung, die manche wohl nicht nachvollziehen können.


Zunächst mal vielen Dank für die interessanten Infos zu diesem Werk, die ich vorher gar nicht kannte!
Abgesehen davon sehe ich meine Ausgangsfrage dadurch allerdings nicht beantwortet. Denn was Du hier beschreibst, sind mit Sicherheit keine wiedererkennbare Strukturelemente. Es sind Gegensätzlichkeiten, die erlebbar sind und die Gefühle auslösen. Weshalb ich auch weiter oben schrieb, daß die Musik durchaus Gefühle auslösen kann, wie auch das Betrachten eines abstrakten Bildes das kann.
Gegensätzlichkeiten gehören zu einem Kunstwerk dazu, das ist richtig. Schwankungen in der Satzdichte, krasse Gegensätze in der Dynamik oder Schwankungen im Klanggehalt der Intervalle nimmt der Hörer als Erlebnis wahr. Nur ist mein Anspruch an Musik etwas weiter gehend. Ich schieb bereits, daß für mich (mag bei anderen anders sein), für das ästhetische Erleben immer das Erfahren und Erkennen von Ordnung die Voraussetzung ist. Diese Ordnung kann sich durchaus auch im atonalen Raum vollziehen. Aber ich erwarte, daß diese Ordnung generell auch ohne Mitlesen oder Analyse der Partitur, also durch reines Hören, erfahrbar wird. Dieses Erschließen der Struktur, also der inneren Ordnung, mag sich durchaus nicht beim erstenmal Hören einstellen. Es können mehrere Hördurchgänge und konzentrierte Aufmerksamkeit notwendig sein.
Aber Musik, die ich erst analysieren muß, um sie zu "verstehen", hat für mich ihren Zweck verfehlt. Was Du hier beschreibst, ist die typische Expertensichtweise, das Expertenlob desjenigen, der das ganze analysiert und rational die Gedanken und Neuerungen erkennt. Eine solche Expertensichtweise kann durchaus den unbefangenen Blick auf die musikalische Wirkung verschließen.
Sie hat ihre Berechtigung, sie umfaßt aber nicht alles, was für mich letztlich die Qualität eines Werkes ausmacht.
Ein Beispiel: ein Harmonilelehre-Professor hätte sich vielleicht bei der Uraufführung des Tristan 1865 so über den genialen Einfall des Tristanakkordes gefreut, daß er allein schon deswegen die Oper oder zumindest die Stellen, wo dieser Akkord eingesetzt wird, für genial gehalten hätte. Er hätte das verglichen mit der Harmonik vorher und das kühne Neue, was in diesem Akkord steckt, bewundert. Aber hätte er damit die Wirkung der Stelle auf den unbefangenen Hörer, also die Musik an sich, ausreichend beschrieben? Sicher nicht.



Ich sagte, daß er der erste und einzige war, der die kontrapunktischen Künste der Frankoflamen (imitatorische Spiegelungen, Proportionskanons) auf funktionstonaler Basis angewendet hat.

Gut, daß Du das klargestellt hast. Dieses Detail aber ist sicher nicht Bachs wichtigster Verdienst.


Es gibt vor allem in der Romantik, im schwierigen Versuch, dem übermächtigen Modell LvB auszuweichen, neue Durchführungstechniken: einen unveränderten Melodieverlauf immer neu zu harmonisieren (Schubert), aus mehreren, präzise formulierten Themensegmenten neue Themen zusammenzustellen (Borodin), unterschiedliche Melodieverläufe auf dieselbe Art zu rhythmisieren (Bruckner), zwei Themen kontrapunktisch übereinanderzutürmen (ganz viele) - und natürlich alles vermischt. Da kommt kein Statistiker hinterher.

Das wäre auch mal ein interessantes Thema einer Diskussion.






Ich bin anders gepolt. Erst einmal ist es etwas anderes, im Lieben subjektiv zu sein, als im Hassen. Es kränkt mich nicht, wenn jemand neben mir Verdi liebt. Aber es kränkt mich, wenn jemand neben mir Cage haßt und seinen Haß auch noch für universell bedeutsam hält. Außerdem habe ich die vielleicht verrückte Gabe, sehr viel Musik zu lieben, von Pérotin bis - um mal wieder on topic zu sein - Steve Reich.

Du scheinst der irrigen Annahme zu sein, ich würde Schönberg oder Cage "hassen". Das ist nicht im geringsten der Fall. Grundsätzlich liebe ich eigentlich alle Musik. Sie bedeutet mir nur unterschiedlich viel.
Du scheinst Dich nicht damit abfinden zu wollen, daß es mir in Bezug auf Schönberg anders geht als Dir. Hast Du Ähnliches noch nie erlebt? Ich erlebe das ständig.
Was soll denn jemand sagen, der z.B. Verdi mehr schätzt als Du? Soll der sich dann auch gekränkt fühlen? Ein bisschen kann ich das schon verstehen. Wenn man selber von einer Musik begeistert ist und ein anderer sieht das ganz anders, dann ist das immer etwas schwer zu akzeptieren. Aber ich mußte diese Erfahrung häufig machen und habe mich so daran gewöhnt, daß es mich nicht mehr stört. Ich schätze z.B. Schnittke ganz über die Maßen. Und komischerweise gibt es viele Musiker, die mit Schnittke nichts anfangen können. Für mich ein Rätsel, aber es ist so.



Bei Miaskowsky stimme ich Dir zu. Aber die beiden anderen sind doch zu Recht als Klassiker der frühen Moderne etabliert. Höchstens der späte (und für mich natürlich viel interessantere) Skrjabin wird zuwenig rezipiert.
Es ärgert mich manchmal ein bisschen, daß Pianisten sich so auf Liszt stürzen. Jeder spielt die h-moll Sonate, als gäbe es nichts anderes für Klavier. Schumann wird vernachässigt, er hat mehr geschrieben für Klaviersolo als Liszt und Chopin. Schumanns Musik ist natürlich auch schwer und tiefgründig. Aber die Spätwerke Skrjabins als Beispiele für großartige Moderne Musik werden, sowohl im sinfonischen Bereich als auch auf dem Klavier, viel zu selten gespielt.
Rachmaninow ist natürlich ein evergreen. Gespielt wird er viel aber viele sehen auf ihn herab, was die Qualität betrifft. Das halte ich für unberechtigt.

Dr Mittendrin
09.03.2016, 10:55
Doch :lach: :ja:

Und wir befinden uns im post-zivilisatorischen Zeitalter. Das hast du nur noch nicht begriffen.
Merkel und Co. haben die Gesellschaft zerstört. Warum noch irgendwie zusammenhalten, sich an Regeln halten, warum noch zivilisiert sein?
Während andere ungestört mit Kriminalität Millionen verdienen.
Der Zivilisierte ist doch der Dumme, und das merken immer mehr Bürger.



Richtig, Zivilisation, Disziplin, Ordnung, damit kann man ein KZ führen sagte La Fontaine.
Diese toitschen Tugenden müssen weg.

Schlummifix
09.03.2016, 11:06
Richtig, Zivilisation, Disziplin, Ordnung, damit kann man ein KZ führen sage La Fontaine.
Diese toitschen Tugenden müssen weg.

Ich habe in Neu-Deutschland gelernt, dass man möglichst laut und unverschämt sein muss, um seine Ziele zu erreichen.
Die Kartoffeln wollen keinen Ärger haben, sind sehr erschrocken und suchen den Fehler in der Regel bei sich.
Mit Rücksichtnahme und Anstand kommst du hier nicht weiter.

Habe neulich sogar mal einen Bullen angeschnauzt und ihm mit dem Anwalt gedroht usw.; obwohl ich völlig im Unrecht war :D
Der hat dann sofort klein beigegeben.

Dr Mittendrin
09.03.2016, 11:09
Ich gehe regelmäßig in die Oper nach München, und ich würde es mir verbitten wenn ein Arschloch im Publikum mitten in einer Arie das Klatschen, Jubeln oder Buhen anfängt. Was mir persönlich auch auffällt, das heutzutage im Kino die Mehrheit unfähig ist, länger als 25 Minuten konzentriert und ruhig einem Film zu folgen. Ich gehe daher seit 15 Jahren nicht mehr ins Kino, das Getuschel, ständige im Film aufstehen, Lichtimpulse von Handys oder Handygeklingel geht mir auf den Sack. Mir kommt es so vor als wäre die Masse nach 30 Jahren Privatfernsehen und den alle 25-Minütigen Werbeunterbrechungen auf eben diese Zyklen konditioniert, alles was länger die Aufmerksamkeit erfordert, macht innerlich unruhig und nervös.


Du hast recht. Diese Zyklen merket man auch bei Münchner Autofahrern wenn sie auf dem Land autofahren. Steigen alle km grundlos auf die Bremse als wenn die nächste Ampel käme. Konzerte sind nicht so mein Fall ( bzw klassische Musik) erkenne aber deren künstlerischen Inhalt an. Ich war mit meiner russichen Freundin ( sie ist Musklehrerin mit Klavier ) in München im Konzert und bin dann eingepennt. Ich habe aber niemand gestört. Und in Russland werden all die Künstler Beethoven, Bach usw abgöttisch verehrt und geschätzt. Ich war auch mit ihr in Salzburg im Mozarthaus. Russen wissen, dass wir mit der Migration deutsche Kultur zerstörten, ersetzen es mit primitivem Bushido-Rapp. Die sagen, das macht Amerika.

Dr Mittendrin
09.03.2016, 11:12
Ich habe in Neu-Deutschland gelernt, dass man möglichst laut und unverschämt sein muss, um seine Ziele zu erreichen.
Die Kartoffeln wollen keinen Ärger haben, sind sehr erschrocken und suchen den Fehler in der Regel bei sich.
Mit Rücksichtnahme und Anstand kommst du hier nicht weiter.

Habe neulich sogar mal einen Bullen angeschnauzt und ihm mit dem Anwalt gedroht usw.; obwohl ich völlig im Unrecht war :D
Der hat dann sofort klein beigegeben.

Mir fällt auch auf, dass die Bullen gleich zucken, wenn das Wort Anwalt fällt.
Ich kann weder Anwälte noch Bullen leiden. Hat einer in dem Jahr doch glatt ein Mandantengeheimnis an die Gegenseite verraten. Vermutlichweil ich ihm das Mandat kündigte. Es wimmelt nur so von Denunzianten im Land.

Dr Mittendrin
09.03.2016, 11:17
Immer noch besser als die Kampfrufe, die Musels überhaupt an Tönen rausbringen: "Allahu Kackbar". Oder hast du schonmal einen Musel singen hören (vom Brüllaffen-Gejaule von der Gebetsrakete herunter abgesehen)?

Dann doch viel lieber eine PEGIDA-Hymne-


Bushido-Rap.
https://www.youtube.com/watch?v=jR6g4vgkqqI

Bunbury
09.03.2016, 14:09
Zunächst mal eine Rückmeldung: Es ist schön, wie dieses Gespräch uns immer weiterführt.


[...] sehe ich meine Ausgangsfrage dadurch allerdings nicht beantwortet. Denn was Du hier beschreibst, sind mit Sicherheit keine wiedererkennbare Strukturelemente. Es sind Gegensätzlichkeiten, die erlebbar sind und die Gefühle auslösen. Weshalb ich auch weiter oben schrieb, daß die Musik durchaus Gefühle auslösen kann, wie auch das Betrachten eines abstrakten Bildes das kann.
Gegensätzlichkeiten gehören zu einem Kunstwerk dazu, das ist richtig. Schwankungen in der Satzdichte, krasse Gegensätze in der Dynamik oder Schwankungen im Klanggehalt der Intervalle nimmt der Hörer als Erlebnis wahr. Nur ist mein Anspruch an Musik etwas weiter gehend. Ich schieb bereits, daß für mich (mag bei anderen anders sein), für das ästhetische Erleben immer das Erfahren und Erkennen von Ordnung die Voraussetzung ist. Diese Ordnung kann sich durchaus auch im atonalen Raum vollziehen. Aber ich erwarte, daß diese Ordnung generell auch ohne Mitlesen oder Analyse der Partitur, also durch reines Hören, erfahrbar wird. Dieses Erschließen der Struktur, also der inneren Ordnung, mag sich durchaus nicht beim erstenmal Hören einstellen. Es können mehrere Hördurchgänge und konzentrierte Aufmerksamkeit notwendig sein. Aber Musik, die ich erst analysieren muß, um sie zu "verstehen", hat für mich ihren Zweck verfehlt.

Doch - es sind wiedererkennbare Strukturelemente. Wenn ein Komponist nun mal Lust hat, auf sinnfälligere Strukturelemente wie Themenaufstellung und -verarbeitung und die wörtliche oder abgewandelte Wiederholung von Phrasen und Formteilen zu verzichten, dann muß und will er seine Musik anders strukturieren. Für eine wiederholungsfreie athematische Komposition bedeutet das: die Strukturierung der Musik durch Klangfelder und Klangbänder unterschiedlicher Länge und Intensität. Hör Dir unter diesem Gesichtspunkt nochmal das Präludium aus op.25 an. Da kannst Du bei Schönberg ein unfehlbares Gespür für die richtige Phrasenlänge entdecken, für Zäsuren, Atempausen an den richtigen Stellen, ehe der nächste vorwärtsdrängende Impuls kommt. Zu Deinem Ziel, die Ordnung einer Musik wahrzunehmen, kommst Du hier nicht, wenn Du Ordnungselemente suchst, die diese Musik Dir vorenthält.

Du hast recht, Musik sollte sich ohne Partiturlektüre erschließen. Für den gutwilligen und konzentrierten Hörer tut das auch die Suite op.25. Aber ab einem gewissen Abstraktionsgrad der Musik (Loslösung vom Tänzerischen, Musik rein instrumental, durchbrochene Arbeit statt Oberstimmenmelodik) ist das Mitlesen schon bei älterer Musik hilfreich, und es ist doch kein Schade, sich das Erklingende auch optisch zu vergegenwärtigen. Man hört plötzlich Zusammenhänge, die vorher unentborgen waren - heideggersch gesprochen.


Was Du hier beschreibst, ist die typische Expertensichtweise, das Expertenlob desjenigen, der das ganze analysiert und rational die Gedanken und Neuerungen erkennt. Eine solche Expertensichtweise kann durchaus den unbefangenen Blick auf die musikalische Wirkung verschließen. Sie hat ihre Berechtigung, sie umfaßt aber nicht alles, was für mich letztlich die Qualität eines Werkes ausmacht.

Ich stimme Dir zu, fühle mich aber nicht getroffen. Ich bin kein Musikwissenschaftler. Ich habe zwar nichts gegen diese Zunft, bin aber auch skeptisch bei Analysen, die wie Aufgaben aus einem Physiklehrbuch aussehen, aberwitzige Zusammenhänge konstruieren etc., zu gut Deutsch: bei denen der Analytiker den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Diese Kritik darf aber nicht zur Verunglimpfung der analytischen Herangehensweise führen. In der Neuen Musik nimmt die Konstruktivität zu, als Tonalitätsersatz, nicht nur bei Schönberg, sondern auch bei Bartók (Durchchromatisierung des Tonsatzes, goldener Schnitt), Skrjabin und Messiaen (oktatonische Skala = Modus II), Strawinsky (teilweise auch Oktatonik, fürs "Sacre" Fibonacci-Reihen). Und jetzt darf man sich mit diesen Konstruktionsprinzipien nicht beschäftigen, selbst wenn sie u.U. Ausdrucksträger sind, nur weil man sonst als böser Experte dasteht?


Dieses Detail aber ist sicher nicht Bachs wichtigster Verdienst.

Ich meine: schon. Bach hat dadurch die Polyphonie für die nachfolgenden Stilepochen gerettet, beginnend mit den Wiener Klassikern, die durch den kuriosen Hofbibliothekar (und Freimaurer!) van Swieten zu ihren Bach- und Händel-Studien angeregt wurden, ohne die das Spätwerk der drei anders ausgehenen hätte - von den nachfolgenden Generationen ganz zu schweigen. Ohne Bach hätte ein bißchen Imitatorik als stile antico in der Kirchenmusik weitergelebt, mehr nicht.


Was soll denn jemand sagen, der z.B. Verdi mehr schätzt als Du? Soll der sich dann auch gekränkt fühlen?

Der Unterschied ist: Bei meiner Verdi-Allergie gebe ich mir selbst die Schuld. Ich würde nie behaupten, daß Verdi sein Handwerk nicht beherrscht, was mich im Übrigen völlig diskreditieren würde, und das sage ich nicht, um meinen Ruf zu retten, sondern ich hör ja wirklich, daß das gute Musik ist. Es liegt mir nur nicht. Ehrlicher kann man nicht sein.


Ich schätze z.B. Schnittke ganz über die Maßen. Und komischerweise gibt es viele Musiker, die mit Schnittke nichts anfangen können. Für mich ein Rätsel, aber es ist so.

Und horribile dictu: Du hörst Schnittke (den ich auch schätze) analytisch. Bei Schnittke sind nämlich die verschiedenen Allusionen an bestimmte Stilepochen oder Musiktypen Ausdrucksträger, und auf einer bestimmten semantischen Ebene strukturieren diese verfremdeten Stilzitate die Musik. Und dies wahrzunehmen, vertieft den Erkenntnisgewinn, den die Musik Dir schenkt.


Es ärgert mich manchmal ein bisschen, daß Pianisten sich so auf Liszt stürzen. Jeder spielt die h-moll Sonate, als gäbe es nichts anderes für Klavier. Schumann wird vernachässigt, er hat mehr geschrieben für Klaviersolo als Liszt und Chopin. Schumanns Musik ist natürlich auch schwer und tiefgründig. Aber die Spätwerke Skrjabins als Beispiele für großartige Moderne Musik werden, sowohl im sinfonischen Bereich als auch auf dem Klavier, viel zu selten gespielt.

Vollkommen d'accord. Ich würde noch Fauré nennen, dessen Klaviermusik in Deutschland völlig unbekannt ist - und es ist umwerfende Musik, eben nur nix für Tasten-Exhibitionisten.


Rachmaninow ist natürlich ein evergreen. Gespielt wird er viel aber viele sehen auf ihn herab, was die Qualität betrifft. Das halte ich für unberechtigt.

Das ist der typische Snobismus: das Naserümpfen angesichts einer Kunst, die populär und trotzdem gut ist. Macht nichts, diese Leute hören das cis-Moll-Prélude und die Vocalise dann eben heimlich, nachts, unter der Bettdecke.

derNeue
09.03.2016, 18:27
Doch - es sind wiedererkennbare Strukturelemente. Wenn ein Komponist nun mal Lust hat, auf sinnfälligere Strukturelemente wie Themenaufstellung und -verarbeitung und die wörtliche oder abgewandelte Wiederholung von Phrasen und Formteilen zu verzichten, dann muß und will er seine Musik anders strukturieren. Für eine wiederholungsfreie athematische Komposition bedeutet das: die Strukturierung der Musik durch Klangfelder und Klangbänder unterschiedlicher Länge und Intensität. Hör Dir unter diesem Gesichtspunkt nochmal das Präludium aus op.25 an. Da kannst Du bei Schönberg ein unfehlbares Gespür für die richtige Phrasenlänge entdecken, für Zäsuren, Atempausen an den richtigen Stellen, ehe der nächste vorwärtsdrängende Impuls kommt. Zu Deinem Ziel, die Ordnung einer Musik wahrzunehmen, kommst Du hier nicht, wenn Du Ordnungselemente suchst, die diese Musik Dir vorenthält.

Das ist eine sehr subjektive Einschätzung Deinerseits. Was ist denn die "richtige "Phrasenlänge? Was sind denn die "richtigen" Stellen? Ich nehme beim Präludium hörend z.B. Folgendes wahr: Es wechseln verschiedene Klang-und damit Gemütszustände. Markante Rhythmen, dynamische Gegensätze, Ruhepunkte, weiche und harte Intervalle. Es passiert durchaus etwas und es löst Emotionen aus, aber es wirkt auf mich insgesamt chaotisch. Das Schönberg seine Musik anders strukturiert hat und z.B. auf das Element der Wiedrholung und damit des Wiedererkennens verzichtet, ist mir völlig klar. Nur fehlt mir das ästhetische Erleben, weil die hörbare (nicht die tatsächlich vorhandene!) Ordnung fehlt. Genau so geht es mir etwa beim Trio wo er mit seinen ganzen Reihenveränderungen zwar strengstens strukturiert, aber nichts davon ist für mich hörbar.
Nicht falsch verstehen: Ich halte Schönberg für einen hochbegabten Komponisten. Das hat er nicht nur mit "Verklärte Nacht" bewiesen. Auch im "Überlebenden.." gibt es durchaus mitreißende Stellen. Ich stelle mir nur die Frage, was er aus seinem Talent gemacht hat. Ich halte nämlich grundsätzlich die Idee, musikalische Parameter nach Reihen zu ordnen, für einen Irrweg. Ich weiß, das S. nicht nur so geschrieben hat, aber zum großen Teil ja doch.


Du hast recht, Musik sollte sich ohne Partiturlektüre erschließen. Für den gutwilligen und konzentrierten Hörer tut das auch die Suite op.25. Aber ab einem gewissen Abstraktionsgrad der Musik (Loslösung vom Tänzerischen, Musik rein instrumental, durchbrochene Arbeit statt Oberstimmenmelodik) ist das Mitlesen schon bei älterer Musik hilfreich, und es ist doch kein Schade, sich das Erklingende auch optisch zu vergegenwärtigen. Man hört plötzlich Zusammenhänge, die vorher unentborgen waren - heideggersch gesprochen.

Ich bin auch nicht grundsätzlich gegen das Mitlesen. Und natürlich auch nicht gegen die Analyse. Ich finde nur, das sollte an zweiter Stelle stehen. Auf der einen Seite ist es sehr positiv und bringt viel Erkenntnisgewinn, z.B. zu wissen, wer und warum, unter welchen Umständen und mit welcher Absicht etwas geschrieben wurde. Das völlig unbefangene und "ungebildete" reine Hören allerdings öffnet einen tiefere Ebene des Erlebens. Ich kann mich noch erinnern, wie ich klassische Stücke als Kind geschenkt bekam und völlig "unbeleckt" von irgendwelchem Vorwissen jeglicher Art immer wieder gehört habe. Bach, Mozart, die Ohrwürmer. Ich konnte diese Stücke komplett auswendig in meinem Kopf durchgehen von der ersten bis zur letzten Note, allein durch das Hören. z.B. das Mendelssohn VlKonzert. Ich glaube, ich habe Musik kaum je so intensiv erlebt wie damals. Als Student schon noch, weil wir uns immer phasenweise für einen Komponisten begeistern konnten und dann alle Platten besorgt haben, die wir kriegen konnten.
Wenn ich heute als "Experte" z.B. eine nie zuvor gehörte klassische Sonate höre, höre ich sie unter ganz anderen Gesichtspunkten. Viel rationaler, viel erkennender (schon beim ersten Mal), aber doch nicht unbedingt intensiver.





Ich stimme Dir zu, fühle mich aber nicht getroffen. Ich bin kein Musikwissenschaftler. Ich habe zwar nichts gegen diese Zunft, bin aber auch skeptisch bei Analysen, die wie Aufgaben aus einem Physiklehrbuch aussehen, aberwitzige Zusammenhänge konstruieren etc., zu gut Deutsch: bei denen der Analytiker den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Diese Kritik darf aber nicht zur Verunglimpfung der analytischen Herangehensweise führen. In der Neuen Musik nimmt die Konstruktivität zu, als Tonalitätsersatz, nicht nur bei Schönberg, sondern auch bei Bartók (Durchchromatisierung des Tonsatzes, goldener Schnitt), Skrjabin und Messiaen (oktatonische Skala = Modus II), Strawinsky (teilweise auch Oktatonik, fürs "Sacre" Fibonacci-Reihen). Und jetzt darf man sich mit diesen Konstruktionsprinzipien nicht beschäftigen, selbst wenn sie u.U. Ausdrucksträger sind, nur weil man sonst als böser Experte dasteht?

Nein natürlich nicht (s.o.)
Bewerten tue ich Musik allerdings nicht nach ihrer Struktur oder ihrem Anspruch, sondern nach dem, was sie in mir auslöst. Und weil das bei jedem Menschen durchaus unterschiedlich ist, fällt eben auch das Urteil gegenüber Werken und Komponisten sehr unterschiedlich aus.


Ich meine: schon. Bach hat dadurch die Polyphonie für die nachfolgenden Stilepochen gerettet, beginnend mit den Wiener Klassikern, die durch den kuriosen Hofbibliothekar (und Freimaurer!) van Swieten zu ihren Bach- und Händel-Studien angeregt wurden, ohne die das Spätwerk der drei anders ausgehenen hätte - von den nachfolgenden Generationen ganz zu schweigen. Ohne Bach hätte ein bißchen Imitatorik als stile antico in der Kirchenmusik weitergelebt, mehr nicht.

Das ist wohl wahr. Bach hat die polyphone Kunst für die Nachfolger gerettet. Es ist ja auch einfach so: viele Leute sind ergriffen von den Instrumentalwerken, den Passionen oder Kantaten. Dann hören sie die Kunst der Fuge und denken: das hat der große Bach geschrieben also ist das auch ein geniales Werk. Ob sie das genauso denken würden, wenn Bach all die anderen "populären" Werke nicht geschrieben hätte, ist fraglich.
Ob aber nun der Einfluß der frankoflämischen Vokalpolyphonie so ausschlaggebend war, sei mal dahingestellt. In anderen Ländern gab es ja auch bedeutende polyphone Musik, z.b. Italien.




Der Unterschied ist: Bei meiner Verdi-Allergie gebe ich mir selbst die Schuld. Ich würde nie behaupten, daß Verdi sein Handwerk nicht beherrscht, was mich im Übrigen völlig diskreditieren würde, und das sage ich nicht, um meinen Ruf zu retten, sondern ich hör ja wirklich, daß das gute Musik ist. Es liegt mir nur nicht. Ehrlicher kann man nicht sein.

Viel anderes sage ich bei Schönberg ja auch nicht. Mir liegt seine Kompositionstechnik einfach nicht. Und ich meine nicht Schönberg speziell, sondern die ganze Richtung bis hin zu Pierre Boulez. Einzelne Werke gefallen mir allerdings durchaus, wie Pierot Lunaire oder das berg-Violinkonzert. Ich habe eben in vielen Hinsichten einen klaren Mainstream Musikgeschmack, das muß ich zugeben.



Und horribile dictu: Du hörst Schnittke (den ich auch schätze) analytisch. Bei Schnittke sind nämlich die verschiedenen Allusionen an bestimmte Stilepochen oder Musiktypen Ausdrucksträger, und auf einer bestimmten semantischen Ebene strukturieren diese verfremdeten Stilzitate die Musik. Und dies wahrzunehmen, vertieft den Erkenntnisgewinn, den die Musik Dir schenkt.

Ich höre den aber nicht analytisch sondern ganz spontan. Ich habe ihn auch persönlich kennengelernt und schätze ihn. Und zwar nicht nur seine polystilistischen Werke, die so sind, wie Du sie beschreibst und von daher "leicht" zu hören. Nein: auch seine zahlreichen rein atonalen zitatfreien Werke sind für mich großartige und ausdrucksvolle Meisterwerke.



Vollkommen d'accord. Ich würde noch Fauré nennen, dessen Klaviermusik in Deutschland völlig unbekannt ist - und es ist umwerfende Musik, eben nur nix für Tasten-Exhibitionisten.

Die Klavierwerke von ihm kenne ich nicht. Die sinfonischen Werke sind mir etwas zu "süßlich". Ich finde, die Franzosen, Saint Saens usw. haben teiweise versucht, die deutsche Romantik nachzuahmen. Also "tiefgründig" zu werden. Das hätten sie vielleicht manchmal lieber gelassen. Saint Saens wie Faure finde ich am besten mit ihren kurzen Charakterstücken oder mit ihrem virtuosen, bravourösen Gestus. Das hat ihnen auch kein deutscher Komponist nachgemacht. Wenn sie versuchen, wie Brahms tiefgründige oder "schwere" Sonaten oder Sinfonien zu schreiben, entsteht oft eher Langeweile.



Das ist der typische Snobismus: das Naserümpfen angesichts einer Kunst, die populär und trotzdem gut ist. Macht nichts, diese Leute hören das cis-Moll-Prélude und die Vocalise dann eben heimlich, nachts, unter der Bettdecke.
Exakt. Überhaupt werden die Russen im 20. jahrhundert immer noch vernachlässigt. Ein gutes Beispiel ist auch Kabalevsky. Ein toller Komponist. Im Westen viel zu selten gespielt.

Bunbury
10.03.2016, 17:44
Es passiert durchaus etwas und es löst Emotionen aus, aber es wirkt auf mich insgesamt chaotisch. Das Schönberg seine Musik anders strukturiert hat und z.B. auf das Element der Wiederholung und damit des Wiedererkennens verzichtet, ist mir völlig klar. Nur fehlt mir das ästhetische Erleben, weil die hörbare (nicht die tatsächlich vorhandene!) Ordnung fehlt. Genau so geht es mir etwa beim Trio wo er mit seinen ganzen Reihenveränderungen zwar strengstens strukturiert, aber nichts davon ist für mich hörbar.

Du bist wirklich ein schwerer Fall (genauso wie ich), und langsam gehen mir die Argumente aus. Du müßtest den häufigen Verzicht auf vorgegebene Ordnungsprinzipien in der künstlerischen Moderne verkraften, der die Künstler zu intuitiven Lösungen oder zu neuen Ordnungsprinzipien führt, die (wie bei den alten Meistern auch) nicht unbedingt wahrgenommen oder nachvollzogen werden müssen. Sie sind eine Privatsache des Künstlers - worauf Schönberg großen Wert gelegt hat; er sagte völlig zu recht, mit Reihenanalyse käme man dem Geheimnis seiner Musik nicht auf die Spur. Entscheidend ist doch, was mit Hilfe irgendwelcher Ordnungsprinzipien (als einem Kunstmittel) ausgesagt wird. Wieso ist Dein ästhetisches Erleben an die Wahrnehmung von Ordnung gekoppelt – ausgerechnet für Dich, der den intuitiven, nichtanalytischen Zugang zu einem Kunstwerk sucht? Ordnung ist ein Mittel zum Zweck, etwas Handwerkliches, aber nicht das Ziel. Sagst Du Dir beim Anhören einer Symphonie: "Hurra, da ist sie ja endlich, die Reprise!" oder "Ach, wie hübsch, die Melodie schließt in der Tonika. Dann hat ja alles seine Ordnung"?


Nicht falsch verstehen: Ich halte Schönberg für einen hochbegabten Komponisten. Das hat er nicht nur mit "Verklärte Nacht" bewiesen. Auch im "Überlebenden.." gibt es durchaus mitreißende Stellen. Ich stelle mir nur die Frage, was er aus seinem Talent gemacht hat. Ich halte nämlich grundsätzlich die Idee, musikalische Parameter nach Reihen zu ordnen, für einen Irrweg. Ich weiß, das S. nicht nur so geschrieben hat, aber zum großen Teil ja doch.

Was daran nicht stimmt: Durchorganisation aller Parameter war eine fixe Idee der Serialisten. Bei Schönberg gibt es nur Tonhöhenorganisation. Und was diese betrifft: Du nimmst sie viel zu wichtig. Ich kenne kein dodekaphones oder serielles Werk, das sich dem Hörer oder Mitwirkenden erst nach einer Analyse der Reihenformationen erschließt. Siehe oben: Privatsache des Komponisten. Es ging mir so wie Dir mit Mendelssohn: Ich habe Stücke wie das Streichtrio oder die Variationen op.30 kennen- und liebengelernt, ohne zu wissen, daß die Musik 12-tönig ist.


Das völlig unbefangene und "ungebildete" reine Hören allerdings öffnet einen tiefere Ebene des Erlebens. Ich kann mich noch erinnern, wie ich klassische Stücke als Kind geschenkt bekam und völlig "unbeleckt" von irgendwelchem Vorwissen jeglicher Art immer wieder gehört habe. Bach, Mozart, die Ohrwürmer. Ich konnte diese Stücke komplett auswendig in meinem Kopf durchgehen von der ersten bis zur letzten Note, allein durch das Hören. z.B. das Mendelssohn VlKonzert. Ich glaube, ich habe Musik kaum je so intensiv erlebt wie damals. Als Student schon noch, weil wir uns immer phasenweise für einen Komponisten begeistern konnten und dann alle Platten besorgt haben, die wir kriegen konnten.
Wenn ich heute als "Experte" z.B. eine nie zuvor gehörte klassische Sonate höre, höre ich sie unter ganz anderen Gesichtspunkten. Viel rationaler, viel erkennender (schon beim ersten Mal), aber doch nicht unbedingt intensiver.

Du hast längst von der Frucht genascht, wie wir alle: vom Baum der Erkenntnis. In die goldene Kinderzeit der ersten großen Entdeckungen, die man mit klopfendem Herzen und leuchtenden Augen macht, in diese Zeit führt uns kein Weg zurück - so wie der erste Kuß ein unvergleichliches und logischerweise unwiederbringliches Erlebnis ist, auch wenn alle nachfolgende Küsse intensiver gewesen sind. Deinen Verstand kannst Du nicht mehr abschalten. Erlösung findet man nur durch das andere Extrem, wie Kleist im „Marionettentheater“ sagt: durch die vollkommene Reflexion, was nicht heißt, daß uns dabei die Tiefe des Erlebens abhandenkommt.


Ob aber nun der Einfluß der frankoflämischen Vokalpolyphonie so ausschlaggebend war, sei mal dahingestellt. In anderen Ländern gab es ja auch bedeutende polyphone Musik, z.b. Italien.

Nicht daß ich auf die Musik am Burgunder Hof fixiert wäre. Aber ich halte sie für ungleich interessanter als den Johann aus Palestrina, der mir nur wie ein schwacher Abklatsch von allem vorkommt, was Josquin, Ockeghem, Busnois et al. getan haben. Orlando wiederum gefällt mir.


[…] Ich höre den aber nicht analytisch sondern ganz spontan. Ich habe ihn auch persönlich kennengelernt und schätze ihn. Und zwar nicht nur seine polystilistischen Werke, die so sind, wie Du sie beschreibst und von daher "leicht" zu hören. Nein: auch seine zahlreichen rein atonalen zitatfreien Werke sind für mich großartige und ausdrucksvolle Meisterwerke.

Der frühe Boulez hat ein paar schöne Sachen geschrieben; der späte wird langweilig, und er muß das selbst gespürt haben - weshalb er sich aufs Dirigieren verlegt hat. Bei Schnittke geht es mir wie Dir: Die zitatfreie Musik ist viel besser.


Die Klavierwerke von ihm kenne ich nicht. Die sinfonischen Werke sind mir etwas zu "süßlich". Ich finde, die Franzosen, Saint Saens usw. haben teiweise versucht, die deutsche Romantik nachzuahmen. Also "tiefgründig" zu werden. Das hätten sie vielleicht manchmal lieber gelassen. Saint Saens wie Faure finde ich am besten mit ihren kurzen Charakterstücken oder mit ihrem virtuosen, bravourösen Gestus. Das hat ihnen auch kein deutscher Komponist nachgemacht. Wenn sie versuchen, wie Brahms tiefgründige oder "schwere" Sonaten oder Sinfonien zu schreiben, entsteht oft eher Langeweile.

Der späte Fauré ist überhaupt nicht süßlich, weder in der Kammer- noch in der Klaviermusik. Er bereitet einen ganz eigenwilligen Weg vor, hin zur französischen Moderne, abseits von Satie, Debussy und Ravel, der sein Schüler gewesen ist. Fauré arbeitet gern mit langgezogenen Melodien und deren Fortspinnungen, auf der Grundlage einer ganz merkwürdigen Harmonik, in der sich oft Modalität und Funktionalität vermischen. Wunderschön sind auch seine Mélodies - Lieder, die so an die Sprache gebunden sind, daß sie nicht in Übersetzungen gesungen werden können und wegen der Sprachbarriere in Deutschland ganz unbekannt sind.

Bunbury
10.03.2016, 18:26
Liebe Leila,

ein paar Semester Musikwissenschaft habe ich auf dem Buckel. Dann wurde es mir zuviel mit der Erbsenzählerei, die dort betrieben wird. Ich fand bei ihr nicht, was ich suchte.


Ich erlaube mir nun, Dir eine Hypothese zu unterbreiten, in der Hoffnung, daß Du mir eine Antwort auf sie geben kannst. – Meine Hypothese lautet wie folgt: Wenn man das Tonbandgerät vor der Arie erfunden hätte, dann wären uns Hörern die stetigen Wiederholungen erspart geblieben –

Du paraphrasierst einen der schönsten Texte über Musik, den ich kenne:


Ist vielleicht die Dummheit musikalisch? Dauernde Wiederholungen, eigensinniges Beharren auf einem Motiv, Breittreten ihrer Einfälle, Bewegung im Kreis, beschränkte Abwandlung des einmal Erfaßten, Pathos und Heftigkeit statt geistiger Erleuchtung: ohne unbescheiden zu sein, könnte sich die Dummheit darauf berufen, daß dies auch ihre Lieblingseigenheiten sind.


[...] und auch die Minimal Music, deren einziger Genuß dieser ist: akustische Abweichungen festzustellen (ein Weber würde die Webmaschine anhalten, sobald er im Gewebe einen Fehler entdeckt).

Ironischerweise hat die Minimal Music speziell Reich'scher Provenienz mit Tonbändern begonnen, wie schon weiter oben beschrieben: mit der identischen Aufnahme eines kurzen Textes auf zwei parallel laufenden Tonbändern, wobei sich aus der minimal ungleichen Abspielgeschwindigkeit Phasenverschiebungen ergeben haben. In diesem Fall generiert der "Fehler" also den ästhetischen Mehrwert. Diesen Effekt hat Reich dann in Stücken für Perkussions- und Tonhöheninstrumente nachkomponiert. Und zu Deiner wie zu aller Trost: In den späteren Stücken hat Reich das Mechanistische seiner frühen Arbeiten überwunden.

Vielen Dank für Deinen freundlichen Abschiedsgruß, worin Du Reichs Arbeitsprinzip ja sogar auf die Sprache überträgst!

Herzliche Grüße
Bunbury

derNeue
11.03.2016, 08:34
Du bist wirklich ein schwerer Fall (genauso wie ich), und langsam gehen mir die Argumente aus. Du müßtest den häufigen Verzicht auf vorgegebene Ordnungsprinzipien in der künstlerischen Moderne verkraften, der die Künstler zu intuitiven Lösungen oder zu neuen Ordnungsprinzipien führt, die (wie bei den alten Meistern auch) nicht unbedingt wahrgenommen oder nachvollzogen werden müssen. Sie sind eine Privatsache des Künstlers - worauf Schönberg großen Wert gelegt hat; er sagte völlig zu recht, mit Reihenanalyse käme man dem Geheimnis seiner Musik nicht auf die Spur. Entscheidend ist doch, was mit Hilfe irgendwelcher Ordnungsprinzipien (als einem Kunstmittel) ausgesagt wird. Wieso ist Dein ästhetisches Erleben an die Wahrnehmung von Ordnung gekoppelt – ausgerechnet für Dich, der den intuitiven, nichtanalytischen Zugang zu einem Kunstwerk sucht? Ordnung ist ein Mittel zum Zweck, etwas Handwerkliches, aber nicht das Ziel. Sagst Du Dir beim Anhören einer Symphonie: "Hurra, da ist sie ja endlich, die Reprise!" oder "Ach, wie hübsch, die Melodie schließt in der Tonika. Dann hat ja alles seine Ordnung"?

Für mich ist auch die erkennbare Ordnung an sich entscheidend. Denn "was ausgesagt wird" ist ja völlig subjektiv. Die alte Musik folgt Ordnungsprinzipien, die sich an der Wirkung orientieren, also gewissermaßen natürlich begründet sind. Die Rhythmik folgte dem Sprachrhythmus. Die Melodiebildung folgte der Singbarkeit und Hörbarkeit. Die Harmonik folgte dem Klanggehalt der Intervalle. In der frühen Mehrstimmigkeit des Mittelalters wurden nur reine Intervalle verwendet, weil man ein starkes Verschmelzen der Stimmen als schön empfand. Später wurden Intervalle mit mittlerem Klanggehalt bzw. sich auflösende Dissonanzen verwendet, weil man gerade das, was im Mitelalter als schön galt, jetzt als primitiv empfand. Die Renaissancekomponisten begannen, die Spannungen der Intervalle als Audrucksmittel in die Komposition miteinzubeziehen (indem man sie auf die metrischen Schwerpunkte bezog) und strebten eine möglichst große Unabhängigkeit der Stimmen an. Daraus entstand dann das polyphone Denken.
Das polyphone Prinzip an sich widerspricht dem natürlichen Hören, es ist von der Struktur her und nicht vom Hörer her begründet. Insofern ähnelt es in gewisser Weise der Reihentechnik. Allerdings kann der Hörer bei einem polyphonen Stück in seiner Aufmerksamkeit "zwischen den Stimmen hin und her springen", was wiederum einen besonderen Hörgenuß bereitet. Trotzdem hat sich das polyphone Strukturieren von Musik aus den genannten Gründen nicht durchgesetzt.

Warum Du bei mir in Bezug auf Schönberg leider (denn ich bedauere das ehrlich!) auf "taube Ohren stößt", hängt letztlich mit der Hörpsychologie zusammen. Als jemand, der wie Du ein paar Semester Musikwissenschaft studiert hat (auch bei mir nur nebenher), weißt Du sicher, daß es verschiedener Zuhörertypen gibt. Das ist ein sehr gut erforschtes Feld. Ich meine nicht die soziologischen Kategorien, wie Adorno sie beschrieben (der "Experte", der "Bildungskonsument" etc.), sondern die psychologischen Kategorien, die das musikalische Erleben betreffen. (Hermann Rauhe etc.) Grundsätzlich kann man unterscheiden zwischen dem Hörer, dessen Erleben sich mehr auf die Melodie bezieht und dem, der sich mehr durch Klangfarben und Wirkungen beeindrucken läßt. Einige Musiker und Wissenschaflter sehen ja in der Melodie die eigentliche Essenz der Musik. Das ist aber natürlich kein objektivierbares Faktum sondern eine ganz subjektive Einschätzung. Der auf Klangfarben "geeichte" Hörer wird sich immer durch eine virtuose Orchestrierung, durch klangliche Effekte im allgemeinen beeindrucken lassen. Die Melodie ist für ihn eher Nebensache. Seine bevorzugten Komponisten sind Wagner, Lizt oder Strauß in der Romantik z.B.
Sicher aber auch Schönberg.
Der melodisch orientierte Hörer (zu dem ich gehöre) sucht im Grunde immer Melodien oder aber auch rythmische Motive zu erkennen. Also Stellen, die er "mitsingen oder mitklatschen" kann. (Platt gesagt). Er würde einen Brahms einem Wagner immer vorziehen, der vielleicht nicht so grandios orchestriert hat, dessen Themen ihm aber weniger trivial erscheinen und einfach "mehr sagen". Das Nicht -Entwickeln der Themen in Schubert Sinfonien- von vielen kritisiert- stört ihn nicht im geringsten, da er nicht strukturell hört, sondern sich einfach an den Melodien erfreut. Ebensowenig die angeblich mangelnde Orchestrierungskunst in den sinfonischen Werken von Schumann.
Insofern kommen wir da an einen Punkt, wo man nicht diskutieren kann, sondern einfach sagen muß: Geschmackssache.


Was daran nicht stimmt: Durchorganisation aller Parameter war eine fixe Idee der Serialisten. Bei Schönberg gibt es nur Tonhöhenorganisation. Und was diese betrifft: Du nimmst sie viel zu wichtig. Ich kenne kein dodekaphones oder serielles Werk, das sich dem Hörer oder Mitwirkenden erst nach einer Analyse der Reihenformationen erschließt. Siehe oben: Privatsache des Komponisten. Es ging mir so wie Dir mit Mendelssohn: Ich habe Stücke wie das Streichtrio oder die Variationen op.30 kennen- und liebengelernt, ohne zu wissen, daß die Musik 12-tönig ist.

Hieße das dann, daß Du zwar Schönberg gerne hörst, die späteren seriellen Komponisten (Messiaen, Boulez, Stockhausen) aber nicht?



Du hast längst von der Frucht genascht, wie wir alle: vom Baum der Erkenntnis. In die goldene Kinderzeit der ersten großen Entdeckungen, die man mit klopfendem Herzen und leuchtenden Augen macht, in diese Zeit führt uns kein Weg zurück - so wie der erste Kuß ein unvergleichliches und logischerweise unwiederbringliches Erlebnis ist, auch wenn alle nachfolgende Küsse intensiver gewesen sind. Deinen Verstand kannst Du nicht mehr abschalten. Erlösung findet man nur durch das andere Extrem, wie Kleist im „Marionettentheater“ sagt: durch die vollkommene Reflexion, was nicht heißt, daß uns dabei die Tiefe des Erlebens abhandenkommt.

das ist wahr. Ich bedauere das manchmal.



Nicht daß ich auf die Musik am Burgunder Hof fixiert wäre. Aber ich halte sie für ungleich interessanter als den Johann aus Palestrina, der mir nur wie ein schwacher Abklatsch von allem vorkommt, was Josquin, Ockeghem, Busnois et al. getan haben. Orlando wiederum gefällt mir.

So ein Urteil kann ich mir aufgrund mangelnden Wissens gar nicht erlauben. Ich kenne nur einzelne Werke dieser Komonisten.Ockeghem mit seiner Vielstimmigkeit finde ich auch faszinierend.
Ich habe mal gelesen, daß das homophone Arioso, was bei Bach immer so wunderschön angewendet wird (z.B. in den Rezitativen) und überhaupt die homophonen Teile z.B. in den Arienritornellen, von den Italienern der Renaissance stammt. (?)




Der frühe Boulez hat ein paar schöne Sachen geschrieben; der späte wird langweilig, und er muß das selbst gespürt haben - weshalb er sich aufs Dirigieren verlegt hat. Bei Schnittke geht es mir wie Dir: Die zitatfreie Musik ist viel besser.

das geht vielen so. Vor allem den erfahrenen Hörern, die einen bestimmten Klang von "moderner Musik" erwarten und sich dann an den Zitaten stören. Ich allerdings schätze die Polystilistik. Schnittke hat sie auch überzeugend begründet, wie ich finde. Etwa das Bratschenkonzert, oder die Faust-Kantate. Warum soll da nicht einfach mal ein klassischer Tango eingesetzt werden?


Der späte Fauré ist überhaupt nicht süßlich, weder in der Kammer- noch in der Klaviermusik. Er bereitet einen ganz eigenwilligen Weg vor, hin zur französischen Moderne, abseits von Satie, Debussy und Ravel, der sein Schüler gewesen ist. Fauré arbeitet gern mit langgezogenen Melodien und deren Fortspinnungen, auf der Grundlage einer ganz merkwürdigen Harmonik, in der sich oft Modalität und Funktionalität vermischen. Wunderschön sind auch seine Mélodies - Lieder, die so an die Sprache gebunden sind, daß sie nicht in Übersetzungen gesungen werden können und wegen der Sprachbarriere in Deutschland ganz unbekannt sind.
Das stimmt, viel zu selten gespielt. Vor allem auch die Lieder. Aber die Kammermusik in den kassischen Formen (Sonaten, Quartette usw.) finde ich teilweise schon etwas langatmig. Trotzdem ist es sehr schade, daß Faure im Konzertleben auf wenige Stücke (Requiem, Sizillienne, Elegie usw.) reduziert wird.

Bunbury
11.03.2016, 17:56
Für mich ist auch die erkennbare Ordnung an sich entscheidend.

Was mich sehr überrascht, wenn Du doch darauf beharrst, nicht-analytisch zu hören. Erklär mir, inwiefern das Wahrnehmen von Ordnung kein analytischer Vorgang ist.


Denn "was ausgesagt wird", ist ja völlig subjektiv.

Exakt – aus der Perspektive des Komponisten betrachtet: Das musikalisch Ausgesagte ist so subjektiv wie der Text eines Romans oder die Einzelheiten eines Bildes, wobei der Künstler von seinem Recht, subjektiv zu sein, aber nur Gebrauch macht, weil er etwas Objektivierbares vermitteln will. Die abendländische Musik ist seit Renaissancezeiten sprachähnlich. Sie formuliert musikalische Gedanken, die man zwar nicht im 1:1-Maßstab in Sprache übertragen kann, die aber beim reflektierenden Hörer wieder zu Gedanken werden. Bei Dir und mir passiert gerade nichts anderes. Unsere Aufgabe als Rezipient besteht darin, eine künstlerische Aussage möglichst objektiv zu erfassen. Das ist im Fall der Instrumentalmusik zwar sehr schwer, weil sie den höchsten Abstraktionsgrad aufweist, aber nicht unmöglich (die Finali von Beethovens 3. oder 5.Symphonie als Meditationen eines Einsiedlers oder als Ausdruck tragischen Scheiterns anzusehen, bedarf schon einer sehr verschrobenen Wahrnehmung).

Was Du als Subjektivität des Rezipienten benennst, sind Empfindungen, die wir während der Beschäftigung mit einer künstlerischen Arbeit haben, Empfindungen, wie sie jeden Moment über uns hereinbrechen und gegen die wir uns gar nicht wehren können. Aber man sollte natürlich den Fehler vermeiden, diese privaten Empfindungen z.B. beim Anhören eines Musikstücks dem Komponisten oder seiner Musik unterzuschieben.


Die alte Musik folgt Ordnungsprinzipien, die sich an der Wirkung orientieren, also gewissermaßen natürlich begründet sind.

Eine ganz problematische Aussage – was ist an der Musik schon natürlich? Tierlaute, Wind und Wasserrauschen sind natürlich. Schon die elementarste Art zu musizieren, der menschliche Gesang, ist künstlich, und die temperierte Stimmung ist extrem künstlich. Durch gewisse Verfahren beim Musikhörer eine bestimmte Wirkung hervorrufen zu wollen (das hört sich sehr wagnerisch-manipulativ an!), ist für mich der Inbegriff des Künstlichen – eine durchaus feine Sache, außer daß man damit nichts mehr als "natürlich" begründen kann.


Die Rhythmik folgte dem Sprachrhythmus. Die Melodiebildung folgte der Singbarkeit und Hörbarkeit. Die Harmonik folgte dem Klanggehalt der Intervalle. In der frühen Mehrstimmigkeit des Mittelalters wurden nur reine Intervalle verwendet, weil man ein starkes Verschmelzen der Stimmen als schön empfand. Später wurden Intervalle mit mittlerem Klanggehalt bzw. sich auflösende Dissonanzen verwendet, weil man gerade das, was im Mitelalter als schön galt, jetzt als primitiv empfand. Die Renaissancekomponisten begannen, die Spannungen der Intervalle als Audrucksmittel in die Komposition miteinzubeziehen (indem man sie auf die metrischen Schwerpunkte bezog) und strebten eine möglichst große Unabhängigkeit der Stimmen an. Daraus entstand dann das polyphone Denken.

Sehr schön gesagt!


Das polyphone Prinzip an sich widerspricht dem natürlichen Hören, es ist von der Struktur her und nicht vom Hörer her begründet. Insofern ähnelt es in gewisser Weise der Reihentechnik. Allerdings kann der Hörer bei einem polyphonen Stück in seiner Aufmerksamkeit "zwischen den Stimmen hin und her springen", was wiederum einen besonderen Hörgenuß bereitet. Trotzdem hat sich das polyphone Strukturieren von Musik aus den genannten Gründen nicht durchgesetzt.

Ich frage mich, woher Du das hast, und glaube es nicht. Ich drohe dazu noch eine Antwort an – nächster Tage.


Warum Du bei mir in Bezug auf Schönberg leider (denn ich bedauere das ehrlich!) auf "taube Ohren stößt", hängt letztlich mit der Hörpsychologie zusammen. Als jemand, der wie Du ein paar Semester Musikwissenschaft studiert hat (auch bei mir nur nebenher), weißt Du sicher, daß es verschiedener Zuhörertypen gibt. Das ist ein sehr gut erforschtes Feld. Ich meine nicht die soziologischen Kategorien, wie Adorno sie beschrieben (der "Experte", der "Bildungskonsument" etc.), sondern die psychologischen Kategorien, die das musikalische Erleben betreffen. (Hermann Rauhe etc.)

Also muß ich Rauhe lesen, der mir bisher nicht über den Weg gelaufen ist. Adornos Einteilung habe ich dagegen mit großem Vergnügen gelesen; sie ist wunderschön gehässig - und vieles erscheint mir bis heute zutreffend.


Grundsätzlich kann man unterscheiden zwischen dem Hörer, dessen Erleben sich mehr auf die Melodie bezieht und dem, der sich mehr durch Klangfarben und Wirkungen beeindrucken läßt.

Der reine Klangfarben-Hörer ist ein Novum für mich, und ich frage mich, ob die ausschließliche Orientierung an der Instrumentation, also der Versuch nachzuvollziehen, wie eine Musik klangfarblich strukturiert wird, nicht ein viel zu großes Abstraktionsvermögen voraussetzt. Vor allem: Was macht der Klangfarbenhörer bei monochromer Musik, z.B. bei einem Streichquartett oder einer Klaviersonate?


Der melodisch orientierte Hörer (zu dem ich gehöre) sucht im Grunde immer Melodien oder aber auch rythmische Motive zu erkennen. Also Stellen, die er "mitsingen oder mitklatschen" kann. (Platt gesagt). Er würde einen Brahms einem Wagner immer vorziehen, der vielleicht nicht so grandios orchestriert hat, dessen Themen ihm aber weniger trivial erscheinen und einfach "mehr sagen". Das Nicht -Entwickeln der Themen in Schubert Sinfonien- von vielen kritisiert- stört ihn nicht im geringsten, da er nicht strukturell hört, sondern sich einfach an den Melodien erfreut.

Und ist der angeblich rein-melodisch orientierte Hörer nicht auch eine Fiktion? Gerade in unserem Kulturkreis gilt die reine unbegleitete Monodie als sehr anstrengend. Den Gregorianischen Choral zu lieben, das ist Hardcore. Selbst der Musikferne hört seine Lieblingssongs nur mit Akkordgeschrammel, d.h. Melodie plus Begleitung, womit wir schon zwei semantische Schichten hätten, die in ein komplexeres Wechselverhältnis zueinander treten. Denn in jedem besseren Song kann es passieren, daß identische Melodiephrasen unterschiedlich harmonisiert werden, von Schubert ganz zu schweigen: dem wärst Du nämlich herzlich gram, wenn er Dir einen ganzen Symphoniesatz lang nur dieselbe Melodie vordudelt. Du nimmst – analytisch oder nicht – wahr, daß Schubert permanent neu harmonisiert, die Melodie in einem stets anderen harmonischen Zusammenhang präsentiert. Ist es von dieser Wahrnehmung sehr weit bis zur Fähigkeit, z.B. zwei melodisch selbständige Stimmen zu verfolgen?

Ferner: Dann müßte Dir Schönberg gerade zusagen, weil der – in seiner 12-tönigen Phase stärker noch als in der frei atonalen - extrem melodisiert. Darüber hat sich Brecht mokiert, als Eisler ihm Schönberg näherzubringen versuchte: Schönberg war ihm zu melodisch. Schönberg strukturiert seine Musik ganz klassisch nach dem Prinzip von Motiv- bzw. Themenentwicklung- und entfaltung. Man kann sich wunderbar daran festhalten. Aber Du bist der Hauptfrage in meinem letzten Beitrag ausgewichen. Ordnung ist ein Mittel zum Zweck, ein Kunstmittel, mit dem Inhalt nicht zu verwechseln. In einem Gedicht beschäftigst Du Dich doch auch mit dem Inhalt; das Reimschema und die Strophen- oder Sonettform oder sonstwas nimmst Du billigend in Kauf. Du kannst mir nicht weismachen, daß Dein Hörerglück davon abhängt, den Eintritt der Reprise oder des A-Strich-Teils zu feiern, bei denen endlich die Hauptmelodie in alter Vertrautheit wiederkehrt. Dafür bist, schreibst und denkst Du doch viel zu differenziert. Du schreibst ja selbst, daß Brahms' Themen


und einfach "mehr sagen"

d.h. Du nimmst eben doch das vom Komponisten Gesagte auf, wie subjektiv es sein mag, und bemühst Dich darum, es möglichst objektiv zu erfassen (um dem Künstler gerecht zu werden): ein kompliziertes Geflecht aus Motiven/Themen im Kontext bestimmter Harmonien - und deren Weiterentwicklung (der Themen und Harmonien). Da sitzt Du mit Adornos struktur-orientiertem Hörertyp in einem Boot.


Hieße das dann, daß Du zwar Schönberg gerne hörst, die späteren seriellen Komponisten (Messiaen, Boulez, Stockhausen) aber nicht?

Messiaen ist ja noch harmlos und gefällt mir sehr. Bei den Serialisten incl. Boulez und Stockhausen fällt mir ein starkes Nachlassen der schöpferischen Kraft auf, Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre. Danach wird deren Musik für mich langweilig.


Ich habe mal gelesen, daß das homophone Arioso, was bei Bach immer so wunderschön angewendet wird (z.B. in den Rezitativen) und überhaupt die homophonen Teile z.B. in den Arienritornellen, von den Italienern der Renaissance stammt. (?)

Dein Fragezeichen kann ich nur aufgreifen – und dazufragen: nicht eher vom italienischen Barock?

Leila
11.03.2016, 20:54
Zunächst mal eine Rückmeldung: Es ist schön, wie dieses Gespräch uns immer weiterführt. […]

Lieber Bunbury!

Ich hoffe, noch immer im Gespräch zu sein.

Mir ist im Laufe meines Lebens aufgefallen, daß die musikalischen Vorlieben vieler Menschen von Geburt an beinahe unauslöschlich eingeprägt wurden.

Ein Beispiel nur (welchem ich voraussetze, daß jemand ein Musikstück von A bis Z durch vielmaliges Hören auswendiggelernt hat): Also zum Beispiel das Lied namens „Gimme Shelter“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Gimme_Shelter_%28Lied%29) (welches die Hymne meines Lebens ist).


https://www.youtube.com/watch?v=WJDnJ0vXUgw

Nur so und nicht anders gefällt mir dieses Lied! – Sämtliche Neufassungen mißfallen mir, und zwar aus Gründen, die zu erörtern ich nicht imstande bin.

Daß ich mich mit meinen dürftigen Kommentaren zur Musik auf dünnem Glatteis bewege, weiß ich wohl. – Aber bevor ich einbreche und ertrinke, möchte ich Dir noch etwas mitteilen: Ich las einst in einer Musikzeitschrift, daß Ludwig van Beethovens fünfte (oder war es die neunte?) Symphonie mehr als hundertmal auf Schallplatte aufgezeichnet wurde. Da dachte ich: Ach, wie wunderbar!

Eine Anmerkung noch zu dem von Dir erwähnten Komponisten Steve Reich: Ich kenne viele seiner Kompositionen. Und überhaupt: Als ehemalige Besitzerin eines Schallplattengeschäftes entging mir kaum ein Werk der sogenannten „Minimal Music“.


https://www.youtube.com/watch?v=sq5jmTx_gO0

P.S.: Jahrzehntelang hielt ich die Bielefelder Kataloge „Klassik“ und „Jazz“ für mein musikalisches „Altes und Neues Testament“.

Bunbury
11.03.2016, 22:22
Mir ist im Laufe meines Lebens aufgefallen, daß die musikalischen Vorlieben vieler Menschen von Geburt an beinahe unauslöschlich eingeprägt wurden.

Ja - oft verbunden mit dem Eindruck, daß es die Musik ist, die uns findet.


Ein Beispiel nur (welchem ich voraussetze, daß jemand ein Musikstück von A bis Z durch vielmaliges Hören auswendiggelernt hat): Also zum Beispiel das Lied namens „Gimme Shelter“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Gimme_Shelter_%28Lied%29) (welches die Hymne meines Lebens ist).

"Dieses Video ist in Deutschland leider nicht verfügbar, da es Musik von UMG enthalten könnte, über deren Verwendung wir uns mit der GEMA bisher nicht einigen konnten" - der deutsche You-Tube-Hymnentext.


Eine Anmerkung noch zu dem von Dir erwähnten Komponisten Steve Reich: Ich kenne viele seiner Kompositionen. Und überhaupt: Als ehemalige Besitzerin eines Schallplattengeschäftes entging mir kaum ein Werk der sogenannten „Minimal Music“.

Wie schön, daß Du das anführst! In "Different Trains" hat sich Reich noch einmal weiterentwickelt. Wie er die Sprachmelodie in Musik verwandelt, das ist außerordentlich. Man denkt sofort an Janácek. Jahre später las ich in Reichs "Writings on music", daß er sich tatsächlich mit Janácek beschäftigt hat.

Leila
12.03.2016, 01:57
An Euch beide – den Neuen und an Bunbury richte ich die folgenden Zeilen:

Stellt Euch einmal vor, Ihr seid ein Kind, das zum ersten Mal in einem Dom ein Orgelspiel hört!

Mir erging es nach diesem Hörgenuß so: Ich werde eines Tages eine Orgelspielerin, ganz ohne Zweifel! – Jedoch verlief mein Lebenslauf anders, als von mir gewünscht. Viele Probleme erblickte ich rings um mich. Und kein einziges vermochte ich bisher zu lösen.

Auf mein Leben zurückblickend kann ich sagen, daß die Musik meine beste Trösterin war. – Aber auch diese Aussage ist falsch! Denn ich stehe auf dem Fundament meines Mannes, der mir seit mehr als fünf Jahrzehnten jede erdenkliche Abschweifung erlaubte.

Leila
12.03.2016, 02:24
„In C“ (https://de.wikipedia.org/wiki/In_C) – ein Musikstück zum allgemeinen Vergnügen:


https://www.youtube.com/watch?v=lJPJywWfyGo

Don
12.03.2016, 06:29
„In C“ (https://de.wikipedia.org/wiki/In_C) – ein Musikstück zum allgemeinen Vergnügen:


https://www.youtube.com/watch?v=lJPJywWfyGo

Eine ziemlich bekiffte Dauerschleife von "Frère Jacques".
Da drogenfrei, mußte ich es nach 30 Sekunden abwürgen.

Mr. BIG
12.03.2016, 12:05
Herrlicher Faden, ohne dämliches Geschwafel!:dg:

derNeue
12.03.2016, 12:21
Was mich sehr überrascht, wenn Du doch darauf beharrst, nicht-analytisch zu hören. Erklär mir, inwiefern das Wahrnehmen von Ordnung kein analytischer Vorgang ist.

Wahrnehmung von Ordnung kann auch ein unbewußter Vorgang sein. Verarbeitung von Themenmaterial, Wiederkehren von Formen und Motiven nimmt der Hörer durchaus wahr, auch ohne es bewußt zu reflektieren.


Exakt – aus der Perspektive des Komponisten betrachtet: Das musikalisch Ausgesagte ist so subjektiv wie der Text eines Romans oder die Einzelheiten eines Bildes, wobei der Künstler von seinem Recht, subjektiv zu sein, aber nur Gebrauch macht, weil er etwas Objektivierbares vermitteln will. Die abendländische Musik ist seit Renaissancezeiten sprachähnlich. Sie formuliert musikalische Gedanken, die man zwar nicht im 1:1-Maßstab in Sprache übertragen kann, die aber beim reflektierenden Hörer wieder zu Gedanken werden. Bei Dir und mir passiert gerade nichts anderes. Unsere Aufgabe als Rezipient besteht darin, eine künstlerische Aussage möglichst objektiv zu erfassen. Das ist im Fall der Instrumentalmusik zwar sehr schwer, weil sie den höchsten Abstraktionsgrad aufweist, aber nicht unmöglich (die Finali von Beethovens 3. oder 5.Symphonie als Meditationen eines Einsiedlers oder als Ausdruck tragischen Scheiterns anzusehen, bedarf schon einer sehr verschrobenen Wahrnehmung).

Meinst Du? Das wäre mir neu. Ich finde gerade die Verbindung zwischen Sprache und Musik höchst problematisch. Ich meine,in dem Sinne,daß man eine muskalische Aussage mit der in einem Buch oder geschriebenen Satz gleichsetzen kann. Musik sagt ja nichts konkretes aus. (Vielleicht gerade mal die Programmusik). Es ist doch wohl eher so, daß niemand außer dem Komponist selber behaupten kann, die Aussage des Werkes "verstanden" zu haben und darüber hinaus auch innerhalb der Rezipienten jeder subjektiv etwas anderes dabei empfindet oder eine mögliche "Aussage" auch anders deutet.


Was Du als Subjektivität des Rezipienten benennst, sind Empfindungen, die wir während der Beschäftigung mit einer künstlerischen Arbeit haben, Empfindungen, wie sie jeden Moment über uns hereinbrechen und gegen die wir uns gar nicht wehren können. Aber man sollte natürlich den Fehler vermeiden, diese privaten Empfindungen z.B. beim Anhören eines Musikstücks dem Komponisten oder seiner Musik unterzuschieben.

eben.


Eine ganz problematische Aussage – was ist an der Musik schon natürlich? Tierlaute, Wind und Wasserrauschen sind natürlich. Schon die elementarste Art zu musizieren, der menschliche Gesang, ist künstlich, und die temperierte Stimmung ist extrem künstlich. Durch gewisse Verfahren beim Musikhörer eine bestimmte Wirkung hervorrufen zu wollen (das hört sich sehr wagnerisch-manipulativ an!), ist für mich der Inbegriff des Künstlichen – eine durchaus feine Sache, außer daß man damit nichts mehr als "natürlich" begründen kann.

Ich meine auch nicht in dem Sinne natürlich, wie Naturgeräusche natürlich sind. Musik ist per se erst mal etwas künstliches. Jedoch sind die Gesetze, nach der sie im Abendland seit dem Mittelalter komponiert wurde, aus der Natur, also der Physik und den Hörerfahrung, entnommen. Die temperierte Stimmung logischerweise nicht, das ist klar. Sie ist ja auch erst eine Erscheinung der Bachzeit. Hier haben die Komponisten sozusagen eine Kompromiß gemacht, und die Natur zugunsten der besseren Handhabbarkeit zurückgedrängt. Das war auch insofern problemlos, weil die meisten Menschen sich an diese leicht unsauberer Stimmung aller Intervalle außer der Oktave gewöhnen und das dann nicht mehr als störend empfinden. Das menschliche Ohr ist eben "erziehbar".






Ich frage mich, woher Du das hast, und glaube es nicht. Ich drohe dazu noch eine Antwort an – nächster Tage.

Es ergibt sich aus der Logik.
Denn:
Die polyphone Musik ist ein reines Kind der Kirchenmusik. Über die weltliche Musik des Mittelalters (die Straßenmusiker, das "fahrende Volk") wissen wir wenig, weil fast nichts aufgeschrieben wurde.(Die äußeren Umstände schon, aber nicht die Musik selbst). Beim Minnesang ist es etwas besser, aber auch hier haben wir meist nur die Texte. Das polyphone Denken sowie auch die Notenschrift entstand in Klöstern und Kirchen. Bis zur Reformation war diese Musik direkt an Gott gerichtet, nicht an den Menschen als Hörer. "Für Gott" aber konnte es nicht kompliziert genug sein, denn gerade die Kompliziertheit offenbarte Gottes Größe. So entstanden die Sätze mit unzähligen Stimmen, wie bei den Holländern, die komplizierte Polyphonie der Renaissance. Das ging ja schon mit dem von Dir zitierten Perotin und der Notredame Schule des Hochmittelalters los.
Es ist Musik, die eigentlich "gegen das menschliche Ohr" komponiert ist, aber für das menschliche Ohr war sie ja auch nicht gedacht. Sie hatte sowieso eine dienende Funktion und ordnete sich vom Grundsatz her immer der Textaussage unter.
Insofern, glaube ich, stimmt meine Aussage.
Die erste Kirchenmusik, die sich tatsächlich an den Menschen richtete, war wohl der evangelische Kantionalsatz der Lutherzeit. Er findet seine höchste Ausprägung später im Bachchoral. Er war stets homophon, nicht ohne Grund, denn er sollte einige wichtige Funktionen erfüllen:
- Zusammenhalt der Gemeinde durch gemeinsames Singen
- Stärkung des Glaubens durch die emotionale Erfahrung der Melodie
- Ersatz der durch die Reformation im ev. Gottesdienst weggefallene Liturgie. Der Gottesdienst drohte zu trocken, zu "kopflastig" zu werden.
- missionarische Wirkung, indem er auch außerhalb der Kirche gesungen wurde.
Die Entdeckung der Homophonie in der Reformationszeit hängt eben auch mit dem veränderten Menschenbild dieser Zeit (nicht nur bei den Reformatoren selber!) zusammen.


Der reine Klangfarben-Hörer ist ein Novum für mich, und ich frage mich, ob die ausschließliche Orientierung an der Instrumentation, also der Versuch nachzuvollziehen, wie eine Musik klangfarblich strukturiert wird, nicht ein viel zu großes Abstraktionsvermögen voraussetzt. Vor allem: Was macht der Klangfarbenhörer bei monochromer Musik, z.B. bei einem Streichquartett oder einer Klaviersonate?

Es geht hier natürlich nicht um "rein" sondern immer nur um "schwerpunktmäßig". Auch der Klangfarben-orientierte Hörer schätzt eine schöne Melodie und der Melodiehörer möchte absolut auch das "Drumherum" des Klanges und seiner Möglicheiten dabei haben! Nur bildet das eben nicht den Mittelpunkt seines musikalischen Erlebens. Der Klangfarben Hörer hört dann vielleicht auch gerne ein Streichquartett, richtig begeistern tut er sich aber doch eher bei einer Wagner-Oper. Dem Melodiehörer geht es genau umgekehrt.



Und ist der angeblich rein-melodisch orientierte Hörer nicht auch eine Fiktion? Gerade in unserem Kulturkreis gilt die reine unbegleitete Monodie als sehr anstrengend. Den Gregorianischen Choral zu lieben, das ist Hardcore. Selbst der Musikferne hört seine Lieblingssongs nur mit Akkordgeschrammel, d.h. Melodie plus Begleitung, womit wir schon zwei semantische Schichten hätten, die in ein komplexeres Wechselverhältnis zueinander treten. Denn in jedem besseren Song kann es passieren, daß identische Melodiephrasen unterschiedlich harmonisiert werden, von Schubert ganz zu schweigen: dem wärst Du nämlich herzlich gram, wenn er Dir einen ganzen Symphoniesatz lang nur dieselbe Melodie vordudelt. Du nimmst – analytisch oder nicht – wahr, daß Schubert permanent neu harmonisiert, die Melodie in einem stets anderen harmonischen Zusammenhang präsentiert. Ist es von dieser Wahrnehmung sehr weit bis zur Fähigkeit, z.B. zwei melodisch selbständige Stimmen zu verfolgen?

Wie gesagt: als "reiner" Melodiehörer ist er natürlich eine Fiktion, das ist immer ein Mischung, die eben nur unterschiedlich betont wird. Aber es ja nun nicht so, das der völlig unbegleitete Gesang nur im gregorianischen Choral auftaucht. In der Literatur taucht er so zwar nicht auf (weil es natürlich begleitet und harmonisiert immer schöner klingt), aber was ist denn, wenn ein melodisch orientierter Hörer das Thema einer Sonate oder einer Sinfonie für sich alleine nachsingt? Es ist einfach die Freude an der Melodie, sonst nichts. Und gerade in der U-Musik früherer Jahrzehnte, bei den Strophenliedern, steht ja die ständig wiederholte Melodie ganz stark im Vordergrund.


Ferner: Dann müßte Dir Schönberg gerade zusagen, weil der – in seiner 12-tönigen Phase stärker noch als in der frei atonalen - extrem melodisiert. Darüber hat sich Brecht mokiert, als Eisler ihm Schönberg näherzubringen versuchte: Schönberg war ihm zu melodisch. Schönberg strukturiert seine Musik ganz klassisch nach dem Prinzip von Motiv- bzw. Themenentwicklung- und entfaltung. Man kann sich wunderbar daran festhalten.

Ich vermute doch, daß ich nicht genug Schönberg kenne und mir erst die Werke anhören muß, die Du meinst um mein Urteil zu revidieren. Aber z.B. von der Suite kann man das ja nicht sagen.


Aber Du bist der Hauptfrage in meinem letzten Beitrag ausgewichen. Ordnung ist ein Mittel zum Zweck, ein Kunstmittel, mit dem Inhalt nicht zu verwechseln. In einem Gedicht beschäftigst Du Dich doch auch mit dem Inhalt; das Reimschema und die Strophen- oder Sonettform oder sonstwas nimmst Du billigend in Kauf. Du kannst mir nicht weismachen, daß Dein Hörerglück davon abhängt, den Eintritt der Reprise oder des A-Strich-Teils zu feiern, bei denen endlich die Hauptmelodie in alter Vertrautheit wiederkehrt. Dafür bist, schreibst und denkst Du doch viel zu differenziert. Du schreibst ja selbst, daß Brahms' Themen
d.h. Du nimmst eben doch das vom Komponisten Gesagte auf, wie subjektiv es sein mag, und bemühst Dich darum, es möglichst objektiv zu erfassen (um dem Künstler gerecht zu werden): ein kompliziertes Geflecht aus Motiven/Themen im Kontext bestimmter Harmonien - und deren Weiterentwicklung (der Themen und Harmonien). Da sitzt Du mit Adornos struktur-orientiertem Hörertyp in einem Boot.

Auch der ungebildete Hörer nimmt unbewußt Ordnung wahr. Der Gebildete dann bewußt, und vielleicht dadurch schon zuviel, so daß sein Blick auf das emotionale Erleben der Musik verstellt wird.
Aber was ist denn musikalischer "Inhalt"? Wie willst Du den definieren?
Ist es nicht vielleicht eher so, daß sich Inhalt und Form gar nicht trennen lassen?

Bunbury
12.03.2016, 20:11
Wahrnehmung von Ordnung kann auch ein unbewußter Vorgang sein. Verarbeitung von Themenmaterial, Wiederkehren von Formen und Motiven nimmt der Hörer durchaus wahr, auch ohne es bewußt zu reflektieren.

Aber nach wie vor: Ist denn die Ordnung das Telos der Musik - oder nur Mittel zum Zweck?


Ich finde gerade die Verbindung zwischen Sprache und Musik höchst problematisch. Ich meine, in dem Sinne, daß man eine muskalische Aussage mit der in einem Buch oder geschriebenen Satz gleichsetzen kann.

Was Texte auf Konzertführer- und Musikkritik-Niveau betrifft, also in der Wunderwelt der Feuilletonismen, stimme ich Dir zu, desgleichen im Bereich der Musikwissenschaft, wo es tatsächlich Leute gibt, die glauben, einen musikalischen Text wie einen verschlüsselten Funkspruch decodieren zu können (mit der Pointe, daß die Lektüre ihrer Analyse dann das Anhören der Musik überflüssig macht...).


Musik sagt ja nichts konkretes aus.

Was kaum einen Komponisten davon abgehalten hat, sie zur konkreten Aussage zu nutzen - angefangen bei den sprichwörtlichen Madrigalismen und gesteigert in den Affekten der Barockmusik. Wozu braucht Bach so viel tonsymbolische Überredungskunst, wenn nicht um die gläubigen Herzen seiner Zuhörerschaft zu erreichen? Sind die Allusionen an Volksmelodien der Balkanvölker in den Finali der Haydn-Symphonien ein Zufall - oder nicht doch Absicht, als ein klingendes Abbild friedlichen Zusammenlebens im Habsburger Vielvölkerstaat? Speziell in seiner Orchestermusik (Symphonien, Ouvertüren) werden LvBs Überredungskünste immer ausgefeilter. Glaubst Du denn, der - für seine Zeit ausgesprochen provokante - Rekurs auf die Revolutionsmusik entsprang einer Privatmarotte Beethovens? Sind die Finali der 3., 5. und 9.Symphonie (auch ohne Worte) nicht ungeheuer drastisch? Ist die Verquickung von Choral und "niederer" Tanzmusik (Ländler, Polka) bei Bruckner nicht beredt, vor allem natürlich die Choral-Schlußapotheosen seiner Symphonien? Ist der Gestus von Vereinsamung bei Schubert, Mahler, Sibelius, Schostakowitsch nicht wahrnehmbar - und sind die verwendeten Mittel zu seiner Gestaltung nicht benennbar?

Außerdem wird Musik weitergedacht, zum Beispiel hier, in unseren Gesprächen, und es gibt eine Menge Musik, die intertextuell, aus der Reflexion über Musik, entstanden ist (z.B. bei Mozart).


Die polyphone Musik ist ein reines Kind der Kirchenmusik. Über die weltliche Musik des Mittelalters (die Straßenmusiker, das "fahrende Volk") wissen wir wenig, weil fast nichts aufgeschrieben wurde.(Die äußeren Umstände schon, aber nicht die Musik selbst). Beim Minnesang ist es etwas besser, aber auch hier haben wir meist nur die Texte. Das polyphone Denken sowie auch die Notenschrift entstand in Klöstern und Kirchen. Bis zur Reformation war diese Musik direkt an Gott gerichtet, nicht an den Menschen als Hörer.

Das stimmt nur zur Hälfte. Der Hörer war miteinbezogen. Die Musik im Meßgottesdienst war/ist Gotteslob und zugleich akustische Vergegenwärtigung Gottes im Meßgottesdienst, so wie Gottes Anwesenheit durch das Kerzenlicht optisch und durch den Weihrauch olfaktorisch erfahrbar werden soll. Außerdem galt der irdische Chor als für den Meßbesucher wahrnehmbares Abbild des himmlischen, das Gotteslob singenden Engelschores.


Es ist Musik, die eigentlich "gegen das menschliche Ohr" komponiert ist, aber für das menschliche Ohr war sie ja auch nicht gedacht.
[...]
Die Entdeckung der Homophonie in der Reformationszeit hängt eben auch mit dem veränderten Menschenbild dieser Zeit (nicht nur bei den Reformatoren selber!) zusammen.

Ich verstehe Dich nicht. Agitierst Du gegen die Polyphonie? Ist sie für Dich gewissermaßen eine musikgeschichtliche Entgleisung? Zumal sie vom Menschen angeblich nicht aufgenommen werden kann? Warum haben sich dann so viele Nicht-Kirchenmusiker um sie bemüht und warum sie wird von so vielen Musikliebhabern gewürdigt? Machen die alle etwas falsch?


[...] aber was ist denn, wenn ein melodisch orientierter Hörer das Thema einer Sonate oder einer Sinfonie für sich alleine nachsingt? Es ist einfach die Freude an der Melodie, sonst nichts. Und gerade in der U-Musik früherer Jahrzehnte, bei den Strophenliedern, steht ja die ständig wiederholte Melodie ganz stark im Vordergrund.

Desgleichen in der heutigen Populärmusik. Aber, lieber Neuer, was machst Du hier? Singst Du das Hohelied der Volkstümlichkeit, wie weiland Schdanow im Scherbengericht gegen die "Formalisten" Schostakowitsch und Prokofjew, mit der Verklärung der herzinnigen Melodie als Inbegriff guter Musik? Ich werd ein bissel polemisch, sorry, aber es ist mir unbegreiflich, warum Du Dich - in meinen Augen mutwillig - so unter Dein sonstiges Reflexionsniveau begibst. Stellst Du hier am Ende noch die Klassenfrage? Ich bin nicht vom Elitismus berauscht; ich bin kein Feind der alten Unterhaltungs- oder der zeitgenössischen Popmusik, bei der es - wie in der sogenannten E- oder Kunstmusik - Gutes und Schlechtes, Gelungenes und Mißratenes gibt. Aber man kann das gute Strophenlied oder den gelungenen Popsong doch nicht zum Maßstab für Kunstmusik hochkultureller Provenienz machen (um mal das Problem - leicht geschraubt - offen auszusprechen); letztere ist ihrem Selbstverständnis nach mit anderen Dingen beschäftigt, als sich bloßen Oberflächenreizen hinzugeben: Sie will satztechnisch und das heißt: inhaltlich differenzieren; nachsingbare Oberstimmenmelodik ist für sie höchstens ein "Aufhänger", Ausdruck einer Individualität, Ausgangspunkt für eine Entwicklung, in der die Themen und ihre Ableitungen alles Mögliche erleben, einem Wandlungsprozeß unterliegen, der tausendmal wichtiger ist die als die Eröffnungsmelodie selbst. Komplexität in der Musik gibt es nicht um der Distinktion willen (so denken nur bildungsferne Soziologen), sondern rechtfertigt sich als Ausdrucksträger und wird als solcher wahrgenommen, auch die Polyphonie - - genauso wie die Verschachtelung von Handlungsebenen in einem anspruchsvollen Roman, den man auch nicht unter Verweis auf die einfachere Erzählstruktur eines Witzes kaputtreden sollte.


Ist es nicht vielleicht eher so, daß sich Inhalt und Form gar nicht trennen lassen?

Stimmt - aber mit der Erkenntnis hast Du Dich schon wieder als Analytiker geoutet.

Bunbury
12.03.2016, 20:21
Viele Probleme erblickte ich rings um mich. Und kein einziges vermochte ich bisher zu lösen.

Auf mein Leben zurückblickend kann ich sagen, daß die Musik meine beste Trösterin war.

Und damit hast Du doch ein großes Problem gelöst!

derNeue
13.03.2016, 11:58
Aber nach wie vor: Ist denn die Ordnung das Telos der Musik - oder nur Mittel zum Zweck?

Ordnung ist ein Telos und zwar ein wichtiges. Sie kann durchaus zum Selbstzweck werden und eine eigene ästhetische Kategorie bilden. Es ist falsch, sie allein zur Trägerin einer wie immer gearteter "Aussage" zu reduzieren. Sicher gibt es auch andere ästhetische Kategorien: Emotion, Affekt, Wirkung.
Ein Beispiel für die Ordnung als Telos einer Kunst ist z.B. die Vorstellung der Symmetrie im Barock. Der symmetrische Aufbau des Concerto grosso, die streng symmetrischen Gartenanlagen der barocken Residenzen.
Hier wird die Symmetrie zum Sebstzweck, zur ästhetischen Kategorie, jenseits einer vielleicht darüber hinausgehenden "Aussage".
Das erinnert mich an eine Geschichte, die ich mal gehört habe: ein Herrscher der Renaissance beauftragte einen berühmten Mahler, ein großes Werk zu schaffen. Der Inhalt war völlig frei, nur sollte es von außergewöhnlicher Qualität sein. Der Mahler tat darufhin nichts anderes, als daß er einen Punkt in die Mitte der Leinwand malte, dem er viele andere Punkte in strenger Symmetrie kreisförmig anordnete. Allein darin bestand die "Kunst". Der König war verblüfft und ärgerlich. Diese Geschichte muß eine wahre Geschichte sein, nur leider hab ich völlig vergessen, auf welches geschichtliche Ereignis sie sich bezieht. Vielleicht weißt Du mehr?


Was Texte auf Konzertführer- und Musikkritik-Niveau betrifft, also in der Wunderwelt der Feuilletonismen, stimme ich Dir zu, desgleichen im Bereich der Musikwissenschaft, wo es tatsächlich Leute gibt, die glauben, einen musikalischen Text wie einen verschlüsselten Funkspruch decodieren zu können (mit der Pointe, daß die Lektüre ihrer Analyse dann das Anhören der Musik überflüssig macht...).



Was kaum einen Komponisten davon abgehalten hat, sie zur konkreten Aussage zu nutzen - angefangen bei den sprichwörtlichen Madrigalismen und gesteigert in den Affekten der Barockmusik. Wozu braucht Bach so viel tonsymbolische Überredungskunst, wenn nicht um die gläubigen Herzen seiner Zuhörerschaft zu erreichen? Sind die Allusionen an Volksmelodien der Balkanvölker in den Finali der Haydn-Symphonien ein Zufall - oder nicht doch Absicht, als ein klingendes Abbild friedlichen Zusammenlebens im Habsburger Vielvölkerstaat? Speziell in seiner Orchestermusik (Symphonien, Ouvertüren) werden LvBs Überredungskünste immer ausgefeilter. Glaubst Du denn, der - für seine Zeit ausgesprochen provokante - Rekurs auf die Revolutionsmusik entsprang einer Privatmarotte Beethovens? Sind die Finali der 3., 5. und 9.Symphonie (auch ohne Worte) nicht ungeheuer drastisch? Ist die Verquickung von Choral und "niederer" Tanzmusik (Ländler, Polka) bei Bruckner nicht beredt, vor allem natürlich die Choral-Schlußapotheosen seiner Symphonien? Ist der Gestus von Vereinsamung bei Schubert, Mahler, Sibelius, Schostakowitsch nicht wahrnehmbar - und sind die verwendeten Mittel zu seiner Gestaltung nicht benennbar?

Absolute Musik ist oft- nicht immer- an weltliche Verknüfungen, Absichten und Beziehungen oder Lebenssituationen gebunden. Unbestritten. Nur heißt das doch nicht, daß jedes Detail, Motiv oder Thema, sich real in Worte fassen ließe hinsichtlich seiner Aussage, so wie etwa die Jagdszene in der Moldau. Insofern bleiben Gespräche über eine "Aussage" immer subjektiv. Nur das wollte ich sagen, als ich schrieb, die Darstellung absoluter Musik mit sprachlichen Mitteln sei problematisch.


Außerdem wird Musik weitergedacht, zum Beispiel hier, in unseren Gesprächen, und es gibt eine Menge Musik, die intertextuell, aus der Reflexion über Musik, entstanden ist (z.B. bei Mozart).

Nun ja, wir sprechen darüber, aber wir können doch nicht für uns in Anspruch nehmen, die Gedanken Mozarts weiterzuspinnen, mit denen er eines seiner Werke schrieb!



Das stimmt nur zur Hälfte. Der Hörer war miteinbezogen. Die Musik im Meßgottesdienst war/ist Gotteslob und zugleich akustische Vergegenwärtigung Gottes im Meßgottesdienst, so wie Gottes Anwesenheit durch das Kerzenlicht optisch und durch den Weihrauch olfaktorisch erfahrbar werden soll. Außerdem galt der irdische Chor als für den Meßbesucher wahrnehmbares Abbild des himmlischen, das Gotteslob singenden Engelschores.

Der Hörer war miteinbezogen, aber er war nicht der Adressat dieser Form von Musik. Er hatte dienende Funktion, sowie die Musik selbst wiederum dienende Funktion gegenüber der Textaussage hatte. Die Musik war das prächtige Beiwerk, daß die Glaubensinhalte erhöhen und schmücken sollte. Und eben auch in ihrer Kompliziertheit Gottes Größe versinnbildlichen. Und eben, wie Du sagst: "warnehmbares Abbild" werden. Daraus ergibt sich aber auch, daß Verständlichkeit und gute Hörbareit eben nicht das Ziel war.



Ich verstehe Dich nicht. Agitierst Du gegen die Polyphonie? Ist sie für Dich gewissermaßen eine musikgeschichtliche Entgleisung? Zumal sie vom Menschen angeblich nicht aufgenommen werden kann? Warum haben sich dann so viele Nicht-Kirchenmusiker um sie bemüht und warum sie wird von so vielen Musikliebhabern gewürdigt? Machen die alle etwas falsch?


Das polyphone Komositionsprinzip ist ausgestorben. Und zwar spätestens seit dem Barock. Daran ändern auch die zahreichen Reminiszenzen späterer Komponisten nichts. Sie sind nicht mehr, als die berühmten Ausnahmen, die die Regel bestätigen.
Das wiederum liegt an der Tatsache, daß die Polyphonie der menschlichen Hörpsychologie im Grundsatz widerspricht. In der Zeit der Renaissance war das unproblematisch, denn Hörbarkeit war auch nicht das Ziel der geistlichen Musik dieser Zeit. (s.o.) Im Laufe der abendländischen Neuzeit und ihrer Geistesgeschichte rückte jedoch der Mensch immer mehr ins Zentrum der Betrachtung. Den Barock könnte man zwar als Rückfall innerhalb dieser Entwicklung sehen. Jedoch war auch hier der humanistische Gedanke seit der Reformation bereits in die Geister der Menschen eingepflanzt. Die polyphone Schreibweise war damit nicht mehr das Stilmittel der Zeit. Und genau deshalb haben die vernunftbetonten Aufklärer eine Musik bevorzugt, die extrem leicht zu hören ist, an Singbarkeit und einfachster Harmonik sich ausrichtet, nämlich die Mannheimer und Wiener Klassiker. Diese Musik verstehen kleine Kinder am leichtesten und am spontansten.
Das aber ändert wiederum nichts daran, daß es unzählige großartige poyphone Werke gibt, die sich gut hören lassen und an denen wir uns erfreuen können!




Desgleichen in der heutigen Populärmusik. Aber, lieber Neuer, was machst Du hier? Singst Du das Hohelied der Volkstümlichkeit, wie weiland Schdanow im Scherbengericht gegen die "Formalisten" Schostakowitsch und Prokofjew, mit der Verklärung der herzinnigen Melodie als Inbegriff guter Musik? Ich werd ein bissel polemisch, sorry, aber es ist mir unbegreiflich, warum Du Dich - in meinen Augen mutwillig - so unter Dein sonstiges Reflexionsniveau begibst. Stellst Du hier am Ende noch die Klassenfrage? Ich bin nicht vom Elitismus berauscht; ich bin kein Feind der alten Unterhaltungs- oder der zeitgenössischen Popmusik, bei der es - wie in der sogenannten E- oder Kunstmusik - Gutes und Schlechtes, Gelungenes und Mißratenes gibt. Aber man kann das gute Strophenlied oder den gelungenen Popsong doch nicht zum Maßstab für Kunstmusik hochkultureller Provenienz machen (um mal das Problem - leicht geschraubt - offen auszusprechen); letztere ist ihrem Selbstverständnis nach mit anderen Dingen beschäftigt, als sich bloßen Oberflächenreizen hinzugeben: Sie will satztechnisch und das heißt: inhaltlich differenzieren; nachsingbare Oberstimmenmelodik ist für sie höchstens ein "Aufhänger", Ausdruck einer Individualität, Ausgangspunkt für eine Entwicklung, in der die Themen und ihre Ableitungen alles Mögliche erleben, einem Wandlungsprozeß unterliegen, der tausendmal wichtiger ist die als die Eröffnungsmelodie selbst. Komplexität in der Musik gibt es nicht um der Distinktion willen (so denken nur bildungsferne Soziologen), sondern rechtfertigt sich als Ausdrucksträger und wird als solcher wahrgenommen, auch die Polyphonie - - genauso wie die Verschachtelung von Handlungsebenen in einem anspruchsvollen Roman, den man auch nicht unter Verweis auf die einfachere Erzählstruktur eines Witzes kaputtreden sollte.

Dem letzten Satz stimme ich zu. Dem anderen ehrlich gesagt nicht so ganz. Du schätzt die Melodie und die allein in ihr liegende Kunst zu gering ein. Ließ mal dazu de la Mottes gutes Buch über Melodik. Ein einfaches Strophenlied kann auch ganz große Kunst sein, u.U. größere Kunst als ein kompliziert verarbeitetes und verschachteltes Werk. Es kommt eben auf die Qualität der Melodie an. Wenn Du das einfache Strophenlied so gering achtest, wie schätzt Du denn dann die Qualität vieler Schubert oder Schumann-Lieder ein? Auch ein Popsong kann genial sein, die meisten sind es zwar nicht, weil die Melodiebildung zu schlecht ist, aber es gibt auch Ausnahmen.
Was ich eigentlich in Bezug auf den melodisch orientierten Hörer sagen wollte: er schätzt die Melodie an sich und sieht die Qualität darin. Das äußert sich eben im unbegleiteten Nachsingen oder auf dem Klavier einstimmigen Nachspielen (was Kinder oft machen: sie suchen die Töne auf den Tasten, bis sie die Melodie erkennen und freuen sich dann daran). D.H.: die Melodie hat auch eine Qualität an sich. Sie wird nicht erst durch Begleitung der Verarbeitung zum Kunstwerk. Umgekehrt stimme ich aber auch völlig mit Dir überein, daß gerade der Umgang mit ihr im Werk die eigentliche Essenz der Qualität eines Stückes ausmachen kann.
Wenn z.B. jemand sagt: Schubert verarbeitet zu wenig, dann würde ich antworten: Das stimmt zwar, nur sind seine Themen so genial, daß ich seine Werke trotzdem liebe. Das hat ja auch Schumann ausgedrückt, als er von den "himmlischen Längen" in Schuberts 9. sprach.

Leila
14.03.2016, 14:13
Weit sind wir in diesem Strang von der „Verrohung der Sitten“ (des Publikums) abgerückt, was mich beinahe „Bravo!“ rufen läßt. – Diesen Umstand nütze ich, Euch ein musikalisches Erlebnis zu berichten, das nicht in meinen Tagebüchern, sondern bloß auf einem Notizzettel zu lesen steht.

Im Jahr 1980 schaltete ich das Radio ein und hörte eine Sendung der „Union Européenne de Radio-Télévision“ (UER). Was ich hörte, veranlaßte mich zu Ausrufen wie: „Das kann nicht sein!“, „Kein Mensch kann so Klavierspielen!“ oder „Irgend ein mir unbekannter technischer Trick muß diese virtuose Darbietung ermöglicht haben!“ – Leider verstand ich den Namen des Komponisten nicht.

Anderntags bat ich meinen musikalisch umfassend gebildeten Schallplattenhändler um eine Unterredung. Um mich vor dessen Kundschaft nicht blamieren zu müssen, sagte ich ihm im Treppenhaus, was ich gestern im Radio gehört hatte: Nämlich einen Klavierspieler, der schneller Klavierspielen als man hören kann. Ich artikulierte mein Hörerlebnis wie folgt: „Bl-bl-bl-bl-bl-bl-bl!“ – Hierauf antwortete er mir: „Du meinst ganz bestimmt Conlon Nancarrow (https://www.youtube.com/watch?v=HwamzM7fPHw)!“ – Und um mich ganz und gar mißmutig zu stimmen, sagte er zu mir: „Von dessen Werk existieren meines Wissens z.Z. noch keine Schallplattenaufnahmen.“

Was ich sonst noch zu dieser ‚Thematik‘ geäußert habe, kann dort (http://www.politikarena.net/showthread.php?p=891653#post891653) gelesen werden!

Ich finde: Spaß muß sein!


https://www.youtube.com/watch?v=f2gVhBxwRqg

Leila
14.03.2016, 17:56
Wenn jemand eine Gemeinsamkeit zwischen mir und Angela Merkel feststellt, dann die Gefräßigkeit: Sie frißt (wie ich) alles auf, was sich links und rechts von Ihrer politischen Mitte befindet.

Der Hauptunterschied zwischen ihr und mir besteht darin, daß ich solch enge intellektuelle Kurven zu meistern weiß, ohne aus ihnen in hohem Bogen herauszufliegen.– Wie gut, daß mein Musikgeschmack nicht die deutsche Politik bestimmt!


https://www.youtube.com/watch?v=UPdX85cv_D8

MorganLeFay
14.03.2016, 18:21
Eine ziemlich bekiffte Dauerschleife von "Frère Jacques".
Da drogenfrei, mußte ich es nach 30 Sekunden abwürgen.

Ich hoere das immer mal wieder gern im Flieger, seit marc mir das mal in einem anderen Zusammenhang empfohlen hat.

Mütterchen
14.03.2016, 21:41
Ich komme mir einerseits sehr ungebildet vor und freue mich zum Ausgleich über die vielen Infos und Anregungen.
Was für ein interessanter Strang. Und so viele Beispiele wundervoller Musik.
Ich beichte an dieser Stelle mal dass ich an Einschlafproblemen leide, auch wenn ich sehr müde bin weigert sich das Gedankenkarrussell stehenzubleiben.
Da ist es schon ein Glücksfall jetzt mit diesem Stück bekannt gemacht worden zu sein, etwas vergleichbar Entspannendes habe ich nie zuvor gehört... Das heißt ich gehe davon aus dass die Musik durchgehend so ist. Ich weiß es nicht weil ich in Morpheus' sanften Armen liege bevor das Stück endet.
Das wird mich jetzt gleich wieder ins Traumland geleiten... Danke fürs Einstellen!
Und Gute Nacht. :)




... Moderne Orchestermusik kann genauso gut leise und harmonisch sein:


https://www.youtube.com/watch?v=TJ6Mzvh3XCc

....(gekürzt durch mich).

Bunbury
15.03.2016, 03:41
Ordnung ist ein Telos und zwar ein wichtiges. Sie kann durchaus zum Selbstzweck werden und eine eigene ästhetische Kategorie bilden. Es ist falsch, sie allein zur Trägerin einer wie immer gearteter "Aussage" zu reduzieren. Sicher gibt es auch andere ästhetische Kategorien: Emotion, Affekt, Wirkung.
Ein Beispiel für die Ordnung als Telos einer Kunst ist z.B. die Vorstellung der Symmetrie im Barock. Der symmetrische Aufbau des Concerto grosso, die streng symmetrischen Gartenanlagen der barocken Residenzen.
Hier wird die Symmetrie zum Selbstzweck, zur ästhetischen Kategorie, jenseits einer vielleicht darüber hinausgehenden "Aussage".

Es wird Dich nicht überraschen, daß ich widerspreche. Ordnung kann zwar auch zum Sinn- oder Ausdrucksträger werden (gerade in Bereichen, die Dir nicht geheuer sind: in der Renaissancemusik, in der Proportionen ein Spiegelbild göttlicher Ordnung, der Schöpfungsordnung sind; in der Neuen Musik: bei Bartók die Orientierung am goldenen Schnitt, bei Cage und den Serialisten Taktproportionen als Gegengift wider die Haltlosigkeit drumherum). Aber für all das gilt: Sie sind nicht sinnlich wahrnehmbar, eine Privatsache des Komponisten, Zwiegespräch zwischen Komponist und Schöpfer etc. Was die formale Ordnung in der Instrumentalmusik seit Beginn des Generalbaßzeitalters betrifft, so ist sie Mittel zum Zweck, aber nicht das Ziel. Erstens gilt für die Formenlehre - wie für die Tonsatzlehre -, daß ihre Versuche, Regeln zu kodifizieren, immer hinter der realen Entwicklung hinterherhinken; sie haben eher beschreibenden als normierenden Charakter. Zweitens: Vorgegebene Formverläufe waren für die intelligenteren Komponisten nie etwas anderes als Anregungen zur Normabweichung. Wenn man sich den Sonatenhauptsatz bei den dafür zuständigen Meistern ansieht, stößt man auf permanente Unregelmäßigkeiten (Durchlöcherung der Durchführung mit Scheinreprisen, ungewöhnliche modulatorische Entgleisungen ausgerechnet in der Reprise), mit der künstlerische Individualität gegenüber der angeblichen Norm behauptet wird.


Das erinnert mich an eine Geschichte, die ich mal gehört habe: ein Herrscher der Renaissance beauftragte einen berühmten Mahler, ein großes Werk zu schaffen. Der Inhalt war völlig frei, nur sollte es von außergewöhnlicher Qualität sein. Der Mahler tat darufhin nichts anderes, als daß er einen Punkt in die Mitte der Leinwand malte, dem er viele andere Punkte in strenger Symmetrie kreisförmig anordnete. Allein darin bestand die "Kunst". Der König war verblüfft und ärgerlich. Diese Geschichte muß eine wahre Geschichte sein, nur leider hab ich völlig vergessen, auf welches geschichtliche Ereignis sie sich bezieht. Vielleicht weißt Du mehr?

Nein, aber es interessiert mich sehr!


Absolute Musik ist oft - nicht immer - an weltliche Verknüfungen, Absichten und Beziehungen oder Lebenssituationen gebunden. Unbestritten. Nur heißt das doch nicht, daß jedes Detail, Motiv oder Thema, sich real in Worte fassen ließe hinsichtlich seiner Aussage, so wie etwa die Jagdszene in der Moldau. Insofern bleiben Gespräche über eine "Aussage" immer subjektiv. Nur das wollte ich sagen, als ich schrieb, die Darstellung absoluter Musik mit sprachlichen Mitteln sei problematisch.

Die "Moldau" ist ein unglückliches Beispiel - als ein Stück Programmusik. Beredter sind die genannten Beispiele aus der programmfreien Instrumentalmusik: Bachs Glaubensverkündigung durch Musik, Beethovens drastischer Rekurs auf die französische Revolutionsmusik, Bruckners Verschränkung von weltlicher Tanzmusik und Choral (eine Generation vor Ives' Ineinandervermengen von Märschen und Hymnenmelodien), der Gestus von Einsamkeit bei Schubert und Mahler - bis zu Schostakowitsch/Pettersson. Ich halte - wie Du weißt - einen Versuch der 1:1-Übertragung von Musik in Wort für völlig abwegig. Aber man kann für alle Beispiele exakte Tonsatzmodelle benennen.


Nun ja, wir sprechen darüber, aber wir können doch nicht für uns in Anspruch nehmen, die Gedanken Mozarts weiterzuspinnen, mit denen er eines seiner Werke schrieb!

Wir vielleicht nicht - aber jemand anderes? Es gibt zumindest ein wunderschönes Beispiel der mehrfachen Wechselwirkung: Beethovens Kreutzersonate - Tolstois Novelle - Janáceks erstes Streichquartett - Margriet de Moors Roman.



Der Hörer war miteinbezogen, aber er war nicht der Adressat dieser Form von Musik.

Das sag nicht. Weihrauch und Kerzenschein symbolisieren für den Meßbesucher Gottes שְׁכיִנָה , seine Anwesenheit im Tempel = der Kirche, machen diese Schechinah für den Gottesdienstbesucher sinnlich erfahrbar, und der Musik kommt dieselbe Aufgabe zu (neben ihrer Aufgabe, als Abglanz des himmlischen Engelschores Gott zu loben).


Das polyphone Kompositionsprinzip ist ausgestorben. Und zwar spätestens seit dem Barock. Daran ändern auch die zahreichen Reminiszenzen späterer Komponisten nichts. Sie sind nicht mehr, als die berühmten Ausnahmen, die die Regel bestätigen.

Das mag für die Romantik gelten - ein im Großen und Ganzen eher homophones Musikzeitalter, wenn man von Brahms und Bruckner absieht, bei denen auf ganz unterschiedliche Weise das polyphone Denken wieder durchbricht - von den Spätromantikern und der frühen Moderne ganz zu schweigen.


Das wiederum liegt an der Tatsache, daß die Polyphonie der menschlichen Hörpsychologie im Grundsatz widerspricht.

Das wird durch Wiederholung nicht glaubwürdiger. Es bleibt eine Behauptung, für die Du keinen Beweis antrittst und von der ich nicht verstehe, warum sie Dir so viel bedeutet.

Wie ist das eigentlich mit den Ensembles bei den Aktschlüssen des "Figaro" - ein klingendes Ineinander ganz und gar individualisierter Einzelstimmen. So hätte Mozart nach Deiner Logik gar nicht komponieren dürfen, Wagner nicht das "Meistersinger"-Quintett und Berg nicht die Szene mit Wozzeck, Arzt und Hauptmann. Bartók hätte auf seine Streichquartette verzichten müssen, aufs zweite Klavierkonzert etc.


In der Zeit der Renaissance war das unproblematisch, denn Hörbarkeit war auch nicht das Ziel der geistlichen Musik dieser Zeit. (s.o.) Im Laufe der abendländischen Neuzeit und ihrer Geistesgeschichte rückte jedoch der Mensch immer mehr ins Zentrum der Betrachtung. Den Barock könnte man zwar als Rückfall innerhalb dieser Entwicklung sehen. Jedoch war auch hier der humanistische Gedanke seit der Reformation bereits in die Geister der Menschen eingepflanzt. Die polyphone Schreibweise war damit nicht mehr das Stilmittel der Zeit. Und genau deshalb haben die vernunftbetonten Aufklärer eine Musik bevorzugt, die extrem leicht zu hören ist, an Singbarkeit und einfachster Harmonik sich ausrichtet, nämlich die Mannheimer und Wiener Klassiker. Diese Musik verstehen kleine Kinder am leichtesten und am spontansten.

Du tust so, als würde der Mensch durch Polyphonie vom musikalischen Erleben ausgesperrt. Weißt Du, wer bei den Frankoflamen Discantus und Altus gesungen hat? Kinder, analphabetische Bauernlümmel aus der Umgebung, und zwar eine Musik, die heute nur von Spezialistenensembles gesungen wird! Du tust so, als wäre Polyphonie eine musikgeschichtliche Entgleisung. Man könnte aus Prinzip umgekehrt argumentieren: Wenn der Mensch anthropozentrisch wird, sich selbst in den Mittelpunkt stellt, wird die Sache schnell langweilig (Stimmenreduktion, einfachste Melodiebildung, plumpe Harmonik) oder gefährlich (Mißbrauch der einfachen Stilmittel zu Propagandazwecken).


Dem letzten Satz stimme ich zu. Dem anderen ehrlich gesagt nicht so ganz. Du schätzt die Melodie und die allein in ihr liegende Kunst zu gering ein. Ließ mal dazu de la Mottes gutes Buch über Melodik. Ein einfaches Strophenlied kann auch ganz große Kunst sein, u.U. größere Kunst als ein kompliziert verarbeitetes und verschachteltes Werk. Es kommt eben auf die Qualität der Melodie an. Wenn Du das einfache Strophenlied so gering achtest, wie schätzt Du denn dann die Qualität vieler Schubert oder Schumann-Lieder ein? Auch ein Popsong kann genial sein, die meisten sind es zwar nicht, weil die Melodiebildung zu schlecht ist, aber es gibt auch Ausnahmen.
Was ich eigentlich in Bezug auf den melodisch orientierten Hörer sagen wollte: er schätzt die Melodie an sich und sieht die Qualität darin. Das äußert sich eben im unbegleiteten Nachsingen oder auf dem Klavier einstimmigen Nachspielen (was Kinder oft machen: sie suchen die Töne auf den Tasten, bis sie die Melodie erkennen und freuen sich dann daran). D.H.: die Melodie hat auch eine Qualität an sich. Sie wird nicht erst durch Begleitung der Verarbeitung zum Kunstwerk. Umgekehrt stimme ich aber auch völlig mit Dir überein, daß gerade der Umgang mit ihr im Werk die eigentliche Essenz der Qualität eines Stückes ausmachen kann.
Wenn z.B. jemand sagt: Schubert verarbeitet zu wenig, dann würde ich antworten: Das stimmt zwar, nur sind seine Themen so genial, daß ich seine Werke trotzdem liebe. Das hat ja auch Schumann ausgedrückt, als er von den "himmlischen Längen" in Schuberts 9. sprach.

Langsam. Der Reihe nach. Ich bin kein Verächter der Melodie, wie in den letzten Beiträgen deutlich angemerkt. Ich fetischisiere sie allerdings auch nicht. In Barockzeit und der Klassik gab es noch gar kein Melodiebewußtsein. Ideal waren einfache, überindividuelle, aus Dreiklängen und Tonleitersegmenten gebildete Themen, die sich gut verarbeiten ließen. Der Akzent lag auf der Verarbeitung, weshalb auch Entlehnungen nicht geahndet wurden. Das änderte sich in der Romantik. Mit ihr setzt das Ideal von der individuellen, in sich perfekt ausbalancierten Melodie ein. Mit ihr wird die Originalität der Themen-/Melodieerfindung ein Kriterium, Melodie als geistiges Eigentum geschützt, das nur bei Strafe der Mißachtung plagiiert werden darf. Aber selbst in der Romantik ist die Themenverarbeitung - oder -kombinatorik - das A und O.

Die Melodie allein erfreut sich gar nicht so großer Beliebtheit; wer sie vor sich hinträllert, hat meistens das dazugehörige Harmonie-Begleitschema im Kopf. Das gilt auch für Schuberts Variationstechnik, die gerne das Thema unangetastet läßt und mit jeder Wiederholung die Begleitharmonik ändert.

derNeue
15.03.2016, 15:17
Es wird Dich nicht überraschen, daß ich widerspreche. Ordnung kann zwar auch zum Sinn- oder Ausdrucksträger werden (gerade in Bereichen, die Dir nicht geheuer sind: in der Renaissancemusik, in der Proportionen ein Spiegelbild göttlicher Ordnung, der Schöpfungsordnung sind; in der Neuen Musik: bei Bartók die Orientierung am goldenen Schnitt, bei Cage und den Serialisten Taktproportionen als Gegengift wider die Haltlosigkeit drumherum). Aber für all das gilt: Sie sind nicht sinnlich wahrnehmbar, eine Privatsache des Komponisten..
Keineswegs. Ordnung ist zwar nicht immer erfahrbar aber bei sehr vieler Musik ja durchaus. Die angesprochene Symmetrie als Ordnungsprinzip des Barock ist keineswegs Privatsache des Komponisten. Sie wird wahrgenommen als ästhetische Kategorie, desgleichen die Sonatenform, die Rondoform. Auf welcher Ebene der Bewußtwerdung das geschieht, ist sicher bei jedem Menschen verschieden, aber wahrgenommen wird sie absolut.


Zwiegespräch zwischen Komponist und Schöpfer etc. Was die formale Ordnung in der Instrumentalmusik seit Beginn des Generalbaßzeitalters betrifft, so ist sie Mittel zum Zweck, aber nicht das Ziel.
Ich würde das eher so formulieren: Neben das Prinzip der Ordnung als Selbstzweck trat das Prinzip des Ausdrucks als bestimmendes Element. Und erst in der Romantik war der "Inhalt dann wichtiger als die Form".


Erstens gilt für die Formenlehre - wie für die Tonsatzlehre -, daß ihre Versuche, Regeln zu kodifizieren, immer hinter der realen Entwicklung hinterherhinken; sie haben eher beschreibenden als normierenden Charakter.

Das ist richtig, wir sprachen schon darüber. Es spricht aber nicht gegen das Prinzip der Ordnung an sich. Die gab es ja schon, bevor sie von den Theretikern beschrieben wurde.


Zweitens: Vorgegebene Formverläufe waren für die intelligenteren Komponisten nie etwas anderes als Anregungen zur Normabweichung. Wenn man sich den Sonatenhauptsatz bei den dafür zuständigen Meistern ansieht, stößt man auf permanente Unregelmäßigkeiten (Durchlöcherung der Durchführung mit Scheinreprisen, ungewöhnliche modulatorische Entgleisungen ausgerechnet in der Reprise), mit der künstlerische Individualität gegenüber der angeblichen Norm behauptet wird.
Das ist genauso richtig und spricht andererseits ebensowenig gegen das Prinzip der Ordnung als Selbstzweck. Komponisten wollten sich nie gerne sklavisch an Regeln halten, vor allem die unter ihnen, die grundsätzlich die Regeln ihrer Zeit akzeptierten wie z.B. Mozart. Als Beispiel für diesen Umstand wird ja auch oft das Wiederkeheren des zweiten Themas in der Reprise der "Sonata facile" genannt, das dann ausgerechnet in der Subdominante auftaucht.



Nein, aber es interessiert mich sehr!

da müßte ich mal recherchieren..





Die "Moldau" ist ein unglückliches Beispiel - als ein Stück Programmusik. Beredter sind die genannten Beispiele aus der programmfreien Instrumentalmusik: Bachs Glaubensverkündigung durch Musik, Beethovens drastischer Rekurs auf die französische Revolutionsmusik, Bruckners Verschränkung von weltlicher Tanzmusik und Choral (eine Generation vor Ives' Ineinandervermengen von Märschen und Hymnenmelodien), der Gestus von Einsamkeit bei Schubert und Mahler - bis zu Schostakowitsch/Pettersson. Ich halte - wie Du weißt - einen Versuch der 1:1-Übertragung von Musik in Wort für völlig abwegig. Aber man kann für alle Beispiele exakte Tonsatzmodelle benennen.

Dann sind wir in diesem Punkt einig. Bei allem anderen stimme ich Dir zu.



Wir vielleicht nicht - aber jemand anderes? Es gibt zumindest ein wunderschönes Beispiel der mehrfachen Wechselwirkung: Beethovens Kreutzersonate - Tolstois Novelle - Janáceks erstes Streichquartett - Margriet de Moors Roman.

Das meinte ich auch in einem eher wortwörtlichen Sinne. Wir können nicht die konkreten Gedanken einer Mozart-Sinfonie weiterspinnen. Aber den Hintergrund der Entstehung und etwas Neues daraus machen schon.






Das sag nicht. Weihrauch und Kerzenschein symbolisieren für den Meßbesucher Gottes שְׁכיִנָה , seine Anwesenheit im Tempel = der Kirche, machen diese Schechinah für den Gottesdienstbesucher sinnlich erfahrbar, und der Musik kommt dieselbe Aufgabe zu (neben ihrer Aufgabe, als Abglanz des himmlischen Engelschores Gott zu loben).


Diese Aussagen sind zweifellos auch richtig. Nur heißt das eben gerade nicht, daß wir beim Hören dieser Musik deren Struktur erfahren können. Wir geraten in einen Gefühlszustand, der uns ein Gefühl für die Nähe Gottes erahnen läßt. Ich würde gerade umgekehrt sagen, daß wir dieses spirituelle Gefühl dadurch bekommen, weil diese Musik im Grunde zu kompliziert für uns ist. Das gibt uns den Eindruck, etwas Großem und Erhabenem beizuwohnen. Einen ähnlichen Eindruck vermittelt das homophone Luther-Lied nie und soll es auch nicht. Die Musik ist hier nicht ein Teil von Gottes Größe (höchstens im ganz weit gefaßten Sinn) sondern sie ist für den Menschen geschrieben und soll zum Glauben hinführen.
Durch die Gemeinschaftserfahrung und den emotionalen Gehalt des gemeinsamen Singens. Ein elementarer und essentieller Unterschied.


Das mag für die Romantik gelten - ein im Großen und Ganzen eher homophones Musikzeitalter, wenn man von Brahms und Bruckner absieht, bei denen auf ganz unterschiedliche Weise das polyphone Denken wieder durchbricht - von den Spätromantikern und der frühen Moderne ganz zu schweigen.

Nein das gilt auch für das 20. Jahrhundert. Oder sagen wir besser so: für die Stücke, die erfolgreich waren im 20. Jahrhundert. Natürlich gibt es innerhalb der Komponisten, was den persönlichen Stellenwert der Polyphonen Schreibweise anbetrifft, riesige Unterschiede. Sagen wir mal z.B. zwischen Reger und Chatchaturjan. Insgesamt bleibt aber doch (aus dem Bauch geschätzt) 98% der Musik des letzten Jahrhunderts homophon. Bei mehr oder weniger großer Selbstständigkeit der Stimmen natürlich.



Das wird durch Wiederholung nicht glaubwürdiger. Es bleibt eine Behauptung, für die Du keinen Beweis antrittst und von der ich nicht verstehe, warum sie Dir so viel bedeutet.

Der Beweis besteht darin, daß die menschliche Aufmerksamkeit sich immer nur auf ein Subjekt auf einmal richten kann. Das ist psychologisch erwiesen. Niemand kann mit zwei Leuten parallel sprechen oder 2 Sätze gleichzeitig lesen oder an 2 Telefonen gleichzeitig telefonieren. Wir sind kein Computer mit 2 Prozessoren, wie sie heute gebaut werden. Es bleibt immer ein- wenn auch u.U. sehr schnell folgendes- Nacheinander-Wahrnehmen von Ereignissen.


Wie ist das eigentlich mit den Ensembles bei den Aktschlüssen des "Figaro" - ein klingendes Ineinander ganz und gar individualisierter Einzelstimmen.

rein homophon. Mozart hat dazu nur gesagt, "nur die Musik kann vollbringen, mehrere Sänger auf die Bühne treten zu lassen, die lange Zeit gleichzeitig singen". Schaut man aber auf die Satzstruktur, so zeigt sich, daß die Stimmen entweder parallelmelodisch und- rhythmisch oder abwechselnd eingesetzt werden. Es gibt wohl keine Zeit, die dem polyphonen Denken so stark zuwider läuft, wie die Klassik (mehr noch als die Romantik).

derNeue
15.03.2016, 15:18
So hätte Mozart nach Deiner Logik gar nicht komponieren dürfen, Wagner nicht das "Meistersinger"-Quintett und Berg nicht die Szene mit Wozzeck, Arzt und Hauptmann. Bartók hätte auf seine Streichquartette verzichten müssen, aufs zweite Klavierkonzert etc.
Den Wozzek und die Meistersinger habe ich jetzt nicht parat (mag ja nicht so Wagner), aber bei Bartok hast Du sicherlich recht. Du meinst wahrscheinlich speziell das dritte Streichquartett, mit seinem Aufgreifen polyphoner Techniken wie Umkehrung usw. Jedoch kann man das im Ganzen nicht eigentlich als Polyphone Musik bezeichnen. Es sind eher Imitationstechniken und insgesamt überwiegen die klar homphonen Stellen. Deutlich klarer fugenartig ist da schon die "Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta"
Aber wenn ich jetzt polemisch wäre, könnte ich fragen: Was glaubst Du, weshalb heute Schostakowitschs Streichquartette so viel populärer sind als die von Bartok? (Aber das hat natürlich auch noch andere Gründe)




Du tust so, als würde der Mensch durch Polyphonie vom musikalischen Erleben ausgesperrt. Weißt Du, wer bei den Frankoflamen Discantus und Altus gesungen hat? Kinder, analphabetische Bauernlümmel aus der Umgebung, und zwar eine Musik, die heute nur von Spezialistenensembles gesungen wird!

Und genau das bestätigt doch meine Aussage! Die Musik war eben nicht an den Menschen gerichtet und eshalb war letztlich auch egal, von wem sie ausgeführt wurde. Der Ausführende war Diener, er mußte nicht verstehen. Später ging es um das Hören und Erfahren der Melodie, weshalb diese auch zur Lutherzeit endgültig in die Oberstimme rückte. Und das hat sich im Großen und Ganzen bis heute gehalten. Was übrigens auch das Sprichwort ausdrückt "Die erste Geige spielen". Die Oberstimme wurde einfach deshalb zum Träger der Melodie, weil man sie am besten raushört.


Du tust so, als wäre Polyphonie eine musikgeschichtliche Entgleisung.

Das würde ich nicht behaupten wollen. Für die damalige Zeit hatte sie ihren Sinn und ihre Berechtigung. Wenn ich sie als Entgleisung bezeichnen wollte,müßte ich letztlich auch sagen, die ganze abendländische Neuzeit war eine "Endgleisung".


Man könnte aus Prinzip umgekehrt argumentieren: Wenn der Mensch anthropozentrisch wird, sich selbst in den Mittelpunkt stellt, wird die Sache schnell langweilig (Stimmenreduktion, einfachste Melodiebildung, plumpe Harmonik) oder gefährlich (Mißbrauch der einfachen Stilmittel zu Propagandazwecken).

Das sind zwei unterschiedliche Themen. Aber homophone Musik muß ja keinesfalls einfache Musik sein. Denke z.B. an de anspruchsvolle Harmonisierung der Bachchoräle. Oder an die Klangfarbengewalt einer Wagner-Oper. Alles homophon und doch so vielfältig und kompliziert!



Langsam. Der Reihe nach. Ich bin kein Verächter der Melodie, wie in den letzten Beiträgen deutlich angemerkt. Ich fetischisiere sie allerdings auch nicht. In Barockzeit und der Klassik gab es noch gar kein Melodiebewußtsein.

Aber sicher! Bach nimmt seine Themen teilweise aus Volksmelodien (Bauernkantate). In der Wiener Klassik bekommt die Melodie noch eine weit größere Bedeutung. Enge Verknüpfung oft zur Volksmusik (Gassenhauertrio u.v.m.) Das Kunstlied als reinste an der Melodie ausgerichtete musikalische Form ensteht. Du hat nur insofern recht, als das Melodiebewußtsein im Barock ein anderes war als später. Es ergab sich aus Formeln, die aus der Affektenlehre stammten. Man kann auch sagen: es gab noch kein Bewußtsein, daß das Schreiben einer Melodie ein kreativer, schöpferischer Akt war. Melodie-Schreiben war Handwerk, wie der Satzbau. Aber das ändert nichts daran, daß unzählige geniale Melodien geschrieben wurden!


Ideal waren einfache, überindividuelle, aus Dreiklängen und Tonleitersegmenten gebildete Themen, die sich gut verarbeiten ließen. Der Akzent lag auf der Verarbeitung, weshalb auch Entlehnungen nicht geahndet wurden. Das änderte sich in der Romantik. Mit ihr setzt das Ideal von der individuellen, in sich perfekt ausbalancierten Melodie ein. Mit ihr wird die Originalität der Themen-/Melodieerfindung ein Kriterium, Melodie als geistiges Eigentum geschützt, das nur bei Strafe der Mißachtung plagiiert werden darf. Aber selbst in der Romantik ist die Themenverarbeitung - oder -kombinatorik - das A und O.

Die aus einfachen Tonleitern oder gebrochenen Dreiklängen gebildeten Themen der Klassik ergeben sich logisch aus dem in der Klassik vorherrschenden Ideal der Einfachheit und Allgemeinverständlichkeit! Sie sind dewegen nicht weniger wertvoll als die Themen der Romantiker! Sie sind absolut cantabel und singbar gedacht, gerade bei Haydn. Daraus zu folgern, die Verarbeitung hätte zu dieser Zeit einzig im Vordergund der kompositorischen Absicht gestanden, ist falsch.
Und auch gerade bei Mozart findet sich oft die zenrale Satzaussage bereits im ersten Thema. Nimm z.B. die g-moll oder die Jupiter-Sinfonie.


Die Melodie allein erfreut sich gar nicht so großer Beliebtheit; wer sie vor sich hinträllert, hat meistens das dazugehörige Harmonie-Begleitschema im Kopf.
Also das kann ich mir jetzt kaum vorstellen, vor allem bei einem ungebildeten Hörer. Wie soll der sich die Harmonien dazu vorstellen? Vielleicht, wenn er das Stück schon sehr oft gehört hat, aber sonst?

Leila
17.03.2016, 00:27
Ich komme mir einerseits sehr ungebildet vor […]

Du Dir selbst – mir aber nicht!

Ein Zitat aus einem kleinen Büchlein für Dich:


„Der Graf kränkelte viel und hatte dann schlaflose Nächte. Goldberg, der bey ihm im Hause wohnte, mußte in solchen Zeiten in einem Nebenzimmer die Nacht zubringen, um ihm während der Schlaflosigkeit etwas vorzuspielen. Einst äußerte der Graf gegen Bach, daß er gern einige Clavierstücke für seinen Goldberg haben möchte, die so sanften und etwas muntern Charakters wären, daß er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte. Bach glaubte, diesen Wunsch am besten durch Variationen erfüllen zu können, die er bisher, der stets gleichen Grundharmonie wegen, für eine undankbare Arbeit gehalten hatte. Aber so wie um diese Zeit alle seine Werke schon Kunstmuster waren, so wurden auch diese Variationen unter seiner Hand dazu. Auch hat er nur ein einziges Muster dieser Art geliefert. Der Graf nannte sie hernach nur seine Variationen. Er konnte sich nicht satt daran hören, und lange Zeit hindurch hieß es nun, wenn schlaflose Nächte kamen: Lieber Goldberg, spiele mir doch eine von meinen Variationen. Bach ist vielleicht nie für eine seiner Arbeiten so belohnt worden, wie für diese. Der Graf machte ihm ein Geschenk mit einem goldenen Becher, welcher mit 100 Louisd’or angefüllt war. Allein ihr Kunstwerth ist dennoch, wenn das Geschenk auch tausend Mahl größer gewesen wäre, damit noch nicht bezahlt. Noch muß bemerkt werden, daß in der gestochenen Ausgabe dieser Variationen einige bedeutende Fehler befindlich sind, die der Verf. in seinem Exemplar sorgfältig verbessert hat.“ – Quelle! (https://de.wikisource.org/wiki/Ueber_Johann_Sebastian_Bachs_Leben,_Kunst_und_Kuns twerke )


https://www.youtube.com/watch?v=o_lQ36vxYAI

Wie ich soeben feststelle, ist die Wiedergabe dieser Aufnahme fehlerhaft.

Leila
17.03.2016, 06:41
Euch beide – Bunbury und den Neuen – bitte ich um eine Antwort auf meine Frage, weshalb einem die Originale besser gefallen als die Kopien? – Hier räume ich gleich ein, daß andern die Kopien besser als die Originale gefallen.

Anders gefragt: Wie denkt Ihr (musikalisch) über „die Liebe auf den ersten Blick“?

Bunbury
17.03.2016, 14:37
Euch beide – Bunbury und den Neuen – bitte ich um eine Antwort auf meine Frage, weshalb einem die Originale besser gefallen als die Kopien? – Hier räume ich gleich ein, daß andern die Kopien besser als die Originale gefallen.

Anders gefragt: Wie denkt Ihr (musikalisch) über „die Liebe auf den ersten Blick“?

Leider habe ich den Faden verloren. Worauf beziehst Du Dich? Auf Coverversionen in der Popmusik? Oder Bearbeitungen in der klassischen Musik? Beides schwer zu beantworten. Im Pop-Bereich neige ich zur Originalversion. Begründung: In Coverversionen wird oft - nur um das Ganze zu individualisieren - störend in den Melodie- oder Harmonieverlauf eingegriffen. Da meine ich, ist es besser, etwas Neues zu komponieren, als das Vorhandene zu verunstalten. Aber das ist auch wieder nur subjektiv empfunden.

In der klassischen Musik weicht die Bearbeitung meist so stark vom Original ab, daß man von einem neuen Stück sprechen kann. Gounods vielgescholtene "Ave Maria"-Zusatzmelodie zu Bachs C-Dur-Präludium aus dem WTK 1 (die übrigens wunderbar ausbalanciert ist) macht aus dem Original etwas ganz anderes. Ravels Orchesterfassung der "Bilder einer Ausstellung" transformiert das Original so sehr, daß man von zwei verschiedenen Werken sprechen kann.

Liebe auf den ersten Blick? Oft ist es so, daß mir die erste Gestalt, in der ich ein Werk kennenlerne (also in einer bestimmten Interpretation), absolut plausibel erscheint, so daß andere Interpretationen daneben nicht bestehen können. Und das ist wirklich sehr subjektiv.

Leila
17.03.2016, 17:04
Leider habe ich den Faden verloren. Worauf beziehst Du Dich? Auf Coverversionen in der Popmusik? Oder Bearbeitungen in der klassischen Musik? Beides schwer zu beantworten. […]

Sehr lieber Bunbury!

Ich meinte die „erste Prägung“, den „ersten Eindruck“ oder dergleichen etwas.

Genauer: Seit vielen Jahrzehnten führe ich einen Briefwechsel mit einem Musiker. Er benachrichtige mich per E-Mail vom Tod Nikolaus Harnoncourts und würdigte dessen Wirken. Hierauf kramte ich einen alten Brief hervor, in welchem er des Dirigenten vorgegebene „Tempi“ kritisierte. Ihm antwortete ich handschriftlich, daß ein Mensch, der schwer von Begriff ist, die Tempovorschrift „Larghissimo“ für das Zeitmaß der Lichtgeschwindigkeit halten könnte.

Aber zurück zur „ersten Prägung“. – Das Lied „I Will Always Love You“ kannte von der Sängerin Dolly Parton. Achtzehn Jahre später sang es Whitney Houston. Nun: Ich werde die erste Version dieses Liedes nicht mehr los! Schlimmer noch: Alle späteren Versionen kommen mir wie mißglückte Nachahmungen vor!

Versionen (chronologisch angeführt):

https://www.youtube.com/watch?v=aDqqm_gTPjc
https://www.youtube.com/watch?v=3JWTaaS7LdU
https://www.youtube.com/watch?v=vbuvLJnAysM

Heute, als alte Frau, habe ich gelernt, daß keinem Vorurteil ein Urteil vorausgesetzt ist.

Abgesehen von dem allen: Ich liebe alle Lieder (das deutsche „Kunstlied“ sowohl wie den „deutschen Schlager“) und bekenne dies vor jedermann (selbst auf die Gefahr hin, für primitiv gehalten zu werden).

Deine Dich liebevoll grüßende

Leila ;)

P.S.: https://www.youtube.com/watch?v=BjfUSo8LTjY

Leila
17.03.2016, 19:42
Je älter ich werde, um so schwerer fällt es mir, Erlebtes von Geträumtem zu unterscheiden. – Um mich zu vergewissern, stieg ich in den Keller hinab, durchsuchte meinen gesammelten Krempel und wurde dabei fündig (und staubig).

Ich vermutete es: Etwas fehlte noch in meinem Beitrag #157 (http://www.politikforen.net/showthread.php?170020-Konzerteklat-in-der-K%C3%B6lner-Philharmonie&p=8448882&viewfull=1#post8448882)! – Und eben dies führe ich nun an, da es der Wahrheit entspricht.

Zwei oder drei Tage später fragte ich jeden mir persönlich Bekannten an der Zürcher Universität, ob er jemals etwas von Conlon Nancarrow gehört habe. Ein Studiosus antwortete mir: „Ich habe dessen kürzlich im Radio gesendeten Kompositionen auf Tonbandkassette aufgenommen!“

Und tatsächlich:

Bunbury
17.03.2016, 19:49
Ich meinte die „erste Prägung“, den „ersten Eindruck“ oder dergleichen etwas.
[...]
Aber zurück zur „ersten Prägung“. – Das Lied „I Will Always Love You“ kannte von der Sängerin Dolly Parton. Achtzehn Jahre später sang es Whitney Houston. Nun: Ich werde die erste Version dieses Liedes nicht mehr los! Schlimmer noch: Alle späteren Versionen kommen mir wie mißglückte Nachahmungen vor!

Liebe Leila,

dann empfinden wir ganz gleich!

Und Nancarrow ist ganz phantastisch, am besten, wenn er seine Hörer planmäßig überfordert: Man hat das Gefühl, die Musik knallt einem gegen die Stirnwand.

Herzliche Grüße!

Bunbury

Bunbury
17.03.2016, 20:06
Lieber Neuer,

es scheint mir so, als käme die Bewegung in unserem Gespräch zum Stillstand. Wenn wir den Punkt erreicht haben, an dem jeder nur noch seinen Standpunkt wiederholt, sollten wir vielleicht diesen Teil unseres Gesprächs abschließen. Ich sage das mit Bedauern (weil ich Dich gern überzeugt hätte), aber ohne Groll.

Mein letzter Versuch, ein paar Dinge (sorry, in meinem Sinne!) zurechtzurücken:


Keineswegs. Ordnung ist zwar nicht immer erfahrbar, aber bei sehr vieler Musik ja durchaus. Die angesprochene Symmetrie als Ordnungsprinzip des Barock ist keineswegs Privatsache des Komponisten. Sie wird wahrgenommen als ästhetische Kategorie, desgleichen die Sonatenform, die Rondoform. Auf welcher Ebene der Bewußtwerdung das geschieht, ist sicher bei jedem Menschen verschieden, aber wahrgenommen wird sie absolut.

Na wunderbar, dann kommst Du aber in Beweisnot mit Deiner Behauptung, bei Schönberg und seinen Schülern sei keine Ordnung erfahrbar. Und bedenke: Ich allein bin der Gegenbeweis!

Ansonsten behaupte ich nach wie vor, daß Ordnung eine feine Sache ist, aber nur in dienender Funktion. Die Fetischisierung von Ordnung liefe darauf hinaus, eine Brücke nur wegen ihrer Symmetrie oder Statik zu bauen, und nicht, damit Menschen trockenen Fußes über einen Fluß gelangen.


Diese Aussagen sind zweifellos auch richtig. Nur heißt das eben gerade nicht, daß wir beim Hören dieser Musik deren Struktur erfahren können. Wir geraten in einen Gefühlszustand, der uns ein Gefühl für die Nähe Gottes erahnen läßt. Ich würde gerade umgekehrt sagen, daß wir dieses spirituelle Gefühl dadurch bekommen, weil diese Musik im Grunde zu kompliziert für uns ist.

Diese 'Überforderung' nimmt der Laie, also das Gros der Musikliebhaber, doch gar nicht wahr! Er hört einfach Klangbänder mit ungeheuer langgezogenen Phrasen, verstärkt vom Echo des Kirchenraums, eine harmonisch schwebende, weil vortonale Musik. Das Zeit-, zuletzt das Ichgefühl kommt ihm abhanden, je länger er zuhört - gute Voraussetzungen, um Gottes Schechinah in alledem wahrzunehmen.


Einen ähnlichen Eindruck vermittelt das homophone Luther-Lied nie und soll es auch nicht. Die Musik ist hier nicht ein Teil von Gottes Größe (höchstens im ganz weit gefaßten Sinn) sondern sie ist für den Menschen geschrieben und soll zum Glauben hinführen.
Durch die Gemeinschaftserfahrung und den emotionalen Gehalt des gemeinsamen Singens. Ein elementarer und essentieller Unterschied.

- den ich aber weder als Fort- noch als Rückschritt bezeichnen würde, sondern nur als völlig andere Herangehensweise. Es ist richtig, den aufklärerischen Anteil im lutherischen Musikverständnis zu betonen. Die vor- und gegenreformatorische Kirchenmusik will Gottes Anwesenheit (nicht nur im Meßopfer, sondern in der ganzen Messe) für den Gläubigen sinnlich erfahrbar machen. Der protestantische Choral dient der individuellen Glaubensstärkung, und die aus ihm erwachsenen Gattungen Choralbearbeitung und Choralmotette arbeiten mit einem cantus firmus, dessen Einkleidung in ein polyphones Geflecht von Gegenstimmen die Ratio des Hörers anspricht, der wahrnehmen soll, daß er als Glaubender durch diese gefallene Welt zieht, so wie sich der c.f. durch die Verästelungen der Gegenstimmen hindurchschlängelt. In der Praxis haben Römer und Lutheraner sich übrigens schnell angenähert; die Römer haben das Gemeindelied übernommen, und bei den Lutheranern wurde aus dem reformatorischen Agitpropsong im Kontext der o.g. Gattungen schnell eine resakralisierte Musik (Musterbeispiel: Bach).


Und genau das bestätigt doch meine Aussage! Die Musik war eben nicht an den Menschen gerichtet und deshalb war letztlich auch egal, von wem sie ausgeführt wurde. Der Ausführende war Diener, er mußte nicht verstehen.

Unterschätz den Bauernlümmel nicht: Er mußte immerhin so viel verstehen, um im Kontext eines hochkomplexen Satzes ohne rhythmische Schwerpunkte seine Stimme sinnvoll artikulieren zu können. Und Du weißt: Was man nicht verstanden hat, kann man auch nicht richtig artikulieren.


Die aus einfachen Tonleitern oder gebrochenen Dreiklängen gebildeten Themen der Klassik ergeben sich logisch aus dem in der Klassik vorherrschenden Ideal der Einfachheit und Allgemeinverständlichkeit! Sie sind dewegen nicht weniger wertvoll als die Themen der Romantiker! Sie sind absolut cantabel und singbar gedacht, gerade bei Haydn. Daraus zu folgern, die Verarbeitung hätte zu dieser Zeit einzig im Vordergund der kompositorischen Absicht gestanden, ist falsch.

In Barock und Klassik ist die kantable Melodie Ausgangspunkt für eine Entwicklung - im Barock für die Fortspinnung, in der Klassik für die Verarbeitung, und die schöpferische Individualität zeigt sich im kunstvollen Fortspinnen und Verarbeiten. Das kannst Du nicht ungeschehen machen. In der Romantik wird die Melodie selbst zum Ausweis von Individualität, wozu es paßt, daß sich viele Romantiker mit der motivisch-thematischen Verarbeitung schwertun: Ihr Kostbarstes, die gelungene Melodie, sträubt sich gegen eine Verhackstückung à la Haydn/Beethoven. In diesem Kontext kannst Du übrigens einen frühromantischen Anteil beim späten Beethoven erkennen: Die Themen aus dem dritten Satz der 9.Symphonie, die Arietta, viele Themen aus den späten Streichquartetten (der lydische Dankgesang) haben ein Gepräge wie die schönsten Schubert-Melodien.


Der Beweis besteht darin, daß die menschliche Aufmerksamkeit sich immer nur auf ein Subjekt auf einmal richten kann. Das ist psychologisch erwiesen.


Es gibt wohl keine Zeit, die dem polyphonen Denken so stark zuwider läuft, wie die Klassik (mehr noch als die Romantik).


Also das kann ich mir jetzt kaum vorstellen, vor allem bei einem ungebildeten Hörer. Wie soll der sich die Harmonien dazu vorstellen? Vielleicht, wenn er das Stück schon sehr oft gehört hat, aber sonst?

Und jetzt versuche ich ein letztes Mal, Dir meine Sicht- und Hörweise zu vermitteln. Ich will dafür nochmal von einer anderen Seite her argumentieren.

1.) Ja, die abendländische Hörerfahrung - von der wir milieubedingt, vielleicht auch schon genetisch geprägt sind - läßt uns in elementaren Melodiephrasen Harmonieverläufe mithören, selbst bei unbekannten Melodien: Man erwartet den Halbschluß auf der Dominante, den Dominant-Tonika-Abschluß beim Phrasenende. Das steckt so tief in uns, daß wir sofort aufmerken, wenn jemand mit Nebenstufen à la Schubert/Brahms abweichend harmonisiert. Daraus folgt hörpsychologisch, daß wir schon mal zwei Schichten, nämlich Melodie plus akkordische Begleitung wahrnehmen. Pech für Herrn Rauhe.

2.) Der klassische 4-stimmige Satz, egal ob mit Harmoniewechsel auf jeder Zählzeit oder mit längeren Harmonieflächen (wie beim begleiteten Volkslied/Popsong etc.), individualisiert die Stimmen, am stärksten den Baß, der idealerweise in Gegenbewegung zur Oberstimme geführt wird, woraus sich eine latente Kontrapunktik wie von selbst ergibt, bei jedem besseren Komponisten planvoll, und da wären wir schon wieder beim 2-stimmigen Kontrapunkt. Die Wirkung einer guten Baßstimme nimmt jeder Hörer wahr – vor allem ihren dialektischen Bezug zur Oberstimme. An dieser Stelle kann Herr Rauhe eigentlich schon einpacken.

3.) Das größte Problem in einer homophonen Komposition sind die Mittelstimmen. Ein rein akkordischer Begleitsatz kann vom Harmonieverlauf her plausibel sein. Aber die einzelnen Stimmen, aus denen er sich zusammensetzt, sind oft sterbenslangweilig oder potthäßlich, am schlimmsten die Altstimme im Chor- und die Bratschenstimme im Orchestersatz: in der Frühklassik oder später bei lieblos arbeitenden Komponisten reine Füllstimmen, entweder völlig ungesanglich oder aus penetranten Tonwiederholungen bestehend. Warum sucht jeder halbwegs vernünftige Komponist, diese Fehler zu vermeiden? Weil man diese Fehler im homophonen Stimmengeflecht hört, oder umgekehrt: weil man eine liebevolle Stimmführung auch bei rein harmonischen Komplexen hört, nämlich eine individualisierte durchmelodisierte Mittelstimme, wovon übrigens schon die Bach-Choräle Zeugnis ablegen. Auch die Mittelstimmen im homophonen Satz haben also die Tendenz, sich zu verselbständigen, d.h. sie werden erst gesanglich und dann latent oder ganz ungeniert polyphon. Wenn man die durchbrochene Arbeit des klassischen Satzes dazunimmt, also den raschen Wechsel der Hauptstimme quer durch alle Register, und dazu die sich verselbständigenden Gegenstimmen, ist man schon beim doppelten Kontrapunkt (oder mehr) angekommen, und Herr Rauhe kann nur noch weinen. Denn all das ist hörbar.

4.) Es hat sich aus dem klassischen Satz also eine nachbarocke, neue Form der Polyphonie entwickelt: unsystematisch, d.h. von reiner Füll- über profilierte Begleit- bis zur eigenständigen Gegenstimme in permanentem fliegendem Wechsel und nicht mehr punctus contra punctum, sondern alles Mögliche: Choral contra Wirbelwind; all dies im kammermusikalischen Satz natürlich stärker als im orchestralen (ab Brahms dann auch orchestral), im Kunstlied stärker als in der Oper – egal, die Komponisten könnten sich diese Mühsal ersparen, wenn sie nicht hörbar wäre und zur Schönheit der Musik beitrüge.

Sorry, wenn ich zwischendurch a weng albern, polemisch oder beides zugleich werde. Es dient hoffentlich der Wahrheitsfindung. Ich bin halt ein Wut-Bildungsbürger.

Herzliche Grüße!
Bunbury

Leila
17.03.2016, 21:17
[…] es scheint mir so, als käme die Bewegung in unserem Gespräch zum Stillstand. Wenn wir den Punkt erreicht haben, an dem jeder nur noch seinen Standpunkt wiederholt, sollten wir zumindest diesen Teil unseres Gesprächs abschließen. Ich sage das mit Bedauern (weil ich Dich gern überzeugt hätte), aber ohne Groll.

Mein letzter Versuch, ein paar Dinge (sorry, in meinem Sinne!) zurechtzurücken: […]

Gib ja nicht auf, lieber Bunbury, denn Du bist einer meiner liebsten Gesprächspartner hier!

Die Erfahrung, daß man leicht in Streit gerät, sobald man anfängt, über die Musik zu sprechen, machte ich schon früh. Und wenn man dann noch wagt, die Aufführung (Inszenierung) einer Oper zu kritisieren, dann sieht man sich bald in einen Wortkrieg verwickelt, aus welchem man nur noch durch Schweigen herauskommt (um nicht selbst thematisiert zu werden).

Mehr als ein von mir begonnenes Gespräch wurde mangels Anteilname früher als von mir geahnt beendet (z.B. jenes (http://www.politikforen.net/showthread.php?91474-Parsifal&p=3566886&highlight=Wagner#post3566886)).*

In der Hoffnung, daß Du mir als Gesprächspartner erhalten bleibst, grüße ich Dich aus dem Baselbiet herzlich

Leila

Bunbury
17.03.2016, 23:22
Die Erfahrung, daß man leicht in Streit gerät, sobald man anfängt, über die Musik zu sprechen, machte ich schon früh [...]


Keine Bange, liebe Leila, wir bleiben uns als Diskussionspartner erhalten. Ich habe mich vielleicht falsch ausgedrückt. Wenn ein Gespräch nur noch aus Wiederholungen identischer Standpunkte besteht, d.h. auf der Stelle tritt, sollte man es - in aller Freundschaft - beenden. Und ich habe mich argumentativ verausgabt; ich weiß bald nichts mehr zusagen. Aber vielleicht kommen vom Neuen neue Impulse?

Auf jeden Fall ist es so: Lieber mit Dir oder mit dem Neuen auf diesem Niveau streiten, uneins sein, als im Konsens mit irgendwelchen Wirtshausschlägern.

Don
18.03.2016, 15:59
Ich hoere das immer mal wieder gern im Flieger, seit marc mir das mal in einem anderen Zusammenhang empfohlen hat.

Ich halte Endlosschleifen derselben einfallslosen Takte für extrem ätzend.
Die neuzeitliche Extremversion davon ist house oder rave. Da sind Buschtrommeln innovativer.
Ich war grade 3 Tage in Warschau. In einem Steakhouse lief so etwas wie das hier, Elektro-Swing.


https://www.youtube.com/watch?v=bamOllpSxug

Grundsätzlich ja begrüßenswert im Grundmotiv, aber wie jemand auf den Gedanken kommt es wäre besonders toll, prinzipiell nicht üble Kompositionen mit hirnlosem Commodore C64 Drum- und Synthi Scheiß zu verunstalten (ich rekurriere wieder auf die Endlosschleifen) ist zumindest mir nicht beizubringen.

Eignet sich nur für Türken 3er mit Subwoofer als Verkaufsförderung für Carglass.
Und Hörgeräteakustiker.

MorganLeFay
18.03.2016, 17:15
Ich gebe dir im grosen und ganzen recht. Und witzig, ja, marc und ich sind damals beim Gespraech ueber Techno und dergleichen draufgekommen. House hat uebrigens auch gute Seiten.

Es gibt einige Stuecke/ Sachen, die ich -- unter bestimmten Umstaenden, wie Flugzeug oder Klausurenschreiben -- mag, waehrend ich allgemein mit der Richtung eher wenig anfangen kann. Ich glaube, ich habe Reich hier im Regal stehen, und was von Arvo Pärt. Sind alles so Sachen, die ich wie vieles anderes, ziemlich selten, aber dann gerne hoere.
Das ist aber mit Björk zB auch nicht anders.

derNeue
18.03.2016, 20:22
Lieber Neuer,

es scheint mir so, als käme die Bewegung in unserem Gespräch zum Stillstand. Wenn wir den Punkt erreicht haben, an dem jeder nur noch seinen Standpunkt wiederholt, sollten wir vielleicht diesen Teil unseres Gesprächs abschließen. Ich sage das mit Bedauern (weil ich Dich gern überzeugt hätte), aber ohne Groll.

Lieber Bunbury,
Das täte mir leid. Ich finde es anregend, einfach Sichtweisen gegeneinander zu stellen. Besonders, wenn mein Gegenüber, wie in Deinem Fall, weiß wovon er spricht. Ich will hier auch niemanden von etwas überzeugen, das geht in Bezug auf die Kunst auch gar nicht. Etwas Neues zu erfahren oder Dingen auf den Grund zu gehen, reicht mir völlig aus.
Sehr oft ist es ja auch so, daß scheinbare Meinungsverschiedenheiten einfach nur auf Mißverständnissen beruhen. Begriffe werden unterschiedlich definiert, Aussagen werden falsch verstanden. Als Du z.B. schriebst, im Barock gäbe es noch kein Melodiebewußtsein, hatte ich das so verstanden, als wenn die Menschen damals noch keinen Sinn für die Melodie entwickelt hätten. Das hattest Du aber offensichtich gar nicht so gemeint. Wie Du das mit Deinen Aussagen weiter unten erläuterst, stimme ich dem hundertprozentig zu.

Mein letzter Versuch, ein paar Dinge (sorry, in meinem Sinne!) zurechtzurücken:



Na wunderbar, dann kommst Du aber in Beweisnot mit Deiner Behauptung, bei Schönberg und seinen Schülern sei keine Ordnung erfahrbar. Und bedenke: Ich allein bin der Gegenbeweis!

Aber wenn Du Dir hörend eine Zwölftonreihe merken kannst, so daß Du nach 11 Tönen,vielleicht noch oktavversetzt und rhythmisiert, das 'es' wieder erwartest, wärest Du ein Phänomen. Wir mußten damals Zwölftonreihen hören und notieren bzw, absingen. Schon allein das ist nicht ganz einfach.
Die Symmetrie einer barocken Kirche dagegen zu sehen und zu erfassen, ist doch eigentlich relativ simpel.


Ansonsten behaupte ich nach wie vor, daß Ordnung eine feine Sache ist, aber nur in dienender Funktion. Die Fetischisierung von Ordnung liefe darauf hinaus, eine Brücke nur wegen ihrer Symmetrie oder Statik zu bauen, und nicht, damit Menschen trockenen Fußes über einen Fluß gelangen.



Diese 'Überforderung' nimmt der Laie, also das Gros der Musikliebhaber, doch gar nicht wahr! Er hört einfach Klangbänder mit ungeheuer langgezogenen Phrasen, verstärkt vom Echo des Kirchenraums, eine harmonisch schwebende, weil vortonale Musik. Das Zeit-, zuletzt das Ichgefühl kommt ihm abhanden, je länger er zuhört - gute Voraussetzungen, um Gottes Schechinah in alledem wahrzunehmen.

Das denke ich auch, er nimmt sie nicht wahr. Und er erfreut sich an der Musik, auch ohne ihre Struktur zu hören. Allein schon durch das imitatorische Nacheinander der Themeneinsätze in den Einzelstimmen entsteht ein erhebendes Gefühl der Schönheit. Ich liebe übrigens polyphone Musik, auch wenn ich glaube, daß es seinen Grund hat, warum sie sich nicht durchgesetzt hat. Aber für ein Stück wie die Anfangsfuge von Bartoks "Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta" würde ich den ganzen späten Schostakowitsch stehenlassen.



- den ich aber weder als Fort- noch als Rückschritt bezeichnen würde, sondern nur als völlig andere Herangehensweise. Es ist richtig, den aufklärerischen Anteil im lutherischen Musikverständnis zu betonen. Die vor- und gegenreformatorische Kirchenmusik will Gottes Anwesenheit (nicht nur im Meßopfer, sondern in der ganzen Messe) für den Gläubigen sinnlich erfahrbar machen. Der protestantische Choral dient der individuellen Glaubensstärkung, und die aus ihm erwachsenen Gattungen Choralbearbeitung und Choralmotette arbeiten mit einem cantus firmus, dessen Einkleidung in ein polyphones Geflecht von Gegenstimmen die Ratio des Hörers anspricht, der wahrnehmen soll, daß er als Glaubender durch diese gefallene Welt zieht, so wie sich der c.f. durch die Verästelungen der Gegenstimmen hindurchschlängelt. In der Praxis haben Römer und Lutheraner sich übrigens schnell angenähert; die Römer haben das Gemeindelied übernommen, und bei den Lutheranern wurde aus dem reformatorischen Agitpropsong im Kontext der o.g. Gattungen schnell eine resakralisierte Musik (Musterbeispiel: Bach).

Erstaunlich finde ich auch das völlige Nebeneinander von reinem Renaissancekontrapunkt und dem schlichten harmoniebetonten Kantionalsatz z.B. eines H. Schein gerade im Luther-Umfeld. Wir mußten damals die von Rau gesammelten "Bicinia germanica" im KP-Unterricht studieren und nachmachen.


Unterschätz den Bauernlümmel nicht: Er mußte immerhin so viel verstehen, um im Kontext eines hochkomplexen Satzes ohne rhythmische Schwerpunkte seine Stimme sinnvoll artikulieren zu können. Und Du weißt: Was man nicht verstanden hat, kann man auch nicht richtig artikulieren.

Nun ja, ich hatte schon als Schüler eine ganze Reihe Sonatenhauptsätze und Rondos gespielt, ohne den geringsten Schimmer von der Form zu haben. Von daher?



In Barock und Klassik ist die kantable Melodie Ausgangspunkt für eine Entwicklung - im Barock für die Fortspinnung, in der Klassik für die Verarbeitung, und die schöpferische Individualität zeigt sich im kunstvollen Fortspinnen und Verarbeiten. Das kannst Du nicht ungeschehen machen. In der Romantik wird die Melodie selbst zum Ausweis von Individualität, wozu es paßt, daß sich viele Romantiker mit der motivisch-thematischen Verarbeitung schwertun: Ihr Kostbarstes, die gelungene Melodie, sträubt sich gegen eine Verhackstückung à la Haydn/Beethoven. In diesem Kontext kannst Du übrigens einen frühromantischen Anteil beim späten Beethoven erkennen: Die Themen aus dem dritten Satz der 9.Symphonie, die Arietta, viele Themen aus den späten Streichquartetten (der lydische Dankgesang) haben ein Gepräge wie die schönsten Schubert-Melodien.

Sehr schön und perfekt gesagt!







Und jetzt versuche ich ein letztes Mal, Dir meine Sicht- und Hörweise zu vermitteln. Ich will dafür nochmal von einer anderen Seite her argumentieren.

1.) Ja, die abendländische Hörerfahrung - von der wir milieubedingt, vielleicht auch schon genetisch geprägt sind - läßt uns in elementaren Melodiephrasen Harmonieverläufe mithören, selbst bei unbekannten Melodien: Man erwartet den Halbschluß auf der Dominante, den Dominant-Tonika-Abschluß beim Phrasenende. Das steckt so tief in uns, daß wir sofort aufmerken, wenn jemand mit Nebenstufen à la Schubert/Brahms abweichend harmonisiert. Daraus folgt hörpsychologisch, daß wir schon mal zwei Schichten, nämlich Melodie plus akkordische Begleitung wahrnehmen. Pech für Herrn Rauhe.

Ist das tatsächlich so? Denken wir an Harmonien, wenn wir im Kopf oder mit der Stimme eine Melodie durchgehen? Da habe ich meine Zweifel. Von der Melodie erwarten wir, das sie bestimmten Ordnungsprinzipien folgt, wie sie in Melodikfachbüchern für die einzelnen Epochen beschrieben werden. Das sind aber nicht Gesetze der Harmonie. Der typische Quintfall am Ende liegt in der Baßstimme, nicht in der Melodie.
Wenn wir einen mehrstimmigen Satz hören, haben wir diese Hörerwartung, das ist klar, nicht aber, wenn wir eine unbegleitete Melodie hören. Dann erwarten wir im klassisch-tonalen Bereich Dinge wie: zuordnungsbarer Tonvorrat, Spannungsbogen, eine wie auch immer geartete lineare Logik, nicht aber eine bestimmte Harmonisierung.


2.) Der klassische 4-stimmige Satz, egal ob mit Harmoniewechsel auf jeder Zählzeit oder mit längeren Harmonieflächen (wie beim begleiteten Volkslied/Popsong etc.), individualisiert die Stimmen, am stärksten den Baß, der idealerweise in Gegenbewegung zur Oberstimme geführt wird, woraus sich eine latente Kontrapunktik wie von selbst ergibt, bei jedem besseren Komponisten planvoll, und da wären wir schon wieder beim 2-stimmigen Kontrapunkt. Die Wirkung einer guten Baßstimme nimmt jeder Hörer wahr – vor allem ihren dialektischen Bezug zur Oberstimme. An dieser Stelle kann Herr Rauhe eigentlich schon einpacken.

Jetzt kommt es sicher darauf an, wie wir "polyphon" definieren. Ich hatte das bisher im klassisch strengen Sinn definiert, also als eine bestimmte Satztechnik, die sich bis in den Barock hinein fortsetzt und die immer durch eine völlige Gleichberechtigung der Stimmen gekennzeichnet ist. Man kann es auch anders definieren, das stimmt und wird auch oft gemacht. In England heißt es ganz einfach "mehrstimmige Musik" (was es vom Wortsinn her ja ursprünglich auch bedeutete).
Wenn Du jetzt hingehst und sämtlich Literatur späterer Zeit, wo Einzelstimmen neben der Hauptstimme irgend eine Form von Eigengewicht oder eigene Aussage haben, als polyphon bezeichnest, bzw. auch alle, die man überhaupt nur individuell raushört, dann müßten wir wahrscheinlich sagen, daß alles oberhalb des gesungenen Lagerfeuerliedes mit ein paar Gitarrenakkorden zur Harmonisierung, polyphon wäre. Eine solche Sichtweise hätte auch ihre Berechtigung.

derNeue
18.03.2016, 20:23
3.) Das größte Problem in einer homophonen Komposition sind die Mittelstimmen. Ein rein akkordischer Begleitsatz kann vom Harmonieverlauf her plausibel sein. Aber die einzelnen Stimmen, aus denen er sich zusammensetzt, sind oft sterbenslangweilig oder potthäßlich, am schlimmsten die Altstimme im Chor- und die Bratschenstimme im Orchestersatz: in der Frühklassik oder später bei lieblos arbeitenden Komponisten reine Füllstimmen, entweder völlig ungesanglich oder aus penetranten Tonwiederholungen bestehend. Warum sucht jeder halbwegs vernünftige Komponist, diese Fehler zu vermeiden? Weil man diese Fehler im homophonen Stimmengeflecht hört, oder umgekehrt: weil man eine liebevolle Stimmführung auch bei rein harmonischen Komplexen hört, nämlich eine individualisierte durchmelodisierte Mittelstimme, wovon übrigens schon die Bach-Choräle Zeugnis ablegen. Auch die Mittelstimmen im homophonen Satz haben also die Tendenz, sich zu verselbständigen, d.h. sie werden erst gesanglich und dann latent oder ganz ungeniert polyphon. Wenn man die durchbrochene Arbeit des klassischen Satzes dazunimmt, also den raschen Wechsel der Hauptstimme quer durch alle Register, und dazu die sich verselbständigenden Gegenstimmen, ist man schon beim doppelten Kontrapunkt (oder mehr) angekommen, und Herr Rauhe kann nur noch weinen. Denn all das ist hörbar.

Diese penetranten Tonwiederholungen in der Frühklassik findest Du übrigens auch ebenso in der Baßstimme. Ich würde das nicht als "Fehler" bezeichnen, denn es entsprach dem Schönheitsideal der Zeit: Einfachheit, Allgemeinverständlichkeit, Bescheidenheit. Deshalb war ja gerade diese Epoche auch die Zeit, welche der Polyphonie am feindseligsten gegenüberstand (wie ich schon schrieb). Diese Art der Begleitung kann für die Unterstimmen zur Qual werden, wenn es sich um nicht-professionelle Ensembles handelt, wo man aus reinem "Spaß an der Freude" musiziert. Die Zuhörer, vor allem die nicht vorgebildeten, hören das aber am liebsten, denn es ist am leichteseten "zu verstehen".
Wenn es, wie in der Frühklassik, nur wenig Harmoniewechsel gibt und alles um die Hauptfunktionen kreist (mit dem obligatorischen "Minore"-Teil in der Mitte), und wenn streng gesanglich homophon gesetzt wird, dann entstehen eben solche Begleitmuster.
Bach Choräle sind dagegen für sämtliche Unterstimmen viel spannender, allein schon der viel reichhaltigeren Harmonik wegen.


4.) Es hat sich aus dem klassischen Satz also eine nachbarocke, neue Form der Polyphonie entwickelt: unsystematisch, d.h. von reiner Füll- über profilierte Begleit- bis zur eigenständigen Gegenstimme in permanentem fliegendem Wechsel und nicht mehr punctus contra punctum, sondern alles Mögliche: Choral contra Wirbelwind; all dies im kammermusikalischen Satz natürlich stärker als im orchestralen (ab Brahms dann auch orchestral), im Kunstlied stärker als in der Oper – egal, die Komponisten könnten sich diese Mühsal ersparen, wenn sie nicht hörbar wäre und zur Schönheit der Musik beitrüge.

ja wie gesagt: in diesem weit gefaßten Sinn bedeutet Polyphonie natürlich etwas ganz anderes.
Aber selbst da: Nehmen wir doch einmal als Beispiel das erste Lied aus der "Schönen Müllerin" ("Das Wandern ist.."): Was hört der Hörer bewußt, was singt er nach? Natürlich die Melodie der Singstimme mit Text! Was nimmt er noch wahr, aber eben unterbewußt (zunächst), was beeinflußt die Wirkung der Musik? Die Begleitstimme im Klavier, die den Bach und die Bewegung an sich symbolisiert! Diese Begleitstimme hat durchaus eine große Eigenständigkeit, auch sie ist melodisch nachsingbar. Und doch wird es eine Weile dauern, bis der Hörer auch sie bewußt hört und z.B. nachsingt. U.U. wird mehrmalige Hören erforderlich sein.
An diesem Beispiel kannst Du sehen, daß unsere Aufmerksamkeit, unser bewußtes Aufnehmen, sich immer nur auf einen Gegenstand in einem Moment richtet. Auch die Klavierstimme wird schon vom ersten Moment an wahrgenommen, sie hat ihre Wirkung auf den Gesamteindruck, aber eben unterbewußt. Das ist der wichtige Unterschied zur Singstimme.

Herzliche Grüße auch meinerseits!

Leila
19.03.2016, 15:55
[…] Es gibt einige Stuecke/ Sachen, die ich -- unter bestimmten Umstaenden, wie Flugzeug oder Klausurenschreiben -- mag, […]


[…] Sind alles so Sachen, die ich wie vieles anderes, ziemlich selten, aber dann gerne hoere. […]

Das ist es!

Leila
20.03.2016, 04:07
Ich bekenne freimütig, daß ich Bunburys und des Neuen Ausführungen nicht folgen kann, und zwar meiner mangelhaften Kenntnis der Musik wegen. – Dennoch behaupte ich heute – viele Jahrzehnte später – daß ich meinem damals künftigen Ehemann nicht auf Anhieb meine innigste Zuneigung bekundet hätte, wenn er nicht musikalisch veranlagt gewesen wäre.

Aber dies teilte ich schon dort (http://www.politikforen.net/showthread.php?105431-Musik-erweckt-Erinnerungen!&highlight=Musik) mit.

Wenn ich dereinst verklinge, dann hoffentlich mit einem unerhörten Wohlklang – inmitten der Stille des nachdenklichen Schweigens.

KuK
20.03.2016, 08:38
Moin, werte Musik-Experten!

Nach den ersten 15 Seiten des Stranges war mir schon ganz schwindelig ob der Potenz der einstellenden Schreiber.
Die Erwägungen zur modernen Musik erreichen mich nicht. Das ist für mich nichts Angenehmes. Auch fand ich eine Menge Worte vor, die mir wie gedrechselte Worthülsen vorkommen. Manche Schreiberlinge gefielen sich wohl in der Verklausulierung einfacher Sachzusammenhänge.

Ich möchte zum Thema des Stranges zurückkommen:

Ein Eklat kommt immer dann zustande, wenn Erwartungen nicht erfüllt oder verweigert werden. Genau das tun die Konzertmeister von heute:

Der zahlende Kunde wird gezwungen, zuerst sich die kakophonen Kompositionen der Moderne anzutun, bevor er dann als letzte Beiträge die Stücke zu hören bekommt, wegen denen er eigentlich das Konzert besuchte.

Mein Vorschlag ist, zuerst die Klassiker anzubieten und nach der Pause dann die Moderne. Das Ergebnis kann ich Euch jetzt schon voraussagen. Parkett und Rang werden in der 2. Konzerthälfte eine gähnende Leere aufweisen, weil kaum jemand sich für Klangmontagen interessiert, wenn er doch auf harmonische Musik steht.

Es ist dieses belehrende Zurechtrücken der Stücke auf dem Konzertzettel, was solche Eklats auslöst.

Auch dieses "mit Gewalt auf etwas hinweisen" ist ein typisches Verhalten heutiger Musikveranstalter. Wenn ich Mozart hören will, möchte ich mich nicht mit Steve Reich rumärgern.

Wahrscheinlich liegt es daran, daß ich ein Banause bin,

mit klassischem Gruß,

KuK

Bunbury
20.03.2016, 08:44
Wahrscheinlich liegt es daran, daß ich ein Banause bin

Moin, KuK!

Solltest Du ein Banause sein (was ich nicht glaube), dann zumindest ein wieder genesener!
Und das ist das Wichtigste.

Herzliche Grüße
Bunbury

Leila
20.03.2016, 09:59
[---]

Nur zu Deiner Information: Ich bin keine Musikexpertin, sondern bloß eine Musikliebhaberin.– Klick! (http://www.politikforen.net/showthread.php?88554-Lohengrin&p=3400730&viewfull=1#post3400730
)

Nebenbei: Die Einschlafbeschwernis des lieben Mütterchens verursachte mein angestrengtes Nachdenken. — Welche Musik könnte ich Ihr noch empfehlen?

Keith Jarretts Klavierkonzerte zum Beispiel, die er in Köln und Lausanne zum Besten gab.


https://www.youtube.com/watch?v=T_IW1wLZhzE

Gruß von Leila

KuK
20.03.2016, 10:08
Moin, Leila!

Biete dem Mütterchen doch 100 Takte "Die Moldau" von Smetana an. Das sollte als Schlaftablette supergut funktionieren....

Gruß ins Baselbiet,

KuK

derNeue
20.03.2016, 11:49
Moin, werte Musik-Experten!

Nach den ersten 15 Seiten des Stranges war mir schon ganz schwindelig ob der Potenz der einstellenden Schreiber.
Die Erwägungen zur modernen Musik erreichen mich nicht. Das ist für mich nichts Angenehmes. Auch fand ich eine Menge Worte vor, die mir wie gedrechselte Worthülsen vorkommen. Manche Schreiberlinge gefielen sich wohl in der Verklausulierung einfacher Sachzusammenhänge.

Ich möchte zum Thema des Stranges zurückkommen:

Ein Eklat kommt immer dann zustande, wenn Erwartungen nicht erfüllt oder verweigert werden. Genau das tun die Konzertmeister von heute:

Der zahlende Kunde wird gezwungen, zuerst sich die kakophonen Kompositionen der Moderne anzutun, bevor er dann als letzte Beiträge die Stücke zu hören bekommt, wegen denen er eigentlich das Konzert besuchte.



KuK

Das war vor einigen Jahrzehnten immer so, wo das obligate "moderne Werk" dabei sein mußte, um eben die Neue Musik zu fördern. Heute eigentlich nicht mehr. Moderne Werke werden immer mehr danach ausgesucht, ob sie auch beim Publikum ankommen.
Die Marktwirtschaft hat längst in das Konzertleben Einzug gehalten. Deswegen wird z.B. ein Steve Reich lieber gespielt als ein Stockhausen. Man achtet mehr aufs Publikum. Insofern kannst Du froh sein, daß man Dir "nur" Reich zumutet.

latrop
20.03.2016, 14:08
Der zahlende Kunde wird gezwungen, zuerst sich die kakophonen Kompositionen der Moderne anzutun, bevor er dann als letzte Beiträge die Stücke zu hören bekommt, wegen denen er eigentlich das Konzert besuchte.






Wahrscheinlich liegt es daran, daß ich ein Banause bin,

mit klassischem Gruß,

KuK

Hallo banause,

du hast mir so richtig aus der Seele gesprochen.:dg:

Bunbury
20.03.2016, 14:49
Lieber Neuer,

vielen Dank für Deine freundliche Antwort! Du hast Recht; wir müssen uns ja gar nicht überzeugen. Es reicht, wenn immer neue An- und Einsichten dabei herauskommen.


Aber wenn Du Dir hörend eine Zwölftonreihe merken kannst, so daß Du nach 11 Tönen,vielleicht noch oktavversetzt und rhythmisiert, das 'es' wieder erwartest, wärest Du ein Phänomen. Wir mußten damals Zwölftonreihen hören und notieren bzw, absingen. Schon allein das ist nicht ganz einfach.

Mach Dich als Hörer (oder Analytiker) eines dodekaphonen Werks von der Zahl '12' oder der Reihe frei. Du sollst und kannst die Reihendurchläufe nicht hören, vor allem wenn sich mehrere Reihengestalten überlappen. Was glaubst Du, wieviel Modi Dir bei einem vielstimmigen Orchesterwerk wie Schönbergs op.31 in einem Takt übern Weg laufen? Nach wie vor: Einem reihengebundenen Werk durch Reihenanalyse zu Leibe zu rücken, ist eine komplette Zielverfehlung. Die Musik Schönbergs und seiner Schüler ist wie die spätromantischen Werke der Vorgängergeneration durch Bauelemente à la Vorder- und Nachsatz strukturiert, Themenaufbau- und Verarbeitung, durch Formteile wie Durchführung, Episode, Auflösungsfeld.


Ist das tatsächlich so? Denken wir an Harmonien, wenn wir im Kopf oder mit der Stimme eine Melodie durchgehen?

Ich hab's heute zu Palmarum bestätigt gefunden. Zur Messe waren aramäische Christen eingeladen (sie werden von Islamisten gerade systematisch aus ihrer Heimat verdrängt), die ein paar ihrer Hymnen gesungen haben. Dazu entstanden keinerlei Harmonien in meinem Kopf. Dagegen schwirrte mir bei unseren Kirchenliedern sofort das typische Grundfunktionen-Gesumms durch die Birne (die Orgel hatte ein Tacet, sie wird in der Fastenzeit nur sehr sparsam eingesetzt). Das ist sicherlich eine Folge der langen Hörerfahrung. Bei vielen Volksliedern wird die inhärente Harmonik sogar vom Melodieverlauf abgebildet, z.B. bei „Im Frühtau zu Berge“ der Dominant-Septakkord vor dem Schlußton.


Wenn Du jetzt hingehst und sämtliche Literatur späterer Zeit, wo Einzelstimmen neben der Hauptstimme irgend eine Form von Eigengewicht oder eigene Aussage haben, als polyphon bezeichnest, bzw. auch alle, die man überhaupt nur individuell raushört, dann müßten wir wahrscheinlich sagen, daß alles oberhalb des gesungenen Lagerfeuerliedes mit ein paar Gitarrenakkorden zur Harmonisierung, polyphon wäre. Eine solche Sichtweise hätte auch ihre Berechtigung.

- ginge mir aber zu weit. Den Unterschied zwischen einem rein homophonen und einem durchbrochenen polyphonisierenden Satz (von allem weiteren zu schweigen) sollte man im Auge bzw. Ohr behalten. Wobei nach Herrn Rauhe schon der simple Begleitsatz (mit dem Baß als Gegenstimme) nicht mehr wahrgenommen werden dürfte, sobald oben drüber 'ne Melodie trällert - oder habe ich ihn falsch verstanden?


An diesem Beispiel kannst Du sehen, daß unsere Aufmerksamkeit, unser bewußtes Aufnehmen, sich immer nur auf einen Gegenstand in einem Moment richtet.

Ja, revenons à nos moutons. Ich geh mal einen Schritt zurück, auf Herrn Rauhe zu und sage: Selbst wenn Herr Rauhe Recht haben sollte (was ich nicht glaube), spricht das noch lange nicht gegen das polyphone Komponieren. Leila hatte schon --> Conlon Nancarrow ins Spiel gebracht. Man kann den Hörer planmäßig überfordern, wie es Nancarrow liebte: mit Polyrhythmik, irrrwitzigen simultanen Beschleunigungen in unterschiedlichen Tempi. Ähnliches gibt es bei Charles Ives, in der kunstvollen Montage ganzer Klangschichten (verschiedene Marsch- oder Volksmelodien) oder bei Alban Berg: im letzten der "Drei Orchesterstücke" und im Finale des Kammerkonzerts - mit der Kontrapunktierung ganzer Stimmenkomplexe. In allen drei Fällen haben wir es nicht mit scharlatanesker Beliebigkeit zu tun. Alle drei gehen mit ihrem Material sehr bedachtsam um. Der Hörer hört die Überfülle an Material, soll aber dem Gesamtgeschehen noch folgen können. Man muß halt wissen, wie stark man den Hörer überfordern darf, ohne daß er sich ausklinkt. Man muß wissen, wie wie man zu weit gehen darf (Cocteau). Aus dem Bereich der Spättonalität fällt mir noch der Beginn von Straussens "Don Quixote" ein: wie die Musik Don Quixotes Absinken in den Wahnsinn nachzeichnet.

Es gibt zwei Möglichkeiten, sich dem zu stellen: Man überläßt sich dem chaotischen Gesamteindruck und folgt dem Gesamtverlauf (unterschiedliche Satzdichte, Dissonanzgrad etc.). Oder man hört das Werk -zigfach und konzentriert sich dabei - am besten mit Partitur! - auf eine bestimmte Klangschicht. Sag nicht, das sei expertenhaft oder spezialistisch. Das ist doch bei der Lektüre eines vielschichtigen Romans nicht anders: Ulysses, Lolita, Zettels Traum, Ardistan und Dschinnistan. Man folgt einer Leseebene und liest das Ganze dann nochmal mit anderen Augen, um die nächste Leseebene abzuklappern - und so weiter. Niemand behauptet, diese Art von künstlerischer Arbeit sei alleinseligmachend. Sie ist so plausibel wie ihr Gegenteil - die Reduktion in der Manier von Erik Satie, John Tavener oder Arvo Pärt.

derNeue
20.03.2016, 16:33
Lieber Neuer,
Mach Dich als Hörer (oder Analytiker) eines dodekaphonen Werks von der Zahl '12' oder der Reihe frei. Du sollst und kannst die Reihendurchläufe nicht hören, vor allem wenn sich mehrere Reihengestalten überlappen. Was glaubst Du, wieviel Modi Dir bei einem vielstimmigen Orchesterwerk wie Schönbergs op.31 in einem Takt übern Weg laufen? Nach wie vor: Einem reihengebundenen Werk durch Reihenanalyse zu Leibe zu rücken, ist eine komplette Zielverfehlung. Die Musik Schönbergs und seiner Schüler ist wie die spätromantischen Werke der Vorgängergeneration durch Bauelemente à la Vorder- und Nachsatz strukturiert, Themenaufbau- und Verarbeitung, durch Formteile wie Durchführung, Episode, Auflösungsfeld.

Interessanter Gedanke, ich sollte ihn vielleicht tatsächlich nochmal neu hören.


Ich hab's heute zu Palmarum bestätigt gefunden. Zur Messe waren aramäische Christen eingeladen (sie werden von Islamisten gerade systematisch aus ihrer Heimat verdrängt), die ein paar ihrer Hymnen gesungen haben. Dazu entstanden keinerlei Harmonien in meinem Kopf. Dagegen schwirrte mir bei unseren Kirchenliedern sofort das typische Grundfunktionen-Gesumms durch die Birne (die Orgel hatte ein Tacet, sie wird in der Fastenzeit nur sehr sparsam eingesetzt). Das ist sicherlich eine Folge der langen Hörerfahrung. Bei vielen Volksliedern wird die inhärente Harmonik sogar vom Melodieverlauf abgebildet, z.B. bei „Im Frühtau zu Berge“ der Dominant-Septakkord vor dem Schlußton.
Du bist ja auch ein harmonisch vorgebildeter Hörer. Geht mir bei einfachen Liedern wie "Im Frühtau" auch so. Wenn ich das spontan auf dem Klavier begleiten würde, nehme ich natürlich bei "ziehn" die Dominante. Und wenn wenn ich das im Kopf auf Harmonien durchgehe, denke ich mir das auch so. Subdominante bei "Grünen" und Tonika wieder bei "Höhen". Weil ja einfach die entsprechenden Melodietöne wie die zweite Stufe nicht in der Tonika vorkommen. Das registriere ich quasi schon automatisch. Aber ein harmonisch ungebildeter Hörer? Der kann sich doch eigentlich gar keine Akkorde dazu vorstellen, wie sollte er?
Anders ist es , wenn Du es mehrstimmig gespielt hörst. Dann erwartet jeder, auch der ungebildete Hörer den authentischen Schluß am Ende. Auch wenn er nicht weiß, was das ist. Einfach wegen der Leittonspannung, die jeder empfindet, der schon mal europäische Musik gehört hat.


- ginge mir aber zu weit. Den Unterschied zwischen einem rein homophonen und einem durchbrochenen polyphonisierenden Satz (von allem weiteren zu schweigen) sollte man im Auge bzw. Ohr behalten. Wobei nach Herrn Rauhe schon der simple Begleitsatz (mit dem Baß als Gegenstimme) nicht mehr wahrgenommen werden dürfte, sobald oben drüber 'ne Melodie trällert - oder habe ich ihn falsch verstanden?

Mißverständnis. Das mit dem Überfordern des Hörers bei der Polyphonie war nicht Herrn Rauhes, sondern meine These. Rauhe hat, soweit ich weiß, nur die Hörertypen kategorisiert. Also den Klangfarbenhörer und den Melodiehörer und den eher rationalen Strukturhörer usw.
"Scheitern der Polyphonie" wäre aber auch für mich das falsche Wort. Ich meine nur, sie hat sich nicht durchgesetzt, hat aber ihren wichtigen Stellenwert. Grundsätzlich glaube ich, daß alle Musik, je komplizierter sie ist, immer weniger Hörer anspricht. Musikalische Bildung ist sicher eine gute Voraussetzung, um auch kompliziertere Musik genießen zu können, aber vielleicht auch nicht die einzige.
Wir sehen ja, daß der ganze Klassik-Markt viel kleiner ist als der der U-Musik. Grund ist vor allem die größere Kompliziertheit dieser Musik. Ich glaube gar nicht, daß das so sehr daran liegt, daß die Klassik Jugendlichen etwa zu "altmodisch" wäre (wie oft behauptet wird) oder so etwas. Nein: sie ist im Schnitt einfach schwerer zu hören. Und sie ist eben weniger rhythmusbetont, und gerade das rhythmische Element spricht sozusagen den "Bauch" des Hörers an. Die Wirkung eines starken Rhythmus ist einer Droge nicht unähnlich. Er kann in einen tranceartigen Zustand versetzen und zur Bewegung reizen. Deswegen bevorzugen junge Leute auch oft die stark rhythmusbetonte Musik. Ohne Schlagzeug geht da nichts.
Die Melodie wiederum spricht das Gefühl an, sie kann einen zum Weinen oder zum Lachen bringen.
Die Struktur dagegen spricht am ehesten den Verstand an, den Sinn für die Schönheit der Form. Das setzt intensive Auseinandersetzung mit dem Werk voraus.



Ja, revenons à nos moutons. Ich geh mal einen Schritt zurück, auf Herrn Rauhe zu und sage: Selbst wenn Herr Rauhe Recht haben sollte (was ich nicht glaube), spricht das noch lange nicht gegen das polyphone Komponieren. Leila hatte schon --> Conlon Nancarrow ins Spiel gebracht. Man kann den Hörer planmäßig überfordern, wie es Nancarrow liebte: mit Polyrhythmik, irrrwitzigen simultanen Beschleunigungen in unterschiedlichen Tempi. Ähnliches gibt es bei Charles Ives, in der kunstvollen Montage ganzer Klangschichten (verschiedene Marsch- oder Volksmelodien) oder bei Alban Berg: im letzten der "Drei Orchesterstücke" und im Finale des Kammerkonzerts - mit der Kontrapunktierung ganzer Stimmenkomplexe. In allen drei Fällen haben wir es nicht mit scharlatanesker Beliebigkeit zu tun. Alle drei gehen mit ihrem Material sehr bedachtsam um. Der Hörer hört die Überfülle an Material, soll aber dem Gesamtgeschehen noch folgen können. Man muß halt wissen, wie stark man den Hörer überfordern darf, ohne daß er sich ausklinkt. Man muß wissen, wie wie man zu weit gehen darf (Cocteau). Aus dem Bereich der Spättonalität fällt mir noch der Beginn von Straussens "Don Quixote" ein: wie die Musik Don Quixotes Absinken in den Wahnsinn nachzeichnet.

Bei Polyrhythmik denke ich immer an afrikanische Musik, woher sie ja auch kommt. Aber bei einem Werk wie z.B. dem Don Quixte ist es ja so: es gibt klar erkennbare und singbare Leitmotive. Die setzen gleich am Anfang ein. D.H.: da kann die Harmonik machen, was sie will, sie kann noch so kompliziert sein, der Hörer hat immer etwas, an das er sich klammern kann.
Ähnlich z.B. in Stravinskys Sacre: Die Polytonalität überfordert den Hörer nicht, sie wirkt sogar sehr ausdrucksvoll, und das ist einfach deswegen so, weil auch hier klar erkennbare melodische oder rhythmische Motive die Struktur geben. Die kann sich der Hörer merken und hat daher keinen chaotische Eindruck.


Es gibt zwei Möglichkeiten, sich dem zu stellen: Man überläßt sich dem chaotischen Gesamteindruck und folgt dem Gesamtverlauf (unterschiedliche Satzdichte, Dissonanzgrad etc.). Oder man hört das Werk -zigfach und konzentriert sich dabei - am besten mit Partitur! - auf eine bestimmte Klangschicht. Sag nicht, das sei expertenhaft oder spezialistisch. Das ist doch bei der Lektüre eines vielschichtigen Romans nicht anders: Ulysses, Lolita, Zettels Traum, Ardistan und Dschinnistan. Man folgt einer Leseebene und liest das Ganze dann nochmal mit anderen Augen, um die nächste Leseebene abzuklappern - und so weiter. Niemand behauptet, diese Art von künstlerischer Arbeit sei alleinseligmachend. Sie ist so plausibel wie ihr Gegenteil - die Reduktion in der Manier von Erik Satie, John Tavener oder Arvo Pärt.
Für mich ist da immer der Gesamteindruck wichtig. Die Analyse der Einzelteile kommt dann (vielleicht) noch hinterher.

Leila
01.04.2016, 11:32
Letzthin sah ich einen Dokumentarfilm. – Leider störten die Kinder meiner Freundin meine Aufmerksamkeit, so daß ich nur ungefähr wiedergeben kann, was ein Müller sagte, der eine alte Mühle noch immer in Betrieb hält. – Er sagte ungefähr: „Das Plätschern des Wassers, das Knarren der Räder und das Geräusch des Mühlsteins empfinde ich wie ein Konzert.“

Genau das empfand ich damals, als ich in einer Schreinerei während zwei, drei Tagen arbeiten durfte!

Mütterchen
01.04.2016, 12:59
..(Vollzitat)..

Liebe Leila, unsere HPF-Bekanntschaft währt ja schon einige Jahre. Ich hätte wissen können dass du auf meine Bemerkung hin Überlegungen anstellst. Ich finde das sehr, sehr nett und bin ganz gerührt. Überhaupt ist dieser Strang hier mein momentaner Lieblingsstrang. Ich kann mich da wenig beteiligen, dafür lese ich umso lieber. Und ich bin für jedes neue Musikstück dem ich hier begegne richtig dankbar. Ich kenne viel zu wenig. Und es gibt so viel. Und so viele gute und weniger gute und auch herausragende Aufnahmen. Keine Ahnung wie man es schaffen kann da den Überblick zu halten.
Es gibt Musik die höre ich seit Jahren immer wieder und ich bin trotzdem jedes Mal wieder platt wenn ich danach die Kopfhörer abnehme. Da komme ich von mir aus gar nicht auf die Idee, mir viel Neues anzuhören. Auch ein Grund weswegen ich begeistert in diesem Strang mitlese.

Mütterchen
01.04.2016, 14:45
Moin, Leila!

Biete dem Mütterchen doch 100 Takte "Die Moldau" von Smetana an. Das sollte als Schlaftablette supergut funktionieren....

Gruß ins Baselbiet,,

KuK
Konditionierung ist faszinierend. Nachdem die ersten Male erfolgreich waren brauche ich nur noch die Anfangstakte zu hören und schon werden die Augenlider schwer. Traurig dabei ist, auch wenn ich mal die Gelegenheit bekomme: "der Spiegel im Spiegel" wird von mir sicher nie bei einem Konzertbesuch gehört werden.

Leila
01.04.2016, 15:25
Liebes Mütterchen!

Du schriebst mir wortwörtlich.


„Liebe Leila, unsere HPF-Bekanntschaft währt ja schon einige Jahre.“

Ich schreibe Dir nun, was ich bereits nach dem Lesen dieses Satzes befürchtete: Schon wieder eine, die mir die die virtuelle Freundschaft aufkündigt! – Aber ich irrte mich, wie schon so oft während meines langen Lebens.

Ich kann weder sachlich noch fachlich mit den Schreibern Bunbury und des Neuen mithalten: Denn ihr musikalisches Wissen übersteigt mein musikalisches Wissen bei weitem! – Obschon ich immerzu viel Musik höre (die Kopfhörer sind mein Kopfschmuck), ist mein musikalisches Wissen gering – und mit musikalischen Chirurgen und Sezierern pflege ich keinen Umgang. – Mir gefällt, was mir gefällt.

Dir teile ich Unbeständige mit, daß ich heute ein Lied innigst lieben kann, das ich gestern noch von ganzem Herzen haßte, wie zum Beispiel dieses:


https://www.youtube.com/watch?v=UGssssSZUKI

Man höre nur den Anfang! – Dieser ist so phänomenal wie die Eingangsmusik des unvergleichlichen Filmes namens „A Clockwork Orange“!


https://www.youtube.com/watch?v=HI-mDTdeKR8*

Keines eiskalten und gefühllosen Musikkritikers Bewertungen nehme ich mir zu Herzen. – Und nebst alledem: Henry Purcell zähle ich zu den größten Komponisten.


https://www.youtube.com/watch?v=8aPhVoxFqxA

Gruß von Leila

derNeue
08.04.2016, 20:48
Nochmal zu diesen interessanten Punkten, nach wiederholtem Lesen:


Und jetzt versuche ich ein letztes Mal, Dir meine Sicht- und Hörweise zu vermitteln. Ich will dafür nochmal von einer anderen Seite her argumentieren.

1.) Ja, die abendländische Hörerfahrung - von der wir milieubedingt, vielleicht auch schon genetisch geprägt sind - läßt uns in elementaren Melodiephrasen Harmonieverläufe mithören, selbst bei unbekannten Melodien: Man erwartet den Halbschluß auf der Dominante, den Dominant-Tonika-Abschluß beim Phrasenende. Das steckt so tief in uns, daß wir sofort aufmerken, wenn jemand mit Nebenstufen à la Schubert/Brahms abweichend harmonisiert. Daraus folgt hörpsychologisch, daß wir schon mal zwei Schichten, nämlich Melodie plus akkordische Begleitung wahrnehmen. Pech für Herrn Rauhe.

Hier kann ich Dir ehrlich gesagt am wenigsten folgen. Mal abgesehen davon, daß ich, wie schon geschrieben, nicht glaube, daß der Normalhörer bei Melodien die Begleitakkorde mithört:
Was meinst Du eigentlich mit "abweichend harmonisieren"? Und wieso sollen Schubert und Brahms das getan haben? Die Nebenstufen (auch Stellvertreterfunktionen genannt) haben gerade in der Romantik den absolut gleichen Stellenwert wie die Hauptfunktionen! Sie werden selbstverständlich benutzt, wie sie schon Bach selbstverständlich benutzt hat und zwar genauso häufig und natürlich wie die Hauptfunktionen. Von "abweichend" kann da gar keine Rede sein!
Bei Stamitz und Haydn allerdings: da hättest Du absolut recht: Mollakkorde sind hier normalerweise in einen kurzen Minoreteil in die Mitte des Satzes verbannt. Aber selbst hier kann von einer "Standartharmonisierung" nie die Rede sein. Denn, wie Du sicher weißt, (da ich glaube, Du kennst Dich mit Harmonielehre aus): es gibt selbst dann immer eine große Anzahl verschiedener Harmonisierungsmöglichkeiten, wenn auch nur die Hauptfunktionen benutzt werden. Suche Dir einfach ein bekanntes Lied aus drei verschiedenen Liederbüchern und Du wirst 3 verschiedene Harmonisierungen dazu finden. Das einzige, worüber Du Dir sicher sein kannst, sind eben die Schlußbidlungen D-T oder S-D-T. Die sind i.d.T. immer gleich, aber alles dazwischen ist beliebig formbar, selbst mit nur 3 Akkorden. Das liegt ja daran, daß Tonika mit Dominante und mit Subdominante gemeinsame Töne haben, so daß immer verschiedene Akkorde zur Begleitung möglich sind.
Und was die Moll-Nebenfunktionen betrifft: die waren eben nur in der Frühklassik selten, sonst nie.
Und in der Romantik dann sogar erweitert sich dieser Akkordvorrat noch ganz stark, indem terzverwandte Akkorde allgemein benutzt werden. Ganz unabhngig von der Ausgangstonart. Nach z.B. G/h/D ist dann ganz einfach z.B. gis/h/dis, gar h/dis/fis, im Endeffekt sogar dis/fis/ais usw. möglich. Also sogar terzverwandte alterierte Akkorde ohne gemeinsamen Ton. In der Funktionstheorie läßt sich das nicht mehr darstellen (weil zu kompliziert), es wird einfach allgemein als "Terzverwandtschaft" bezeichnet. Und das fängt schon bei Schumann an.
Insofern: "abweichend harmonisieren" ist eine Bezeichnung, die für die Romantik eigentlich gar keinen Sinn macht, weder für Schubert noch für Brahms. Es gibt nämlich keinen "Standart" der Harmonisierung (abgesehen vom DurMoll-System an sich), sondern Harmonisierung ist ein ganz individueller Vorgang, der bei jedem Komponisten natürlich durch seine Persönlichkeit geprägt wird. Und wenn eine Stelle traurig oder tragisch klingen soll, werden natürlich Mollakkorde benutzt. Hauptfunktionen in Dur als "Standart" erwartet niemand. Die Harmonisierung ist so individuell wie das Kunstwerk selbst.


2.) Der klassische 4-stimmige Satz, egal ob mit Harmoniewechsel auf jeder Zählzeit oder mit längeren Harmonieflächen (wie beim begleiteten Volkslied/Popsong etc.), individualisiert die Stimmen, am stärksten den Baß, der idealerweise in Gegenbewegung zur Oberstimme geführt wird, woraus sich eine latente Kontrapunktik wie von selbst ergibt, bei jedem besseren Komponisten planvoll, und da wären wir schon wieder beim 2-stimmigen Kontrapunkt. Die Wirkung einer guten Baßstimme nimmt jeder Hörer wahr – vor allem ihren dialektischen Bezug zur Oberstimme. An dieser Stelle kann Herr Rauhe eigentlich schon einpacken.

Der sogenannte "strenge Satz" individualisiert die Stimmen, wird dadurch aber noch nicht polyphon, denn zu Polyphonie im eigentlichen Sinn gehört immer auch eine unabhängige Rhythmik. Parallelrythmik wie im Kirchenchoral ist eigentlich das genaue Gegenteil von dem, was meist unter Polyphonie verstanden wird. Das Verbot von Quint- und Oktavparallelen gibt es bereits seit der Renaissance und wenn Du die Unabhängigkeit der Einzelstimme an sich zum Kriterium machen wolltest, dann wäre sämtliche mehrstimmige Musik nach dem Mittelalter ausschließlich polyphone Musik, denn verschmelzende Stimmen wurden seit damals nicht mehr komponiert. Dann wären wir an dem Punkt, wo "polyphon" und "mehrstimmig" ein und dasselbe wird, so wie das in England definiert ist. Eine völlig unzulässige Vereinfachung von eigentlich viel komplizierteren Strukturen.


3.) Das größte Problem in einer homophonen Komposition sind die Mittelstimmen. Ein rein akkordischer Begleitsatz kann vom Harmonieverlauf her plausibel sein. Aber die einzelnen Stimmen, aus denen er sich zusammensetzt, sind oft sterbenslangweilig oder potthäßlich, am schlimmsten die Altstimme im Chor- und die Bratschenstimme im Orchestersatz: in der Frühklassik oder später bei lieblos arbeitenden Komponisten reine Füllstimmen, entweder völlig ungesanglich oder aus penetranten Tonwiederholungen bestehend. Warum sucht jeder halbwegs vernünftige Komponist, diese Fehler zu vermeiden? Weil man diese Fehler im homophonen Stimmengeflecht hört, oder umgekehrt: weil man eine liebevolle Stimmführung auch bei rein harmonischen Komplexen hört, nämlich eine individualisierte durchmelodisierte Mittelstimme, wovon übrigens schon die Bach-Choräle Zeugnis ablegen.


Je homophoner ein Satz ist, je häßliche und langweiliger die Begleitstimmen, desto mehr tritt die Melodie in ihrer ganzen Schönheit und Qualität (sofern vorhanden) hervor. Viele Musik will nur das und nicht mehr. Z.B. die ganze Frühklassik aber auch die U-Musik und ein großer Teil der einfach begleiteten Kunstlieder. Als "Fehler" darf man das nicht sehen, es ist ein bestimmtes Schönheitsideal, daß dem bescheidenen und auf "innere Größe" ausgelegten Wertesystem der Aufklärer voll entsprach. In dieser Musik steckt letztlich die Philosophie der Gelehrten der damaligen Zeit, eines Kant oder Winkelmann. Daß diese Musik für die Begleitsimmen undankbar zu spielen ist, steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Leila
09.04.2016, 12:33
„Das klingt wie Musik in meinen Ohren!“ – Diesen Ausspruch hörte ich von vielen Handwerkern – z.B. von einem Motorradmechaniker, der sich am Lärm, den der Motor seines Vehikels verursachte, erfreute. Oder von einem Wärter der Maschine, die im Rumpf eines Passagierschiffes rund lief. – Zu den musikalischsten Handwerkern zähle ich die Liebhaber der Dampflokomotiven.

Ich bin der Meinung, daß die Musikalität mit der Entwicklung des Menschen zum Taktgefühl begann, also mit dem rhythmischen Schlagen bzw. mit dem Trommeln, wobei ich das „Taktgefühl“ in diesem Zusammenhang nicht moralisch verstanden haben möchte).

Was die einen für Lärmbelästigung halten, halten die andern für einen Hörgenuß.

Coriolanus
09.04.2016, 22:37
Jedes Böhnchen gibt ein Tönchen. Ein Preßlufthammer kann durchaus auch einen beeindruckenden "Klang" vorweisen. Wer würde es schon Krach nennen, wenn Asphalt mit brachialer Gewalt aufgebohrt wird und zerplatzt. Ohne Gehörschutz jedoch, ist ein solcher "Genuß" auf Dauer schwer erträglich. Ähnlich wie bei GP-Motoren. Sonst hätte man an echter Musik schon sehr bald keine Freude mehr. Auch sonst würde einem dann so manches "Konzert" entgehen. Das Gezwitscher der Vögel, das man normal um diese Jahreszeit schon früh morgens vernehmen müsste, entwickelt sich zu einem vielstimmigen Chor, zusammen mit brummenden Lastwagen und kreischenden Motorrollern. Von eminenter Wichtigkeit ist es allerdings, die richtige Lautstärke zu wählen. Allzu oft erliegt man nämlich selbst der Versuchung, den Sound (https://m.youtube.com/watch?v=Fr8dNK4xBfo) voll aufzudrehen.