Beverly
24.11.2005, 15:12
Anbei sind die ersten beiden Teile meines Science Fiction-Romans STERNE DER HEIMAT:
Teil 1 * Zu neuen Ufern!
Qalat Hosn 34 ... 35 ... 36!, zählte Tihama ab. Da war das Reisebüro mit der Leuchtreklame: Frachtversand - Tramptransfer - Passagierreisen. Im Schaufenster hing ein handgeschriebenes Schild aus Elektroplastik: 2 TRAMP! LETZTE FREIE FÄCHER NACH DRAKE'S POINT! Jetzt aber los, bevor es ihr wer anders wegschnappte! Tihama faltete ihren Regenschirm auf und rannte aus dem Unterstand quer über die Straße zum Reisebüro. Ein Windstoß fegte durch die Straße und durchnässte die rechte Seite von Tihamas Straßenanzug von der Schulter bis zu den Knöcheln. Sifft! Siff-hayy! Laut auf Arabisch und Taeni schimpfend kam sie ins Reisebüro und rief: »Ich nehme die beiden Tramptransfers nach Drake's Point!« Einen Tee, um ihre von der Begegnung mit dem Taen-Mistwetter gereizten Nerven zu beruhigen, bekam sie auch.
»Wollen Sie Taen für immer verlassen?«, fragte eine der Kooperativlerinnen, denen das Büro gehörte.
»Ich weiß nicht«, antwortete Tihama. »Auf Drake's Point gibt es jedenfalls noch massenhaft Geld und hier ...« Sie hob die Schultern. »In Kota ist nicht mehr viel los, die Männer haben kein Geld mehr.«
»Mit den Männern in Drake's Point ist das zweifellos anders«, sagte die Frau und schenkte ihr Tee nach. »Aber Taen ist die schönere Welt, trotz des Wetters. Obwohl ...« Sie schüttelte den Kopf. »Seitdem sie die Wirtschaftsbücher abgeschafft haben, geht es nur noch bergab. Also hier sind Ihre Tickets: Manal bint Tihama, Fonyu Yukawa. Normtag 23. November 2401, 20 Uhr Normzeit am Raumhafen, Abfertigung G 11.«
»Alles klar!«, sagte Tihama, faltete die Blätter aus Elektroplastik zusammen und stecke sie in eine Tasche ihres Anzugs.
»Drake's Point, wir kommen!« Fonyu hielt die Tickets in die Höhe, wedelte damit und sprang in die Luft.
Von ihrer afrikanischen Mutter hatte Fonyu die fast schwarze Hautfarbe und von ihrem japanischen Vater die schmalen Augen. Ihr Gesicht war oval und das lange und glatte, schwarz glänzende Haar fiel ihr bis zum Po. Sie hatte ihre Schwarzdiamanten angelegt und die Hänger, Ringe, Ketten und Netze waren ihre einzige Kleidung. »Auf Drake's Point kannst du darin baden«, meinte Piter, der Wirt des Tief Gesunken.
»Einer wird dir schon das Badewasser einlassen«, lachte Tihama. Sie hatte braune Haut, ein feines, dreieckiges Gesicht mit großen, dunklen Augen. Ihr schwarzes Haar schloss sich um ihren Oberkörper wie ein Schleier, der nur das Gesicht freiließ. Ihr Slip war so winzig, dass es aussah, als ob ihr Haar ihre einzige Kleidung war. ...
»Dir auch.« Fonyu fasste Tihama zwischen die nackten Schenkel. »Und wenn wir genug gepokst haben, kommen wir wieder und kaufen Piter seinen Saftladen ab.«
»Das sagen alle Pokse.« Piter lachte. »Ihr werdet einen Frisiersalon am Sommerhafen aufmachen, wenn ihr Glück habt.«
»Ach ne.« Fonyu setzte zu einer Entgegnung an, da war an der Tür Bewegung. »Wir haben ...«, begann Vilessa, doch Fonyu nickte: »Lass sie rein, die sehen nicht wie Kunden aus.«
Ein sehr junger Mann und eine ebenso junge Frau traten zögernd in den Barraum. Beide waren schlank und mittelgroß und sahen mit ihrer braunen Haut, den ebenmäßigen Gesichtern und den dunklen Augen wie Zwillinge aus. Die schulterlangen, schwarzen Haare waren bei der Frau glatt, während der Mann hübsche Locken hatte. Beide legten ihre Regenumhänge ab und bei der Frau kam darunter ein kurzer, roter Rock und ein schwarzes Top zum Vorschein. Der junge Mann trug nur rote Shorts und präsentierte seinen nackten, glatten Oberkörper.
»Wer seid ihr denn?«, fragte Fonyu und lächelte wohlwollend. »Wir feiern hier unseren Abschied von Taen. Übermorgen geht es nach Drake's Point.«
»Da fliegt ihr mit unserem Vater«, sagte der junge Mann. »Ich bin Steffa Miladera-Rohanian und sie ist meine Schwester Inai Rohanian-Miladera. Unser Vater ist Lademeister auf der Lee Burton.«
»Da hoffe ich, dass er gut auf unsere beiden Hübschen aufpasst«, meinte Piter. »Fonyu und Tihama wollen Drake's Point erobern.«
»Was trinkt ihr?«, fragte Tihama.
»Alkohol kriegen sie nicht, sind bestimmt noch keine Zwanzig!«, erklärte Piter, doch Tihama sagte: »Stell dich nicht so an, wenigstens einen Meereswein für jeden.«
»Na gut.« Der Wirt füllte zwei Schalen mit dem purpurroten Schaumwein und reichte sie den beiden. Die Frau holte ihren Fernreder hervor und fragte: »Kann ich noch jemanden holen? Eine Freundin, sie arbeitet auch auf der Lee Burton.«
»Gerne.« Fonyu lächelte. »Ich bin schon darauf gespannt, sie kennen zu lernen.«
»Uta, hier ist Inai, Inai Rohanian-Miladera«, sprach die junge Frau in den Fernreder. »Komm doch ins Tief Gesunken. Aber komm in was Schickem.« Sie hielt den Fernreder hoch und ließ seine Kamera über die Bar und ihre Gäste streichen. »Du verstehst?«
»Tanzen wir?« Ooops, die Frage galt ihm, begriff Steffa und gestellt hatte sie ein Poks, Mann oder Halbfrau. Er war schlank und braun, hatte ein schmales Gesicht und sein schwarzes Haar war zu einem weit über die Schultern reichenden runden Schopf frisiert, der bei jeder Bewegung wie ein großer Öltröpfen glänzte und schillerte.
»Ja, wir tanzen«, entschied er und schon legte er die Arme um Steffas Hüfte und zog ihn auf die Tanzfläche. Zu den sanften Klängen von Fummelmusik wiegten sie sich Arm in Arm. »Ich bin Imschi«, stellte sich der andere vor.
»Steffa. Bist du ...?« »Ja ich bin, was sonst?« Imschi lachte. »Du bist süß, wie einer von uns.«
»Danke«, sagte Steffa verlegen. »Aber ich will kein Poks werden.«
»Was denn?«
»Ich will Physik beginnen, obwohl alle sagen, dass man damit nichts werden kann.«
»Das ist doch ausgeforscht, seit wir den Durchstoßer haben.«
»Eben nicht ... ach dazu müsste man die Grundlagen kennen. Richtig verstehen das Durchstoßen nicht einmal die Raumfahrer, sagt Uta.«
Diese Uta kam und enthüllte unter ihrem Regenumhang ein Top, das wenige mehr als ein paar Fäden enthielt, welche nur den Bereich um ihre Brustwarzen blickdicht verhüllten, einen fransigen kurzen Rock und Netzstrümpfe. Plateaupumps machten sie noch größer und Piter lachte: »Du wärst ein guter Ersatz für Tihama und Fonyu.«
Uta hatte lange Arme und Beine, die sie schlaksig wirken ließen. Ihre Brüste waren klein und flach, doch der Rock spannt sich über einem prallen Hintern. Sie hatte ein markantes Gesicht mit breiter Stirn, hohen Wangenknochen und ausgeprägtem Kinn. Das lange und glatte, weißblonde Haar hob sich kaum von ihrer hellen Haut ab und große, grüne Augen waren die auffälligsten Farbtupfer in ihrem blassen Gesicht.
Interessiert betrachtete sie Tihama und Fonyu: »Ihr fliegt mit der Lee Burton?«
»Ja«, antwortete Tihama. »Auf Drake's Point ein bisschen Geld machen.«
»Und dann? Wollt ihr immer poksen?«
»Piter hat uns gesagt, mit Glück schaffen wir es, einen Frisiersalon im Sommerhafen-Viertel aufzumachen.« Tihama seufzte. »Dafür sind wir dann durch den halben Weltraum gezogen.«
Die drei Frauen tanzten zu Barrikaden-Rock mit dröhnendem »TA-HO! TA-HO!«, der die Gläser klirren ließ. Vilessa spielte danach Fummel-Blues und Uta setzte die Unterhaltung fort: »Habt ihr euch schon mal überlegt, richtig neu anzufangen?«
»Deswegen sind wir beide von der Erde nach Taen gekommen«, lachte Fonyu. »Neu war es, richtig auch, aber eben nicht 'richtig neu'. Und Drake's Point mag wegen dem Geld ganz gut sein, abern wenn dann nicht mehr bleibt als Conks zu machen ...«
»Ich habe mir sogar überlegt, zu studieren«, erzählte Tihama. »Als Pokse habe ich genug Zeit dafür, doch das ginge nur mit Wirtschaftsbuch, die Studiengebühren sind viel zu hoch. Und danach ... von den Freiern zwanzig Eurodollar mehr verlangen, weil sie eine Akademikerin poksen dürfen?«
Nach einem Brand war die Hoftreppe von Tihamas und Fonyus Wohnhaus unpassierbar. So nahmen die beiden Frauen am Tag ihrer Abreise ihren Reisesack zwischen sich und verließen ihre gemeinsame Wohnung über die Außentreppe. Nûr-Taen stieg über den Horizont, als sie durch leere Straßen zur Station der T-Tram gingen und der Gedanke, bald die beiden Sonnen von Drake's Point zu sehen, machte Tihama aufgeregt und euphorisch. Sie war von ihrem Heimatkaff am Roten Meer so weit gereist und würde noch weiter reisen!
Beschwingt stieg sie in den Tramzug und genoss das Gefühl des Unterwegs-sein.
»Fernbahnhof«, sagte die Tramführerin an. »Meine Damen, Sie müssen aussteigen. Wohin geht es denn?«
»Drake's Point!«, antwortete Fonyu. »Wo all die bunten Steine herkommen.«
»Na dann ... gute Reise!«
»Danke.«
»Werden Sie wiederkommen?«
Wie ein Blitz ging es durch Tihama und sie antwortete mechanisch: »Ja, wir werden wiederkommen.« Ihre Sinne klärten sich und sie sagte: »Also dann, auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen«, sagte die Tramführerin fröhlich. »Bringen Sie mir einen Schwarzdiamanten mit.«
»Das werde ich nicht können«, antwortete Tihama tonlos.
»Warum nicht? Die liegen da doch herum wie bei uns die Muschelsteine.«
'Weil wir nicht nach Drake's Point kommen werden', hätte Tihama fast geantwortet. Kaum waren sie aus der Tram, fragte Fonyu: »Tihama, was soll das? Natürlich können wir der Frau einen Schwarzdiamanten mitbringen, wenn wir das wollen. Vielleicht machen wir sogar einen Schmuckladen auf.«
»Wir werden nicht nach Drake's Point kommen!«
»Wieso nicht? Erzähl nichts von Fehlstößen, von denen kriegen wir in der Viehklasse sowieso nichts mit und erfahren dann hinterher, dass die Reise länger gedauert hat. Außer ...« Fonyu hielt die Hand an den Mund. »O Nein!«
»Uns wird nichts passieren, nur werden wir nicht nach Drake's Point kommen.«
»Dann brauchen wir erst gar nicht zum Raumhafen zu fahren.« Fonyu packte eine Schlaufe ihres Reisesacks und zerrte ihn hinter sich her zurück zur Tramstation. Tihama folgte ihr ... sie fand sich in Fonyus Armen wieder und Taen schien sich im Sekundentakt um sie zu drehen. »Tihama, was ist mit dir?«, fragte ihre Freundin. »Du bist doch nicht schwanger?«
»Nein«, lachte Tihama. »Schwanger nicht ... aber wir werden Kinder haben, viele Kinder.« Sie nahm eine Schlaufe des Reisesacks: »Wir müssen los, sonst fährt der Zug ohne uns ab.«
Im Magnetzug fragte Fonyu: »An was kannst du dich erinnern?«
»Ich ... ich habe mich gesehen«, erzählte Tihama. »Schon in einigen Jahren bin ich wieder hier. Vor dem Rathausplatz, am Burton-Turm. Nur etwas war total verrückt.«
»Was kann noch verrückter sein als sich an die Zukunft zu erinnern?«
»Ich habe gedacht, dass es vierhundert Jahre her war, dass ich das letzte Mal auf Taen war.«
Der Zug raste durch die Taen-Tiefebene, an Hügelland vorbei, in Tunnels und wieder heraus. Einige Male hielten sie in kleineren Städten, dann folgte auf Ackerland und Wald unberührter Landtang mit dunkelgrünen, viele Meter hohen Blättern und Stängeln. »Liebe Fahrgäste, wir nähern und Ringo's Corner«, sagte der Zugführer über die Sprechanlage an. »Dies ist unser letzter Halt vor dem Taen-Raumhafen.«
Tihama erwog, hier auszusteigen und eine Karriere als Provinzstadt-Pokse zu beginnen. Was dann wohl geschehen würde? Spaltete sich die Realität und die Erinnerung käme dann nicht aus ihrer Zukunft, sondern der einer anderen Tihama? Einer Tihama, die für eine befriedigende Zukunft ein Wagnis eingegangen war.
Der Zug hielt einige Minuten in Ringo's Corner und fuhr weiter, ohne dass Tihama mehr als einen flüchtigen Blick auf den Ort geworfen hatte. Immer höher ging es hinauf, über Schluchten und durch Berge, mitten in dicke weiße Wolkenfelder, um die Wolken endlich unter sich zu lassen und im Raumhafen zu halten.
Tihama und Fonyu zogen ihre Steppmäntel über ihre Kleider. Hier oben war es auch im Taen-Sommer nur wenig über Null Grad und der Atem bildete vor ihren Gesichtern kleine Wölkchen. An der Abfertigung G 11 gaben sie ihren Reisesack ab. Ein großer, bulliger Mann mit einem kantigen Gesicht und glatten, nach hinten gekämmten schwarzen Haaren nahm ihr Gepäck entgegen. Er trug einen Bordanzug mit der Aufschrift: »Lee Burton, Lademeister Jakob Miladera«. Er war der Vater von Steffa und Inai, der nicht wusste, dass er nie in Drake's Point ankommen würde. Fast hätte Tihama es ihm auf den Kopf zugesagt. Bei einer Todesahnung hätte sie entschieden, dass DAS in einer Parallelwelt stattfinden sollte. Doch eine Erinnerung an Zukünftiges kam nicht, so sehr sie sich auch darum bemühte.
»Ist etwas?«, fragte er. »Sie haben doch daran gedacht, nichts zu essen und zu trinken?«
»Ja, natürlich«, antwortete Tihama. »Wir haben Ihre Kinder getroffen.«
»Ja«, antwortete er. »Sie haben von der Feier erzählt. Danke, dass Sie sie eingeladen haben.«
»Gern geschehen, sie sind wirklich reizend.«
»Ja.« Jakob strahlte. »Steffa will Mathematik und Physik beginnen, das tun heutzutage nicht mehr viele.«
Eine Angestellte des Raumhafens führte Tihama und Fonyu in den Vorbereitungsraum für den Tramp-Transfer. Zuerst zog sich Fonyu aus, setze die Schlafmaske auf ihr Gesicht und stieg in die Salzlösung, die den länglichen Behälter füllte. Regungslos schwebte sie in der Flüssigkeit und die Anzeigen am Kopfende der Schlafkapsel zeigten, wie sie in Tiefschlaf fiel und sich ihr Stoffwechsel immer mehr verlangsamte. Die Angestellte klappten den Deckel herunter und schloss ihn. Fonyus Schlafmaske verband sich mit den Systemen der Kapsel und sie war bereit für den Transport.
»Jetzt Sie«, sagte die Angestellte zu Tihama. Tihama zog ihren Mantel, die Jacke, Rock, Bluse und Unterkleid aus und legte es zusammen mit Schuhen und Strümpfen in ihre Gepäcktasche. Die Angestellte setze ihr die Schlafmaske auf und fragte: »Sitzt sie richtig?«
»Ja, ich spüre sie gar nicht«, antwortete Tihama und stieg in ihre Kapsel. Sie schien frei und schwerelos in der Salzlösung zu schweben und dann war alles weg.
Teil 1 * Zu neuen Ufern!
Qalat Hosn 34 ... 35 ... 36!, zählte Tihama ab. Da war das Reisebüro mit der Leuchtreklame: Frachtversand - Tramptransfer - Passagierreisen. Im Schaufenster hing ein handgeschriebenes Schild aus Elektroplastik: 2 TRAMP! LETZTE FREIE FÄCHER NACH DRAKE'S POINT! Jetzt aber los, bevor es ihr wer anders wegschnappte! Tihama faltete ihren Regenschirm auf und rannte aus dem Unterstand quer über die Straße zum Reisebüro. Ein Windstoß fegte durch die Straße und durchnässte die rechte Seite von Tihamas Straßenanzug von der Schulter bis zu den Knöcheln. Sifft! Siff-hayy! Laut auf Arabisch und Taeni schimpfend kam sie ins Reisebüro und rief: »Ich nehme die beiden Tramptransfers nach Drake's Point!« Einen Tee, um ihre von der Begegnung mit dem Taen-Mistwetter gereizten Nerven zu beruhigen, bekam sie auch.
»Wollen Sie Taen für immer verlassen?«, fragte eine der Kooperativlerinnen, denen das Büro gehörte.
»Ich weiß nicht«, antwortete Tihama. »Auf Drake's Point gibt es jedenfalls noch massenhaft Geld und hier ...« Sie hob die Schultern. »In Kota ist nicht mehr viel los, die Männer haben kein Geld mehr.«
»Mit den Männern in Drake's Point ist das zweifellos anders«, sagte die Frau und schenkte ihr Tee nach. »Aber Taen ist die schönere Welt, trotz des Wetters. Obwohl ...« Sie schüttelte den Kopf. »Seitdem sie die Wirtschaftsbücher abgeschafft haben, geht es nur noch bergab. Also hier sind Ihre Tickets: Manal bint Tihama, Fonyu Yukawa. Normtag 23. November 2401, 20 Uhr Normzeit am Raumhafen, Abfertigung G 11.«
»Alles klar!«, sagte Tihama, faltete die Blätter aus Elektroplastik zusammen und stecke sie in eine Tasche ihres Anzugs.
»Drake's Point, wir kommen!« Fonyu hielt die Tickets in die Höhe, wedelte damit und sprang in die Luft.
Von ihrer afrikanischen Mutter hatte Fonyu die fast schwarze Hautfarbe und von ihrem japanischen Vater die schmalen Augen. Ihr Gesicht war oval und das lange und glatte, schwarz glänzende Haar fiel ihr bis zum Po. Sie hatte ihre Schwarzdiamanten angelegt und die Hänger, Ringe, Ketten und Netze waren ihre einzige Kleidung. »Auf Drake's Point kannst du darin baden«, meinte Piter, der Wirt des Tief Gesunken.
»Einer wird dir schon das Badewasser einlassen«, lachte Tihama. Sie hatte braune Haut, ein feines, dreieckiges Gesicht mit großen, dunklen Augen. Ihr schwarzes Haar schloss sich um ihren Oberkörper wie ein Schleier, der nur das Gesicht freiließ. Ihr Slip war so winzig, dass es aussah, als ob ihr Haar ihre einzige Kleidung war. ...
»Dir auch.« Fonyu fasste Tihama zwischen die nackten Schenkel. »Und wenn wir genug gepokst haben, kommen wir wieder und kaufen Piter seinen Saftladen ab.«
»Das sagen alle Pokse.« Piter lachte. »Ihr werdet einen Frisiersalon am Sommerhafen aufmachen, wenn ihr Glück habt.«
»Ach ne.« Fonyu setzte zu einer Entgegnung an, da war an der Tür Bewegung. »Wir haben ...«, begann Vilessa, doch Fonyu nickte: »Lass sie rein, die sehen nicht wie Kunden aus.«
Ein sehr junger Mann und eine ebenso junge Frau traten zögernd in den Barraum. Beide waren schlank und mittelgroß und sahen mit ihrer braunen Haut, den ebenmäßigen Gesichtern und den dunklen Augen wie Zwillinge aus. Die schulterlangen, schwarzen Haare waren bei der Frau glatt, während der Mann hübsche Locken hatte. Beide legten ihre Regenumhänge ab und bei der Frau kam darunter ein kurzer, roter Rock und ein schwarzes Top zum Vorschein. Der junge Mann trug nur rote Shorts und präsentierte seinen nackten, glatten Oberkörper.
»Wer seid ihr denn?«, fragte Fonyu und lächelte wohlwollend. »Wir feiern hier unseren Abschied von Taen. Übermorgen geht es nach Drake's Point.«
»Da fliegt ihr mit unserem Vater«, sagte der junge Mann. »Ich bin Steffa Miladera-Rohanian und sie ist meine Schwester Inai Rohanian-Miladera. Unser Vater ist Lademeister auf der Lee Burton.«
»Da hoffe ich, dass er gut auf unsere beiden Hübschen aufpasst«, meinte Piter. »Fonyu und Tihama wollen Drake's Point erobern.«
»Was trinkt ihr?«, fragte Tihama.
»Alkohol kriegen sie nicht, sind bestimmt noch keine Zwanzig!«, erklärte Piter, doch Tihama sagte: »Stell dich nicht so an, wenigstens einen Meereswein für jeden.«
»Na gut.« Der Wirt füllte zwei Schalen mit dem purpurroten Schaumwein und reichte sie den beiden. Die Frau holte ihren Fernreder hervor und fragte: »Kann ich noch jemanden holen? Eine Freundin, sie arbeitet auch auf der Lee Burton.«
»Gerne.« Fonyu lächelte. »Ich bin schon darauf gespannt, sie kennen zu lernen.«
»Uta, hier ist Inai, Inai Rohanian-Miladera«, sprach die junge Frau in den Fernreder. »Komm doch ins Tief Gesunken. Aber komm in was Schickem.« Sie hielt den Fernreder hoch und ließ seine Kamera über die Bar und ihre Gäste streichen. »Du verstehst?«
»Tanzen wir?« Ooops, die Frage galt ihm, begriff Steffa und gestellt hatte sie ein Poks, Mann oder Halbfrau. Er war schlank und braun, hatte ein schmales Gesicht und sein schwarzes Haar war zu einem weit über die Schultern reichenden runden Schopf frisiert, der bei jeder Bewegung wie ein großer Öltröpfen glänzte und schillerte.
»Ja, wir tanzen«, entschied er und schon legte er die Arme um Steffas Hüfte und zog ihn auf die Tanzfläche. Zu den sanften Klängen von Fummelmusik wiegten sie sich Arm in Arm. »Ich bin Imschi«, stellte sich der andere vor.
»Steffa. Bist du ...?« »Ja ich bin, was sonst?« Imschi lachte. »Du bist süß, wie einer von uns.«
»Danke«, sagte Steffa verlegen. »Aber ich will kein Poks werden.«
»Was denn?«
»Ich will Physik beginnen, obwohl alle sagen, dass man damit nichts werden kann.«
»Das ist doch ausgeforscht, seit wir den Durchstoßer haben.«
»Eben nicht ... ach dazu müsste man die Grundlagen kennen. Richtig verstehen das Durchstoßen nicht einmal die Raumfahrer, sagt Uta.«
Diese Uta kam und enthüllte unter ihrem Regenumhang ein Top, das wenige mehr als ein paar Fäden enthielt, welche nur den Bereich um ihre Brustwarzen blickdicht verhüllten, einen fransigen kurzen Rock und Netzstrümpfe. Plateaupumps machten sie noch größer und Piter lachte: »Du wärst ein guter Ersatz für Tihama und Fonyu.«
Uta hatte lange Arme und Beine, die sie schlaksig wirken ließen. Ihre Brüste waren klein und flach, doch der Rock spannt sich über einem prallen Hintern. Sie hatte ein markantes Gesicht mit breiter Stirn, hohen Wangenknochen und ausgeprägtem Kinn. Das lange und glatte, weißblonde Haar hob sich kaum von ihrer hellen Haut ab und große, grüne Augen waren die auffälligsten Farbtupfer in ihrem blassen Gesicht.
Interessiert betrachtete sie Tihama und Fonyu: »Ihr fliegt mit der Lee Burton?«
»Ja«, antwortete Tihama. »Auf Drake's Point ein bisschen Geld machen.«
»Und dann? Wollt ihr immer poksen?«
»Piter hat uns gesagt, mit Glück schaffen wir es, einen Frisiersalon im Sommerhafen-Viertel aufzumachen.« Tihama seufzte. »Dafür sind wir dann durch den halben Weltraum gezogen.«
Die drei Frauen tanzten zu Barrikaden-Rock mit dröhnendem »TA-HO! TA-HO!«, der die Gläser klirren ließ. Vilessa spielte danach Fummel-Blues und Uta setzte die Unterhaltung fort: »Habt ihr euch schon mal überlegt, richtig neu anzufangen?«
»Deswegen sind wir beide von der Erde nach Taen gekommen«, lachte Fonyu. »Neu war es, richtig auch, aber eben nicht 'richtig neu'. Und Drake's Point mag wegen dem Geld ganz gut sein, abern wenn dann nicht mehr bleibt als Conks zu machen ...«
»Ich habe mir sogar überlegt, zu studieren«, erzählte Tihama. »Als Pokse habe ich genug Zeit dafür, doch das ginge nur mit Wirtschaftsbuch, die Studiengebühren sind viel zu hoch. Und danach ... von den Freiern zwanzig Eurodollar mehr verlangen, weil sie eine Akademikerin poksen dürfen?«
Nach einem Brand war die Hoftreppe von Tihamas und Fonyus Wohnhaus unpassierbar. So nahmen die beiden Frauen am Tag ihrer Abreise ihren Reisesack zwischen sich und verließen ihre gemeinsame Wohnung über die Außentreppe. Nûr-Taen stieg über den Horizont, als sie durch leere Straßen zur Station der T-Tram gingen und der Gedanke, bald die beiden Sonnen von Drake's Point zu sehen, machte Tihama aufgeregt und euphorisch. Sie war von ihrem Heimatkaff am Roten Meer so weit gereist und würde noch weiter reisen!
Beschwingt stieg sie in den Tramzug und genoss das Gefühl des Unterwegs-sein.
»Fernbahnhof«, sagte die Tramführerin an. »Meine Damen, Sie müssen aussteigen. Wohin geht es denn?«
»Drake's Point!«, antwortete Fonyu. »Wo all die bunten Steine herkommen.«
»Na dann ... gute Reise!«
»Danke.«
»Werden Sie wiederkommen?«
Wie ein Blitz ging es durch Tihama und sie antwortete mechanisch: »Ja, wir werden wiederkommen.« Ihre Sinne klärten sich und sie sagte: »Also dann, auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen«, sagte die Tramführerin fröhlich. »Bringen Sie mir einen Schwarzdiamanten mit.«
»Das werde ich nicht können«, antwortete Tihama tonlos.
»Warum nicht? Die liegen da doch herum wie bei uns die Muschelsteine.«
'Weil wir nicht nach Drake's Point kommen werden', hätte Tihama fast geantwortet. Kaum waren sie aus der Tram, fragte Fonyu: »Tihama, was soll das? Natürlich können wir der Frau einen Schwarzdiamanten mitbringen, wenn wir das wollen. Vielleicht machen wir sogar einen Schmuckladen auf.«
»Wir werden nicht nach Drake's Point kommen!«
»Wieso nicht? Erzähl nichts von Fehlstößen, von denen kriegen wir in der Viehklasse sowieso nichts mit und erfahren dann hinterher, dass die Reise länger gedauert hat. Außer ...« Fonyu hielt die Hand an den Mund. »O Nein!«
»Uns wird nichts passieren, nur werden wir nicht nach Drake's Point kommen.«
»Dann brauchen wir erst gar nicht zum Raumhafen zu fahren.« Fonyu packte eine Schlaufe ihres Reisesacks und zerrte ihn hinter sich her zurück zur Tramstation. Tihama folgte ihr ... sie fand sich in Fonyus Armen wieder und Taen schien sich im Sekundentakt um sie zu drehen. »Tihama, was ist mit dir?«, fragte ihre Freundin. »Du bist doch nicht schwanger?«
»Nein«, lachte Tihama. »Schwanger nicht ... aber wir werden Kinder haben, viele Kinder.« Sie nahm eine Schlaufe des Reisesacks: »Wir müssen los, sonst fährt der Zug ohne uns ab.«
Im Magnetzug fragte Fonyu: »An was kannst du dich erinnern?«
»Ich ... ich habe mich gesehen«, erzählte Tihama. »Schon in einigen Jahren bin ich wieder hier. Vor dem Rathausplatz, am Burton-Turm. Nur etwas war total verrückt.«
»Was kann noch verrückter sein als sich an die Zukunft zu erinnern?«
»Ich habe gedacht, dass es vierhundert Jahre her war, dass ich das letzte Mal auf Taen war.«
Der Zug raste durch die Taen-Tiefebene, an Hügelland vorbei, in Tunnels und wieder heraus. Einige Male hielten sie in kleineren Städten, dann folgte auf Ackerland und Wald unberührter Landtang mit dunkelgrünen, viele Meter hohen Blättern und Stängeln. »Liebe Fahrgäste, wir nähern und Ringo's Corner«, sagte der Zugführer über die Sprechanlage an. »Dies ist unser letzter Halt vor dem Taen-Raumhafen.«
Tihama erwog, hier auszusteigen und eine Karriere als Provinzstadt-Pokse zu beginnen. Was dann wohl geschehen würde? Spaltete sich die Realität und die Erinnerung käme dann nicht aus ihrer Zukunft, sondern der einer anderen Tihama? Einer Tihama, die für eine befriedigende Zukunft ein Wagnis eingegangen war.
Der Zug hielt einige Minuten in Ringo's Corner und fuhr weiter, ohne dass Tihama mehr als einen flüchtigen Blick auf den Ort geworfen hatte. Immer höher ging es hinauf, über Schluchten und durch Berge, mitten in dicke weiße Wolkenfelder, um die Wolken endlich unter sich zu lassen und im Raumhafen zu halten.
Tihama und Fonyu zogen ihre Steppmäntel über ihre Kleider. Hier oben war es auch im Taen-Sommer nur wenig über Null Grad und der Atem bildete vor ihren Gesichtern kleine Wölkchen. An der Abfertigung G 11 gaben sie ihren Reisesack ab. Ein großer, bulliger Mann mit einem kantigen Gesicht und glatten, nach hinten gekämmten schwarzen Haaren nahm ihr Gepäck entgegen. Er trug einen Bordanzug mit der Aufschrift: »Lee Burton, Lademeister Jakob Miladera«. Er war der Vater von Steffa und Inai, der nicht wusste, dass er nie in Drake's Point ankommen würde. Fast hätte Tihama es ihm auf den Kopf zugesagt. Bei einer Todesahnung hätte sie entschieden, dass DAS in einer Parallelwelt stattfinden sollte. Doch eine Erinnerung an Zukünftiges kam nicht, so sehr sie sich auch darum bemühte.
»Ist etwas?«, fragte er. »Sie haben doch daran gedacht, nichts zu essen und zu trinken?«
»Ja, natürlich«, antwortete Tihama. »Wir haben Ihre Kinder getroffen.«
»Ja«, antwortete er. »Sie haben von der Feier erzählt. Danke, dass Sie sie eingeladen haben.«
»Gern geschehen, sie sind wirklich reizend.«
»Ja.« Jakob strahlte. »Steffa will Mathematik und Physik beginnen, das tun heutzutage nicht mehr viele.«
Eine Angestellte des Raumhafens führte Tihama und Fonyu in den Vorbereitungsraum für den Tramp-Transfer. Zuerst zog sich Fonyu aus, setze die Schlafmaske auf ihr Gesicht und stieg in die Salzlösung, die den länglichen Behälter füllte. Regungslos schwebte sie in der Flüssigkeit und die Anzeigen am Kopfende der Schlafkapsel zeigten, wie sie in Tiefschlaf fiel und sich ihr Stoffwechsel immer mehr verlangsamte. Die Angestellte klappten den Deckel herunter und schloss ihn. Fonyus Schlafmaske verband sich mit den Systemen der Kapsel und sie war bereit für den Transport.
»Jetzt Sie«, sagte die Angestellte zu Tihama. Tihama zog ihren Mantel, die Jacke, Rock, Bluse und Unterkleid aus und legte es zusammen mit Schuhen und Strümpfen in ihre Gepäcktasche. Die Angestellte setze ihr die Schlafmaske auf und fragte: »Sitzt sie richtig?«
»Ja, ich spüre sie gar nicht«, antwortete Tihama und stieg in ihre Kapsel. Sie schien frei und schwerelos in der Salzlösung zu schweben und dann war alles weg.