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Vollständige Version anzeigen : Zu spät



Gärtner
23.08.2014, 01:34
Ach, den Thomas wollte ich doch immer noch einmal anrufen... warum nicht jetzt? Geht nicht, ich hab doch diese Terminsache, da habe ich den Kopf nicht frei. Und nächste Woche? Da muß ich auf die XYZ-Messe und alle möglichen Termine abhaken.

Und so: wochenlang. Und Monate. Und natürlich habe ich nicht angerufen. "Laß uns doch noch mal um die Häuser ziehen", hatte er gesagt, "so wie damals". Damals, als er heiraten wollte und Lust hatte, mit ein paar Freunden am Vorabend der Hochzeit so richtig einen draufzumachen (damals nannte man das noch nicht "Junggesellenabschied"). Und wir redeten und soffen und sangen und lachten und haben bestimmt die eine Oma oder den anderen Touristen erschreckt, aber wir waren ganz harmlos. Denn Thomas wollte ja heiraten. Und am nächsten Morgen standen wir im Kölner Dom und die Braut war sehr schön und Thomas platzte vor Stolz und Freude und Hoffnung und ich war Trauzeuge.

Nächste Woche, da ruf ich ihn an, hat schon viel zu lang gedauert, was seine Frau wohl macht und die Kinder...

Dünn wie ein Nagel war war er vor 30 Jahren, als er plötzlich den Arbeitgeber wechseln mußte. Mit dem alten war er nicht zurechtgekommen, der hatte ihm eine Schicht nach der anderen aufgedrückt und schließlich war es Thomas zu bunt geworden und er hatte nein gesagt. Was erst in einen heftigen Disput mit dem Arbeitgeber mündete und dann in einem Aschenbecher, den Thomas nach dem Chef geworfen hatte. Danach konnte er sich seine Papiere abholen. Geschadet hat es ihm nichts, er fand beinah sofort eine neue Stelle, im alten Beruf, aber schnell stieg er auf und wurde Geschäftsführer. Seitdem nahm er stetig zu und wirkte ungeheuer seriös, staats, wie wir Kölner sagen. Wenn wir uns begrüßten, knuffte er mich trotzdem in die Seite und sagte: "Sollen wir nicht mal wieder...?". Haben wir aber nicht. Entweder hatte er keine Zeit oder ich oder wir beide nicht. Ich wollte ihn anrufen, um ihn und seine Frau endlich mal einzuladen, sonst wird ja nie was draus. Wie dieser blöde Musikerspruch "laß uns mal was zusammen machen". Soweit wollte ich es nicht kommen lassen. Ein schöner Abend, gemeinsam kochen, der gemeinsamen Leidenschaft für Italien, seiner Küche und seiner Weine frönen.

Heute morgen ist Thomas gestorben. Gestern abend hat er wohl noch gesagt, ihm sei nicht ganz wohl, drum ist er früher zu Bett gegangen. Er ist nicht mehr aufgewacht, der Herzinfarkt hat ihn im Schlaf getroffen. Er ist 53 Jahre alt geworden.




Wenn ihr Freunde habt, schon lange aus den Augen verloren: ruft sie an. Heute. Jetzt. Redet mit ihnen. Ihr wißt nicht, wie lange noch jemand diesen Anruf beantwortet.

Heinrich_Kraemer
23.08.2014, 01:54
Das ist sehr traurig und die Aufforderung irgendwie einleuchtend. 53 hier heutzutage ziemlich jung.

Aber ehrlich, was hättest Du zu ihm gesagt, wenn Du nicht wissen würdest, daß er morgen gehen muß? Oder aber im Wissen, daß er gehen hätte müssen?

Ich kann nur aus Erfahrung sagen, daß bei den wenigen, die ich bis jetzt mit unter die Erde bringen musste, das letzte Gespräch einen völlig alltäglichen Gesprächsinhalt hatte. Irgendwie auch wieder belustigend, aber auch irgendwie schockend, dämmert einem, daß man auch so enden wird wahrscheinlich.

Aber ich liebe Bayern eben sehr: Wenn man bei uns an einem Wirtshaus mit Gesellschaft vorbeikommt und reinschaut, weiß man nicht, obs eine Erstkommunion, eine Hochzeit, ein Jubiläum, oder aber eine Trauerfeier ist.

Oder wies die Urgroßmutter, nach dem Besuch der Aussegnungshalle beim Grabbesuch immer wiedermal sagte: A schene Leich.

Zudem wurde immer in den Beerdigungsverein eingezahlt, daß bei der Trauerfeier die Blasmusik die erwünschten Lieder spielte, mit Fahne.
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Ich persönlich bin im Glauben, daß man sich irgendwie wiedersieht, nach dem Tod.

Beste Grüße und Kopf hoch,

Dein HK

Herr B.
23.08.2014, 02:06
Ach, den Thomas wollte ich doch immer noch einmal anrufen... ...

Wenn ihr Freunde habt, schon lange aus den Augen verloren: ruft sie an. Heute. Jetzt. Redet mit ihnen. Ihr wißt nicht, wie lange noch jemand diesen Anruf beantwortet.
Wenn's sich nicht darum dreht irgendwelchen Groll endlich mal beizulegen, dann pressiert das wohl nicht so. Aber über ein Hallo einfach so aus dem Blauen freut sich wohl auch jeder.

Heinrich_Kraemer
23.08.2014, 02:51
Haindling bringts auch irgendwie auf den Punkt:

http://www.jukebo.de/haindling/videoclip,karussell,kvsuq.html

purple
23.08.2014, 06:29
Das tut mir sehr leid.


Ich kenn das ausm Beruf. Viele Angehörige fragen sich nach dem Tod des Bewohners, warum sie nicht öfter da waren,
sich gekümmert haben, usw.

Aber ein schlechtes Gewissen hilft keinem.
Schön ist es, daraus zu folgern und zu handeln.

Ich bin oft bei meinen Eltern, wir unternehmen auch viel zusammen.
Dennoch weiss ich, daß ich mich auch fragen werde, ob ich genug getan hab,
wenn sie einmal sterben.
Ich glaub, da gibts keine Maßeinheit.

Daraus lernen kann man nicht nur, die Mitmenschen bissel im Auge zu behalten und die
Zeit mit ihnen zu verbringen, sondern auch, daß man jeden Tag (soweit möglich) genießen sollte.

Schlummifix
23.08.2014, 06:38
Wenn ich einmal sterben muss, dann so. Einschlafen, und nicht mehr aufwachen. Gibt schlimmere Todesarten.
Außerdem hatte ich schon einige wirklich gute Träume, wo ich nachher dachte: Mist, aufgewacht.

purple
23.08.2014, 07:11
Wenn ich einmal sterben muss, dann so. Einschlafen, und nicht mehr aufwachen. Gibt schlimmere Todesarten.
Außerdem hatte ich schon einige wirklich gute Träume, wo ich nachher dachte: Mist, aufgewacht.


Das Glück ist nur wenigen Menschen beschert. In den meisten Fällen ist sterben einfach nur shice.

:schlecht:

Tutsi
24.08.2014, 15:36
Ich hatte lange Jahre eine ganz nette Internet Bekannte. Irgend wann wollten wir uns persönlich kennen lernen. Es verschob sich immer wieder. Aber 2012 sollte es klappen - Ende 2011 rief sie mich an, und bat mich, für sie zu beten. Sie hätte Krebs.

Was ich nicht wußte: sie hatte Krebs. Und das schon über viele Jahre.

Ihr Mann hatte es mir nachträglich erzählt.

Eine verpaßte Gelegenheit - oder zwei ?

Sie ging Ende 2011.

Ich hatte noch einen letzten Anruf von ihr - den ich nie löschen wollte - aus Versehen tat ich es doch.

Mütterchen
28.08.2014, 09:11
Mein Mitgefühl, lieber Gärtner.
Und meinen Dank für diesen Beitrag. Ähnliches habe ich ebenfalls schon erlebt und deswegen appelliere ich auch daran, Kontakte mit den Menschen, die einem lieb und teuer sind, auch wirklich zu pflegen. Man muss, glaube ich, einfach mehr auf das eigene Bauchgefühl achten. Die Zeit, die man mit ihnen gemeinsam hat, ist begrenzt, dessen ist man sich nur oft nicht bewusst. Aber das Herz kann es fühlen.Und deshalb sollte man wirklich spätestens dann, wenn man dieses Gefühl hat, sich dringend nochmal bei jemanden blicken zu lassen oder wenigstens dort anzurufen, dieses auch tun.

kandis
28.08.2014, 09:52
Ich hatte lange Jahre eine ganz nette Internet Bekannte. Irgend wann wollten wir uns persönlich kennen lernen. Es verschob sich immer wieder...... .

Ähnliches erlebte auch ich.......
Nach ihrer Herz-OP ging sie noch in die Reha, setzte sich nach einem Spaziergang anschliessend an ihr Laptop, schrieb ihre allerletzte email an mich..... und verstarb. :schnief:
Von ihrer Nichte wurde ich zur Beerdigung eingeladen. Ich fuhr nicht.

Wenn es bei mir einmal soweit sein sollte, fahre ich an die Küste , lasse mich dann treiben, bis ich als "Strandgut" irgendwo lande.

Tutsi
28.08.2014, 10:09
Es tut uns besonders weh, wenn man diese Menschen und ihr Schicksal kennt, was uns miteinander verbindet.

Eine andere gute Bekannte hatte ich in Naumburg einmal besucht. Sie war sehr arm, sehr tierlieb und sie sammelte in einem Ordner alles Schlimme, was man Menschen und Tieren so antut in der Welt und ich meinte zu ihr, daß sie das nicht tun solle, es wäre ja jeden Tag eine Tortour für sie.

Sie wünschte sich eine schöne Welt - eine ruhige, besinnliche und sie spendete trotz Armut, bis sie selbst nicht mehr konnte.

Ich rief sie öfter an und (sie hatte ja mal im Nebeneingang gewohnt) wußte um ihr schweres Los in dieser Welt.

Ich hatte dann zwei Träume, bei denen ich unruhig wurde. Beim zweiten Traum steckte sie ihren Kopf durch meine Tür und ich wollte im Traum gerade im Dunklen durch dien Flur gehen, um mir etwas zum Trinken zu holen und dann rief ich an. Sie meldete sich nicht. Und ich wußte, sie war nicht verreist. Da sie zwei Hunde hatte, wußte ich, daß sie zu Hause sein mußte. So rief ich am zweiten Tag noch mal an - das kam mir seltsam vor. Also rief ich unten in der Apotheke an und die Apothekerin meinte, sie hätte beim Gassigehen einen Herzinfarkt erlitten und wäre ins Koma gefallen - wo sie nicht mehr daraus erwachte, denn sie hatte alles schon vorbereitet, Patientenverfügung lag auf dem Tisch und darin stand, daß sie nicht an Schläuchen hängen wollte, nicht künstlich zum Leben gezwungen werden wollte. Von ihrem Sohn erfuhr ich, daß sie ihren "Vater" sah und sie sagte zu ihrer Schwester, daß er sie holen käme.

Sie wollte so gern wieder dahin zurück, wo auch ich gewohnt hatte, aber es hat nie geklappt. Sie mochte Naumburg nicht und ich bot ihr an, ihr zu helfen.

Ich denke noch heute an sie - an ihre Wünsche, an ihr Lachen und wie sie manchmal auch witzig sein konnte - sie sind alle weg, die wir mochten.

Klopperhorst
28.08.2014, 10:20
...
Wenn es bei mir einmal soweit sein sollte, fahre ich an die Küste , lasse mich dann treiben, bis ich als "Strandgut" irgendwo lande.

Diese romantischen Flausen werden dir nach 10 Metern schnell ausgetrieben.

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grybbl
28.08.2014, 14:44
Ich muß heute noch meine Schwiegertochter anrufen und ihr sagen,
daß ich die Geburt ihres Kindes wohl nicht mehr erleben werde.
(oder geschieht ein Wunder?)

Mütterchen
28.08.2014, 17:17
Ich muß heute noch meine Schwiegertochter anrufen und ihr sagen,
daß ich die Geburt ihres Kindes wohl nicht mehr erleben werde.
(oder geschieht ein Wunder?)

Die Geburt deines Enkelkindes! Ein triftiger Grund, am Leben zu bleiben.