Renfield
11.05.2014, 14:08
In der Kulturanthropologie und ihren Nachbarwissenschaften lassen sich in der Frage, was das Wesen des Staates ausmacht, zwei Pole identifizieren.
Am einen Pol stehen die Theorien der Integration. Demnach handelt es sich bei Gesellschaften um komplexe Systeme, die – ähnlich einem biologischen Organismus – immer auf der Suche nach der optimalen Reaktion auf Umweltbedingungen sind, was dem gesamten Organismus = allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommt. Beispiel: Wenn im alten Orient die Bevölkerung so stark wuchs, dass die herkömmlichen Methoden des Ackerbaus nicht mehr reichten und komplexe Bewässerungssysteme nötig wurden, die ganze neue Kasten von Beamten, Priestern und Königen nach sich zogen, ist das als gelungene Anpassung und Neujustierung der Gesamtgesellschaft zu verstehen. Dass sich dabei eine Oberschicht etabliert, die von der neuen Gesellschaftsstruktur überdurchschnittlich stark profitiert, ist das ein notwendiges Übel, das hinzunehmen ist.
Beispielsweise gibt es auch eine integrationistische Sicht auf den Feudalismus. Dem Feudalherren werden von den Bauern eine Reihe von Vorrechten eingeräumt, der aber im Gegenzug sein Versprechen auf militärischen Schutz vor äußeren Feinden gibt.
Auch die Wirkung der Marktwirtschaft lässt sich integrationistisch deuten: Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde das Pferd immer mehr vom Automobil verdrängt. Das geschah dadurch, dass private Unternehmen genau das anbieten konnten, was der Markt verlangte. Mit der Motorisierung wurde ein gesamtgesellschaftliches Bedürfnis befriedigt.
Am anderen Pol stehen die Konflikttheorien. Demzufolge handelt es sich bei Staaten kurz und bündig gesagt um Ausbeutungssysteme, die im Grunde genommen nur der herrschenden Schicht dienen. Ins Leben gerufen werden sie durch Unterdrückung nach innen und Eroberung nach außen. Auch wenn sich das sträflich verkürzt und revoluzzerhaft anhört, gibt es erstaunlich viele Argumente, die für diese Ansicht sprechen. Ein eher indirekter Einwand stammt von Joseph Tainter (1). Wenn Gesellschaften eher nach dem Modell des Integrationismus funktionieren sollten, müssten sie eine Art Optimierungsprozess durchlaufen haben und in der Reaktion auf Umweltbedingungen immer besser geworden sein. Dagegen sprechen aber die Legionen von Zivilisationen, die ziemlich kläglich wider von der Bildfläche verschwunden sind: Von den Maya über das römische Reich bis zu den Induszivilisationen.
Wesentlich direkter folgender Gedankengang: Dem Wirtschaftshistoriker Gregory Clark zufolge haben sich im Zeitraum vom altbabylonischen Reich bis zum Beginn der Industriellen Revolution für die breiten unteren Schichten in Hinblick auf Lebenserwartung, Ernährungszustand, Arbeitsbelastung, materiellen Besitz oder Wohnverhältnisse kaum Veränderungen ergeben (2). Zieht man dazu die Ergebnisse von Angus Maddison heran, wonach sich das britische Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt von der Antike bis zum Beginn der Industrialisierung (gemessen an der Getreideproduktion) ungefähr vervierfacht hat (3), könnte das darauf hindeuten, dass sich in diesem Zeitraum nicht nur die Produktionsmethoden, sondern auch die Ausbeutungsmechanismen verfeinert haben. Wie sonst hätte der stetig wachsende Überschuss ausschließlich bei den oberen Schichten landen können? Die Ungleichheit in der Vermögensverteilung konnte absurde Formen annehmen. In vorindustriellen Gesellschaften war es nicht untypisch, dass sich 50% des Gesamtvermögens in den Händen der 2% Reichsten konzentrierte (4).
Die Wirkungen sozialer Schichtung reichen bis in die elementare Biologie. Auch wenn es etwas bequem ist, erlaube ich mir, mich selber aus einem anderen Strang zu zitieren:
"Es gibt sogar Beispiele dafür, dass sich Kulturhöhe negativ auf die Lebensqualität der Unterschichten auswirkt. Die Germanen der Völkerwanderungszeit bildeten schlichte, dafür aber noch weitgehend egalitäre Kulturen. Skelettuntersuchungen zeigten, dass sie im Durchschnitt eine höhere Körperhöhe erreichten als Bauern und Arbeiter des Römischen Reiches – Angehörige immerhin der fortgeschrittensten Kultur ihrer Zeit. Körperhöhe kann als direkter Indikator des Ernährungszustandes während der Wachstumszeit aufgefasst werden. Genetische Unterschiede zwischen den Bevölkerungen dürften dabei kaum eine Rolle gespielt haben – denn in der anschließenden Epoche des voll entwickelten Feudalismus schrumpften die Germanen (oder sagen wir besser die Deutschen) auf altrömisches Niveau (http://www.politikforen.net/showthread.php?133684-Marxistische-Wirtschaftstheorie&p=6372688#post6372688)."
Für die Konflikttheorie spricht auch, dass in nichtfeudalistischen Gesellschaften die Arbeitsleistung in großem Umfang von Sklaven erbracht wurde. Und Sklaven hat man sicherlich nicht freundlich gefragt, ob sie Lust hätten, im Interesse der Gesamtgesellschaft ein wenig auf der Galeere zu rudern.
Nun könnte man fragen: Wenn Staaten derart ausbeuterisch sind – warum haben die Menschen das mit sich machen lassen? Die Antwort ist: Oft genug haben sie das gerade nicht. In Amerika gibt es ganze Siedlungen und Landstriche, die von Maroons, geflohenen afrikanischen Sklaven und deren Nachkommen, bewohnt werden. Allein die Bevölkerung des südamerikanischen Staates Surinam besteht zu fast 22% aus Maroons (http://de.wikipedia.org/wiki/Suriname). Reggae und Rasta-Kultur fußen in breiter Basis auf der jamaikanischen Maroon-Tradition.
Kanadische Trapper und sibirische Kosaken suchten ihr Heil in den rechtsfreien Räumen der Wildnis, wobei sie ganz neue eigene Stämme begründeten. Auch massenhafte geordnete Emigration stellt ein einziges Votum gegen die heimischen Verhältnisse dar. Allein zwischen 1848 bis zum ersten Weltkrieg sind über 6 Millionen Deutsche in die USA ausgewandert.
Auch im Inneren hat man sich immer gegen die Vereinnahmung durch die Obrigkeit gestemmt: Ganze Parallelgesellschaften der Räuber, Bettler, Schausteller und Vaganten bildeten sich aus.
Gegen Übergriffe der Landesherren gewehrt hat man sich im mittelalterlichen Deutschland mit Hilfe der Femegerichte. Und überall auf der Welt und zu jeder Zeit bildete das letzte Mittel die Revolte. Vom Sklavenaufstand unter Spartacus in der Antike über die großen Bauernkriege in England und Deutschland, den Revolten der Ludditen und der schlesischen Weber, der Revolution der Haitianer, den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 gerieten die Herrschenden und Besitzenden immer wieder in arge Bedrängnis. Wesentlich weniger bekannt als diese historischen Großereignisse sind die unzähligen lokalen Konflikte, die nahezu ununterbrochen aufflammten. Im chinesischen Kaiserreich soll es jedes Jahr zu Bauernaufständen gekommen sein, im russischen Zarenreich wurden 1467 lokale Bauernerhebungen gezählt (5).
Könnte Marx nicht vielleicht ein wenig Recht gehabt haben?
Tainter, Joseph A. (1988): The Collapse of Complex Societies. Cambridge.
Clark, Gregory (2008): A Farewell to Alms. A Brief Economic History of the World. Princeton u. Oxford.
Maddison, Angus (2007): Contours of the World Economy, 1–2030 AD. Essays in Macro-Economic History. Oxford.
Lenski, Gerhard (1970): Human Societies. New York.
Lenski, Gerhard (1977): Macht und Privileg. Frankfurt am Main.
Am einen Pol stehen die Theorien der Integration. Demnach handelt es sich bei Gesellschaften um komplexe Systeme, die – ähnlich einem biologischen Organismus – immer auf der Suche nach der optimalen Reaktion auf Umweltbedingungen sind, was dem gesamten Organismus = allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommt. Beispiel: Wenn im alten Orient die Bevölkerung so stark wuchs, dass die herkömmlichen Methoden des Ackerbaus nicht mehr reichten und komplexe Bewässerungssysteme nötig wurden, die ganze neue Kasten von Beamten, Priestern und Königen nach sich zogen, ist das als gelungene Anpassung und Neujustierung der Gesamtgesellschaft zu verstehen. Dass sich dabei eine Oberschicht etabliert, die von der neuen Gesellschaftsstruktur überdurchschnittlich stark profitiert, ist das ein notwendiges Übel, das hinzunehmen ist.
Beispielsweise gibt es auch eine integrationistische Sicht auf den Feudalismus. Dem Feudalherren werden von den Bauern eine Reihe von Vorrechten eingeräumt, der aber im Gegenzug sein Versprechen auf militärischen Schutz vor äußeren Feinden gibt.
Auch die Wirkung der Marktwirtschaft lässt sich integrationistisch deuten: Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde das Pferd immer mehr vom Automobil verdrängt. Das geschah dadurch, dass private Unternehmen genau das anbieten konnten, was der Markt verlangte. Mit der Motorisierung wurde ein gesamtgesellschaftliches Bedürfnis befriedigt.
Am anderen Pol stehen die Konflikttheorien. Demzufolge handelt es sich bei Staaten kurz und bündig gesagt um Ausbeutungssysteme, die im Grunde genommen nur der herrschenden Schicht dienen. Ins Leben gerufen werden sie durch Unterdrückung nach innen und Eroberung nach außen. Auch wenn sich das sträflich verkürzt und revoluzzerhaft anhört, gibt es erstaunlich viele Argumente, die für diese Ansicht sprechen. Ein eher indirekter Einwand stammt von Joseph Tainter (1). Wenn Gesellschaften eher nach dem Modell des Integrationismus funktionieren sollten, müssten sie eine Art Optimierungsprozess durchlaufen haben und in der Reaktion auf Umweltbedingungen immer besser geworden sein. Dagegen sprechen aber die Legionen von Zivilisationen, die ziemlich kläglich wider von der Bildfläche verschwunden sind: Von den Maya über das römische Reich bis zu den Induszivilisationen.
Wesentlich direkter folgender Gedankengang: Dem Wirtschaftshistoriker Gregory Clark zufolge haben sich im Zeitraum vom altbabylonischen Reich bis zum Beginn der Industriellen Revolution für die breiten unteren Schichten in Hinblick auf Lebenserwartung, Ernährungszustand, Arbeitsbelastung, materiellen Besitz oder Wohnverhältnisse kaum Veränderungen ergeben (2). Zieht man dazu die Ergebnisse von Angus Maddison heran, wonach sich das britische Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt von der Antike bis zum Beginn der Industrialisierung (gemessen an der Getreideproduktion) ungefähr vervierfacht hat (3), könnte das darauf hindeuten, dass sich in diesem Zeitraum nicht nur die Produktionsmethoden, sondern auch die Ausbeutungsmechanismen verfeinert haben. Wie sonst hätte der stetig wachsende Überschuss ausschließlich bei den oberen Schichten landen können? Die Ungleichheit in der Vermögensverteilung konnte absurde Formen annehmen. In vorindustriellen Gesellschaften war es nicht untypisch, dass sich 50% des Gesamtvermögens in den Händen der 2% Reichsten konzentrierte (4).
Die Wirkungen sozialer Schichtung reichen bis in die elementare Biologie. Auch wenn es etwas bequem ist, erlaube ich mir, mich selber aus einem anderen Strang zu zitieren:
"Es gibt sogar Beispiele dafür, dass sich Kulturhöhe negativ auf die Lebensqualität der Unterschichten auswirkt. Die Germanen der Völkerwanderungszeit bildeten schlichte, dafür aber noch weitgehend egalitäre Kulturen. Skelettuntersuchungen zeigten, dass sie im Durchschnitt eine höhere Körperhöhe erreichten als Bauern und Arbeiter des Römischen Reiches – Angehörige immerhin der fortgeschrittensten Kultur ihrer Zeit. Körperhöhe kann als direkter Indikator des Ernährungszustandes während der Wachstumszeit aufgefasst werden. Genetische Unterschiede zwischen den Bevölkerungen dürften dabei kaum eine Rolle gespielt haben – denn in der anschließenden Epoche des voll entwickelten Feudalismus schrumpften die Germanen (oder sagen wir besser die Deutschen) auf altrömisches Niveau (http://www.politikforen.net/showthread.php?133684-Marxistische-Wirtschaftstheorie&p=6372688#post6372688)."
Für die Konflikttheorie spricht auch, dass in nichtfeudalistischen Gesellschaften die Arbeitsleistung in großem Umfang von Sklaven erbracht wurde. Und Sklaven hat man sicherlich nicht freundlich gefragt, ob sie Lust hätten, im Interesse der Gesamtgesellschaft ein wenig auf der Galeere zu rudern.
Nun könnte man fragen: Wenn Staaten derart ausbeuterisch sind – warum haben die Menschen das mit sich machen lassen? Die Antwort ist: Oft genug haben sie das gerade nicht. In Amerika gibt es ganze Siedlungen und Landstriche, die von Maroons, geflohenen afrikanischen Sklaven und deren Nachkommen, bewohnt werden. Allein die Bevölkerung des südamerikanischen Staates Surinam besteht zu fast 22% aus Maroons (http://de.wikipedia.org/wiki/Suriname). Reggae und Rasta-Kultur fußen in breiter Basis auf der jamaikanischen Maroon-Tradition.
Kanadische Trapper und sibirische Kosaken suchten ihr Heil in den rechtsfreien Räumen der Wildnis, wobei sie ganz neue eigene Stämme begründeten. Auch massenhafte geordnete Emigration stellt ein einziges Votum gegen die heimischen Verhältnisse dar. Allein zwischen 1848 bis zum ersten Weltkrieg sind über 6 Millionen Deutsche in die USA ausgewandert.
Auch im Inneren hat man sich immer gegen die Vereinnahmung durch die Obrigkeit gestemmt: Ganze Parallelgesellschaften der Räuber, Bettler, Schausteller und Vaganten bildeten sich aus.
Gegen Übergriffe der Landesherren gewehrt hat man sich im mittelalterlichen Deutschland mit Hilfe der Femegerichte. Und überall auf der Welt und zu jeder Zeit bildete das letzte Mittel die Revolte. Vom Sklavenaufstand unter Spartacus in der Antike über die großen Bauernkriege in England und Deutschland, den Revolten der Ludditen und der schlesischen Weber, der Revolution der Haitianer, den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 gerieten die Herrschenden und Besitzenden immer wieder in arge Bedrängnis. Wesentlich weniger bekannt als diese historischen Großereignisse sind die unzähligen lokalen Konflikte, die nahezu ununterbrochen aufflammten. Im chinesischen Kaiserreich soll es jedes Jahr zu Bauernaufständen gekommen sein, im russischen Zarenreich wurden 1467 lokale Bauernerhebungen gezählt (5).
Könnte Marx nicht vielleicht ein wenig Recht gehabt haben?
Tainter, Joseph A. (1988): The Collapse of Complex Societies. Cambridge.
Clark, Gregory (2008): A Farewell to Alms. A Brief Economic History of the World. Princeton u. Oxford.
Maddison, Angus (2007): Contours of the World Economy, 1–2030 AD. Essays in Macro-Economic History. Oxford.
Lenski, Gerhard (1970): Human Societies. New York.
Lenski, Gerhard (1977): Macht und Privileg. Frankfurt am Main.