Renfield
06.12.2013, 10:32
Teil 1
Wie wurde aus einem Affen der Mensch, wie wir ihn heute kennen? Nach gängiger Sichtweise waren es die Kräfte der Natur, die unsere Vorfahren formten, ihn auf zwei Beine stellten, sein Gehirn größer werden ließen und ihn zum Werkzeugbenutzer machten. Doch seit einigen Jahrzehnten schiebt sich eine neue Theorie immer weiter in den Vordergrund, die dem Entwicklungsgeschehen einen faszinierenden Dreh verleiht: Die Gen-Kultur-Koevolution. Der zufolge hat sich der Mensch in beachtlichem Umfang selbst geschaffen – indem er sich biologisch an seine eigene kulturelle Umwelt anpasste und mit diesen evolutionären Neuerwerbungen die Möglichkeit für weitere Innovationen ins Leben rief.
Ein wichtiges Beispiel stellt der menschliche Werkzeuggebrauch dar. Der Umgang mit Werkzeugen, auch wenn es sich um einfache Steinabschläge handelt, ist mit Sicherheit nicht in unseren Genen angelegt und verlangt jahrelange Übung. Doch obwohl es sich um ein zunächst rein kulturelles Verhalten handelte, hat sich der Mensch anatomisch daran angepasst. Besonders auffällig natürlich der "opponierbare" Daumen, womit gemeint ist, dass unser Daumen stark nach innen gedreht ist und sich gegen die anderen Finger pressen lässt. Im Gegensatz zum Schimpansen, dessen Daumen eher als langer Großzeh zu denken ist, wird damit ein fein justierbarer Präzisionsgriff möglich.
Jede Hand ist anders, die eine hat lange, die andere kurze Finger, die Daumen sind unterschiedlich beweglich, Muskeln, Sehnen und Bänder weisen einen je individuellen Verlauf auf. In einem groß angelegten Experiment konnten Anthropologen nachweisen, dass die Versuchsteilnehmer, die über besonders "menschliche" Hände verfügten, gleichzeitig auch am besten mit einfachen Steinwerkzeugen umgehen konnten. Ein starkes Indiz dafür, dass sich die menschliche Hand nach Maßgabe ihrer handwerklichen Nützlichkeit entwickelt hat (1).
Wie es aussieht, reicht unsere Anpassung an die Werkzeugkultur noch wesentlich tiefer. Entwicklungspsychologische Forschungen haben gezeigt, dass Kleinkinder mehr Wissen über die Eigenschaften von unbelebten Objekten wie Gewicht, Härte oder physikalische Trägheit besitzen, als sie auf Grund ihrer beschränkten Erfahrungen eigentlich haben dürften. Es wird vermutet, dass wir uns dieses erfahrungsunabhängige Wissen vor allem durch den Werkzeuggebrauch angeeignet haben, der im Laufe der Vorgeschichte eine immer wichtigere Rolle spielte. Physikalisches Wissen ist beim Menschen demnach teilweise zu einer Art angeborenem Instinkt geronnen (2). Dazu passt auch, dass Kleinkinder über die erblich bedingte Tendenz verfügen, Gegenstände gegeneinander zu schlagen, um etwas über deren physikalische Eigenschaften zu erfahren (3).
Darüber hinaus weisen neue Experimente auf, dass es bestimmte Hirngebiete gibt, die auf die Benutzung von Werkzeugen spezialisiert sind. Nun ist beim Werkzeuggebrauch die Koordination von Hand und Auge entscheidend. Zur Überraschung der Forscher zeigte sich, dass diese Hirngebiete auch bei Blinden und Blindgeborenen aktiv sind, wenn sie sich Werkzeugarbeiten vorstellen. Diese Hirnstrukturen werden also nicht auf Grundlage von Übung und Erfahrung für diese Arbeiten in Dienst genommen, sondern sind von vornherein – genetisch gesteuert – für diese Tätigkeiten vorgesehen (4).
Lassen wir den Prozess noch einmal Revue passieren: Wenn die frühen Vormenschen über eine primitive Werkzeugkultur verfügten, hatten die Individuen einen Selektionsvorteil, die am geschicktesten mit Werkzeugen umgehen konnten. Dadurch verfeinerte sich die Werkzeugherstellung im Laufe der Zeit. Gleichzeitig wurde die Fähigkeit zum Werkzeuggebrauch immer wichtiger und immer stärker positiv selektioniert. Vieles spricht dafür, dass sich dieses Modell auf viele andere körperliche, psychische und kulturelle Erscheinungen ausdehnen lässt.
Vielleicht noch erstaunlicher sind unsere Fähigkeiten in Bezug auf eine sehr spezielle Art von Werkzeugen. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das gleichzeitig weit, schnell und präzise werfen kann. Sogar unser nächster Verwandter, der Schimpanse, ist ein geradezu erbärmlicher Werfer, obwohl er über bemerkenswerte Körperkräfte verfügt (früher einmal fand ich Schimpansen ziemlich niedlich. Seitdem ich im Anatomiekurs ihre Schädel einschließlich des Gebisses begutachten und im Gehege beobachten durfte, wie sich beim Klimmzug am Kletterbaum unter dem schütteren Fell Bizeps und Unterarmmuskeln strafften, sind sie mir eher unheimlich).
Vor ungefähr zwei Millionen Jahren traten beim Menschen gewisse Veränderungen am Schulterblatt, dem Oberarm und der Lage der Schultermuskulatur auf, die einen kräftigen, explosionsartigen Wurf ermöglichten. Mit dem Einsatz von Steinen, Wurfhölzern und Speeren konnte das Angebot von Jagdwild erheblich erweitert werden. Unter anderem dadurch, dass man große gefährliche Jagdtiere aus der Distanz heraus verfolgen konnte. Genauso waren Wurfgeschosse sicherlich sehr nützlich, um Löwen, Leoparden und andere Raubtiere auf Abstand zu halten (5).
Ein Kapitel mit vielen Fragezeichen stellt die sexuelle Scham dar – die Abneigung, sich der Öffentlichkeit völlig nackt zu präsentieren. Eine wahre Titanenarbeit bei der Untersuchung dieses Themas hat der Ethnologe Hans Peter Duerr mit seinen Büchern geleistet. Allein sein Werk "Intimität" (6) kommt auf ungefähr zweitausend Einträge im Literaturverzeichnis. Anhand dieser Überfülle ethnografischen und kulturhistorischen Materials führt er den Nachweis, dass es in allen Kulturen und zu allen Zeiten Schamverhalten gab und dass demonstrative Nacktheit oder öffentlicher Sex durchaus verpönt waren.
Natürlich sei hier gleich eingeräumt, dass sich dieses Schamverhalten kulturell auf sehr unterschiedliche Art ausdrücken kann. Es gibt ostafrikanische Kulturen, die das Verbergen weiblicher Beine bis hin zu den Knöcheln zwingend vorschreiben. Doch während die Damen in den wallenden Kleidern die westliche Mode der kurzen Röcke durchaus als "shocking" empfinden mögen, nehmen sie und ihre Umgebung nicht den geringsten Anstoß daran, dass sie sich mit nackter Brust in der Öffentlichkeit bewegen.
Und dennoch: In irgendeiner Form ist Schamverhalten in jeder einzelnen Kultur anzutreffen. Das spricht dafür, dass es sich um eine genetisch verankerte Verhaltenstendenz handelt. Genauso wie das Verbergen des Koitus wird dieses Unsichtbarmachen der Geschlechtsteile als Strategie gedeutet, sexuelle Rivalitäten einzudämmen (7).
Der entscheidende Punkt aber ist: Welchen Sinn hätte Schamhaftigkeit, wenn es keine Kleider gäbe? Wann Menschen überhaupt begonnen haben, sich Kleidung zu fertigen, liegt im Dunkeln. Gewisse Gründe sprechen dafür, dass dieser Zeitpunkt vor ungefähr 500.000 Jahren lag (8) – was evolutionär ein ziemlich spätes Datum darstellen würde. Doch sei’s drum: Die Fakten sprechen dafür, dass sich seit dieser Zeit ein evolutionäres Zusammenspiel zwischen Kleiderherstellung und körperlicher Scham etabliert hat.
1) http://www.sciencedaily.com/releases/2011/03/110307101504.htm
2) Mithen, Steven (1998): The Prehistory of the Mind. London.
3) Range, Friederike (2009): Wie denken Tiere? Wien.
4) Tool manipulation is represented similarly in the brains of the blind and the sighted. http://www.eurekalert.org/pub_releases/2010-06/afps-tmi062310.php
5) http://cashp.gwu.edu/ntroach/the-evolution-of-throwing/ (http://cashp.gwu.edu/ntroach/the-evolution-of-throwing/)
6) Duerr, Hans Peter (1990): Intimität. Der Mythos vom Zivilisations*prozess. Frankfurt am Main.
7) Diamond, Jared (2002): Der dritte Schimpanse. Frankfurt am Main.
8) http://web.archive.org/web/20070304054636/http:/*/www.sciencenews.org*/articles/20030823/fob7.asp
Wie wurde aus einem Affen der Mensch, wie wir ihn heute kennen? Nach gängiger Sichtweise waren es die Kräfte der Natur, die unsere Vorfahren formten, ihn auf zwei Beine stellten, sein Gehirn größer werden ließen und ihn zum Werkzeugbenutzer machten. Doch seit einigen Jahrzehnten schiebt sich eine neue Theorie immer weiter in den Vordergrund, die dem Entwicklungsgeschehen einen faszinierenden Dreh verleiht: Die Gen-Kultur-Koevolution. Der zufolge hat sich der Mensch in beachtlichem Umfang selbst geschaffen – indem er sich biologisch an seine eigene kulturelle Umwelt anpasste und mit diesen evolutionären Neuerwerbungen die Möglichkeit für weitere Innovationen ins Leben rief.
Ein wichtiges Beispiel stellt der menschliche Werkzeuggebrauch dar. Der Umgang mit Werkzeugen, auch wenn es sich um einfache Steinabschläge handelt, ist mit Sicherheit nicht in unseren Genen angelegt und verlangt jahrelange Übung. Doch obwohl es sich um ein zunächst rein kulturelles Verhalten handelte, hat sich der Mensch anatomisch daran angepasst. Besonders auffällig natürlich der "opponierbare" Daumen, womit gemeint ist, dass unser Daumen stark nach innen gedreht ist und sich gegen die anderen Finger pressen lässt. Im Gegensatz zum Schimpansen, dessen Daumen eher als langer Großzeh zu denken ist, wird damit ein fein justierbarer Präzisionsgriff möglich.
Jede Hand ist anders, die eine hat lange, die andere kurze Finger, die Daumen sind unterschiedlich beweglich, Muskeln, Sehnen und Bänder weisen einen je individuellen Verlauf auf. In einem groß angelegten Experiment konnten Anthropologen nachweisen, dass die Versuchsteilnehmer, die über besonders "menschliche" Hände verfügten, gleichzeitig auch am besten mit einfachen Steinwerkzeugen umgehen konnten. Ein starkes Indiz dafür, dass sich die menschliche Hand nach Maßgabe ihrer handwerklichen Nützlichkeit entwickelt hat (1).
Wie es aussieht, reicht unsere Anpassung an die Werkzeugkultur noch wesentlich tiefer. Entwicklungspsychologische Forschungen haben gezeigt, dass Kleinkinder mehr Wissen über die Eigenschaften von unbelebten Objekten wie Gewicht, Härte oder physikalische Trägheit besitzen, als sie auf Grund ihrer beschränkten Erfahrungen eigentlich haben dürften. Es wird vermutet, dass wir uns dieses erfahrungsunabhängige Wissen vor allem durch den Werkzeuggebrauch angeeignet haben, der im Laufe der Vorgeschichte eine immer wichtigere Rolle spielte. Physikalisches Wissen ist beim Menschen demnach teilweise zu einer Art angeborenem Instinkt geronnen (2). Dazu passt auch, dass Kleinkinder über die erblich bedingte Tendenz verfügen, Gegenstände gegeneinander zu schlagen, um etwas über deren physikalische Eigenschaften zu erfahren (3).
Darüber hinaus weisen neue Experimente auf, dass es bestimmte Hirngebiete gibt, die auf die Benutzung von Werkzeugen spezialisiert sind. Nun ist beim Werkzeuggebrauch die Koordination von Hand und Auge entscheidend. Zur Überraschung der Forscher zeigte sich, dass diese Hirngebiete auch bei Blinden und Blindgeborenen aktiv sind, wenn sie sich Werkzeugarbeiten vorstellen. Diese Hirnstrukturen werden also nicht auf Grundlage von Übung und Erfahrung für diese Arbeiten in Dienst genommen, sondern sind von vornherein – genetisch gesteuert – für diese Tätigkeiten vorgesehen (4).
Lassen wir den Prozess noch einmal Revue passieren: Wenn die frühen Vormenschen über eine primitive Werkzeugkultur verfügten, hatten die Individuen einen Selektionsvorteil, die am geschicktesten mit Werkzeugen umgehen konnten. Dadurch verfeinerte sich die Werkzeugherstellung im Laufe der Zeit. Gleichzeitig wurde die Fähigkeit zum Werkzeuggebrauch immer wichtiger und immer stärker positiv selektioniert. Vieles spricht dafür, dass sich dieses Modell auf viele andere körperliche, psychische und kulturelle Erscheinungen ausdehnen lässt.
Vielleicht noch erstaunlicher sind unsere Fähigkeiten in Bezug auf eine sehr spezielle Art von Werkzeugen. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das gleichzeitig weit, schnell und präzise werfen kann. Sogar unser nächster Verwandter, der Schimpanse, ist ein geradezu erbärmlicher Werfer, obwohl er über bemerkenswerte Körperkräfte verfügt (früher einmal fand ich Schimpansen ziemlich niedlich. Seitdem ich im Anatomiekurs ihre Schädel einschließlich des Gebisses begutachten und im Gehege beobachten durfte, wie sich beim Klimmzug am Kletterbaum unter dem schütteren Fell Bizeps und Unterarmmuskeln strafften, sind sie mir eher unheimlich).
Vor ungefähr zwei Millionen Jahren traten beim Menschen gewisse Veränderungen am Schulterblatt, dem Oberarm und der Lage der Schultermuskulatur auf, die einen kräftigen, explosionsartigen Wurf ermöglichten. Mit dem Einsatz von Steinen, Wurfhölzern und Speeren konnte das Angebot von Jagdwild erheblich erweitert werden. Unter anderem dadurch, dass man große gefährliche Jagdtiere aus der Distanz heraus verfolgen konnte. Genauso waren Wurfgeschosse sicherlich sehr nützlich, um Löwen, Leoparden und andere Raubtiere auf Abstand zu halten (5).
Ein Kapitel mit vielen Fragezeichen stellt die sexuelle Scham dar – die Abneigung, sich der Öffentlichkeit völlig nackt zu präsentieren. Eine wahre Titanenarbeit bei der Untersuchung dieses Themas hat der Ethnologe Hans Peter Duerr mit seinen Büchern geleistet. Allein sein Werk "Intimität" (6) kommt auf ungefähr zweitausend Einträge im Literaturverzeichnis. Anhand dieser Überfülle ethnografischen und kulturhistorischen Materials führt er den Nachweis, dass es in allen Kulturen und zu allen Zeiten Schamverhalten gab und dass demonstrative Nacktheit oder öffentlicher Sex durchaus verpönt waren.
Natürlich sei hier gleich eingeräumt, dass sich dieses Schamverhalten kulturell auf sehr unterschiedliche Art ausdrücken kann. Es gibt ostafrikanische Kulturen, die das Verbergen weiblicher Beine bis hin zu den Knöcheln zwingend vorschreiben. Doch während die Damen in den wallenden Kleidern die westliche Mode der kurzen Röcke durchaus als "shocking" empfinden mögen, nehmen sie und ihre Umgebung nicht den geringsten Anstoß daran, dass sie sich mit nackter Brust in der Öffentlichkeit bewegen.
Und dennoch: In irgendeiner Form ist Schamverhalten in jeder einzelnen Kultur anzutreffen. Das spricht dafür, dass es sich um eine genetisch verankerte Verhaltenstendenz handelt. Genauso wie das Verbergen des Koitus wird dieses Unsichtbarmachen der Geschlechtsteile als Strategie gedeutet, sexuelle Rivalitäten einzudämmen (7).
Der entscheidende Punkt aber ist: Welchen Sinn hätte Schamhaftigkeit, wenn es keine Kleider gäbe? Wann Menschen überhaupt begonnen haben, sich Kleidung zu fertigen, liegt im Dunkeln. Gewisse Gründe sprechen dafür, dass dieser Zeitpunkt vor ungefähr 500.000 Jahren lag (8) – was evolutionär ein ziemlich spätes Datum darstellen würde. Doch sei’s drum: Die Fakten sprechen dafür, dass sich seit dieser Zeit ein evolutionäres Zusammenspiel zwischen Kleiderherstellung und körperlicher Scham etabliert hat.
1) http://www.sciencedaily.com/releases/2011/03/110307101504.htm
2) Mithen, Steven (1998): The Prehistory of the Mind. London.
3) Range, Friederike (2009): Wie denken Tiere? Wien.
4) Tool manipulation is represented similarly in the brains of the blind and the sighted. http://www.eurekalert.org/pub_releases/2010-06/afps-tmi062310.php
5) http://cashp.gwu.edu/ntroach/the-evolution-of-throwing/ (http://cashp.gwu.edu/ntroach/the-evolution-of-throwing/)
6) Duerr, Hans Peter (1990): Intimität. Der Mythos vom Zivilisations*prozess. Frankfurt am Main.
7) Diamond, Jared (2002): Der dritte Schimpanse. Frankfurt am Main.
8) http://web.archive.org/web/20070304054636/http:/*/www.sciencenews.org*/articles/20030823/fob7.asp