jack000
31.03.2013, 20:44
Die Sonne hat es schwer bei den Melzigs. Die Fenster sind verschmiert, die Jalousien heruntergelassen, und Bernd Melzig sitzt in einer Wolke aus Zigarettenrauch. Er reibt sich die Augen. „Schlecht geschlafen“, sagt er. Heute Nacht sei sein vierjähriger Sohn Manni zu ihm aufs Sofa gekrochen. „Er hat mir seine Kackwindel ins Gesicht geschmiert.“ Bernd Melzig, 39, ein gealterter Junge mit Falten um den Mund, grinst schief. „Danach konnte ich nicht mehr einschlafen.“
Jetzt sitzt Manni auf dem Schoß des Vaters, sein Kopf liegt in der Armbeuge. Bernd Melzig wiegt ihn, beugt sich nach unten und küsst Manni auf die Backe. „Na du, mein Baby? Vielleicht war der Horrorfilm doch nichts für dich?“
„Was?“ Die Familienhelferin, die gerade zu Besuch ist, dreht sich um.
„Ich hab gestern ,The Hole‘ angeschaut, super Film. Manni wollte immer mitschauen. Der versteht das ja noch nicht, so ein Psychothriller, den muss man kapieren.“
Manni ist das kleinste der Melzig-Kinder. Er hat drei Brüder und eine Schwester, die Kinder sind 7, 9, 14 und 16 Jahre alt. Die Familie hat Ärger mit dem Jugendamt seit Jessy, die Älteste, noch ein Kleinkind war. Damals klaute sie nachts mit ihren Eltern Essen aus den Mülltonnen der Nachbarn.
Sebastian Hardenstein, der Sachbearbeiter des Jugendamtes, nennt den Ort, an dem die Kinder leben, einen „ex*trem verwahrlosten Haushalt“.
...
Nur so viel: der Ort liegt im Osten Deutschlands. Dass die Kinder bei ihren Eltern aufwachsen dürfen, obwohl so ziemlich alles dagegensprach, haben sie Hardenstein zu verdanken. Oder: er ist schuld daran. Das kommt auf den Blickwinkel an.
...
Als die Tür aufging, kam ihm der Geruch von Schweiß und Rauch entgegen. In der Wohnung gelbe Flecken an den Wänden und schwarz-verschmiertes Sofapolster. Aber er lernte dort auch Bernd und Silke Melzig kennen, die Eltern. Hardenstein hatte gleich so ein Gefühl – mit denen kann man arbeiten, dachte er. Eine Herausforderung, aber keine, die hoffnungslos wäre.
...
Als Kinder wurden Bernd und Silke Melzig „fremduntergebracht“, wie es in der Amtssprache heißt, aus der Umgebung geholt, die ihre Entwicklung schädigte. Dennoch kam ihnen die Ordnung im Leben abhanden. Bei Bernd Melzig war es der Mauerfall. Er hatte eine Lehre als Viehwirt begonnen, dann wurde sein Betrieb geschlossen und er arbeitslos. Dazu kamen die Drogen, hauptsächlich Marihuana, aber auch vieles andere. Er heiratete in dieser Zeit. Seine Frau Silke versank in Depressionen, schlief manchmal 16 Stunden am Tag. Sie vergaßen den Haushalt, das Aufräumen, Putzen. Irgendwann kamen die Kinder, die im Dreck aufwuchsen, an den sich ihre Eltern längst gewöhnt hatten.
...
Insgesamt bekommt die Familie dreißig Stunden Unterstützung pro Woche.
...
Aber eigentlich ist das schlecht. Die Familie wird so immer unselbstständiger. Man könnte auch sagen: Das Jugendamt erhält das System.
...
„Die Liebe der Eltern ist eine unschätzbare Ressource“, sagt Hardenstein. Er ringt nach Worten, wenn man ihn direkt fragt, ob sich die Kinder in einem Heim besser entwickeln würden. „Allein die Frage hat schon etwas Übergriffiges“, sagt er. Auch wenn die Eltern massive Schwierigkeiten hätten, die Grundversorgung ihrer Kinder zuverlässig zu gewährleisten, so seien sie immer noch die Bezugspersonen, an denen die Kinder wachsen würden. „Es ist nicht optimal“, sagt Hardenstein. „Es ist alles andere als optimal, aber es ist von den möglichen noch die beste Lösung.
...
Das installierte Netz ist aufwendig: familienunterstützende Hilfe, sozialpädagogische Familienhilfe, ein Plan, der alles regelt, alle paar Wochen ein Helfertreffen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Es läuft ganz gut bei den Melzigs. Ganz gut heißt, dass mal jemand spült, die Kleinen in die Kita gehen und Silke Melzig wieder aus der Psychiatrie zurück ist. Es heißt aber auch, dass die Kinder kotzen, weil der Heringssalat schon lange abgelaufen ist und die Wohnung nach Verwesung riecht, weil die Kinder den Stecker zur Gefriertruhe gezogen haben und das monatelang keiner bemerkt hat.
...
Die Unterstützung hat ihren Preis, aber verglichen mit einem Heim ist sie billig. Ein Heim kostet im Durchschnitt 150 Euro am Tag, pro Kind. Für Familie Melzig wären das 270 000 Euro im Jahr. Ein Familienhelfer berechnet rund 30 Euro pro Stunde, bei den Melzigs kostet das jährlich 43 200 Euro.
...
„Unser Ziel für die Melzig-Kinder ist“, sagt Hardenstein, „dass eines von ihnen später nicht mit dem Jugendamt zu tun hat.“ So ein Satz kann nach Verzweiflung klingen oder nach Hoffnung. Das kommt auf den Blickwinkel an.
http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.familienhilfe-als-korsett-zu-hause-bei-den-melzigs.9cdabb6e-5e7d-4998-a536-c5d5f4a40881.html
Der aktuelle Zustand wird schon als Fortschritt beschrieben. Kann das aber so sein? Was muss getan werden, damit asoziale Familien nicht ohne Einschränkung schalten und walten können wie sie wollen?
Jetzt sitzt Manni auf dem Schoß des Vaters, sein Kopf liegt in der Armbeuge. Bernd Melzig wiegt ihn, beugt sich nach unten und küsst Manni auf die Backe. „Na du, mein Baby? Vielleicht war der Horrorfilm doch nichts für dich?“
„Was?“ Die Familienhelferin, die gerade zu Besuch ist, dreht sich um.
„Ich hab gestern ,The Hole‘ angeschaut, super Film. Manni wollte immer mitschauen. Der versteht das ja noch nicht, so ein Psychothriller, den muss man kapieren.“
Manni ist das kleinste der Melzig-Kinder. Er hat drei Brüder und eine Schwester, die Kinder sind 7, 9, 14 und 16 Jahre alt. Die Familie hat Ärger mit dem Jugendamt seit Jessy, die Älteste, noch ein Kleinkind war. Damals klaute sie nachts mit ihren Eltern Essen aus den Mülltonnen der Nachbarn.
Sebastian Hardenstein, der Sachbearbeiter des Jugendamtes, nennt den Ort, an dem die Kinder leben, einen „ex*trem verwahrlosten Haushalt“.
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Nur so viel: der Ort liegt im Osten Deutschlands. Dass die Kinder bei ihren Eltern aufwachsen dürfen, obwohl so ziemlich alles dagegensprach, haben sie Hardenstein zu verdanken. Oder: er ist schuld daran. Das kommt auf den Blickwinkel an.
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Als die Tür aufging, kam ihm der Geruch von Schweiß und Rauch entgegen. In der Wohnung gelbe Flecken an den Wänden und schwarz-verschmiertes Sofapolster. Aber er lernte dort auch Bernd und Silke Melzig kennen, die Eltern. Hardenstein hatte gleich so ein Gefühl – mit denen kann man arbeiten, dachte er. Eine Herausforderung, aber keine, die hoffnungslos wäre.
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Als Kinder wurden Bernd und Silke Melzig „fremduntergebracht“, wie es in der Amtssprache heißt, aus der Umgebung geholt, die ihre Entwicklung schädigte. Dennoch kam ihnen die Ordnung im Leben abhanden. Bei Bernd Melzig war es der Mauerfall. Er hatte eine Lehre als Viehwirt begonnen, dann wurde sein Betrieb geschlossen und er arbeitslos. Dazu kamen die Drogen, hauptsächlich Marihuana, aber auch vieles andere. Er heiratete in dieser Zeit. Seine Frau Silke versank in Depressionen, schlief manchmal 16 Stunden am Tag. Sie vergaßen den Haushalt, das Aufräumen, Putzen. Irgendwann kamen die Kinder, die im Dreck aufwuchsen, an den sich ihre Eltern längst gewöhnt hatten.
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Insgesamt bekommt die Familie dreißig Stunden Unterstützung pro Woche.
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Aber eigentlich ist das schlecht. Die Familie wird so immer unselbstständiger. Man könnte auch sagen: Das Jugendamt erhält das System.
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„Die Liebe der Eltern ist eine unschätzbare Ressource“, sagt Hardenstein. Er ringt nach Worten, wenn man ihn direkt fragt, ob sich die Kinder in einem Heim besser entwickeln würden. „Allein die Frage hat schon etwas Übergriffiges“, sagt er. Auch wenn die Eltern massive Schwierigkeiten hätten, die Grundversorgung ihrer Kinder zuverlässig zu gewährleisten, so seien sie immer noch die Bezugspersonen, an denen die Kinder wachsen würden. „Es ist nicht optimal“, sagt Hardenstein. „Es ist alles andere als optimal, aber es ist von den möglichen noch die beste Lösung.
...
Das installierte Netz ist aufwendig: familienunterstützende Hilfe, sozialpädagogische Familienhilfe, ein Plan, der alles regelt, alle paar Wochen ein Helfertreffen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Es läuft ganz gut bei den Melzigs. Ganz gut heißt, dass mal jemand spült, die Kleinen in die Kita gehen und Silke Melzig wieder aus der Psychiatrie zurück ist. Es heißt aber auch, dass die Kinder kotzen, weil der Heringssalat schon lange abgelaufen ist und die Wohnung nach Verwesung riecht, weil die Kinder den Stecker zur Gefriertruhe gezogen haben und das monatelang keiner bemerkt hat.
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Die Unterstützung hat ihren Preis, aber verglichen mit einem Heim ist sie billig. Ein Heim kostet im Durchschnitt 150 Euro am Tag, pro Kind. Für Familie Melzig wären das 270 000 Euro im Jahr. Ein Familienhelfer berechnet rund 30 Euro pro Stunde, bei den Melzigs kostet das jährlich 43 200 Euro.
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„Unser Ziel für die Melzig-Kinder ist“, sagt Hardenstein, „dass eines von ihnen später nicht mit dem Jugendamt zu tun hat.“ So ein Satz kann nach Verzweiflung klingen oder nach Hoffnung. Das kommt auf den Blickwinkel an.
http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.familienhilfe-als-korsett-zu-hause-bei-den-melzigs.9cdabb6e-5e7d-4998-a536-c5d5f4a40881.html
Der aktuelle Zustand wird schon als Fortschritt beschrieben. Kann das aber so sein? Was muss getan werden, damit asoziale Familien nicht ohne Einschränkung schalten und walten können wie sie wollen?