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Vollständige Version anzeigen : Die Urheimat der Indogermanen liegt wahrscheinlich nicht in der Türkei



Quetzalcoatl
11.11.2012, 13:29
Hallo Leute,

vor einiger Zeit gab es ja in den Medien zahlreiche Berichte, die plakativ behaupteten, dass das Deutsche aus der Türkei stamme. Anders als viele andere User, die die Meldung völlig unkritisch ins Forum gepostet haben, sind mir zwei Dinge aufgefallen, die mich als Master-Studenten direkt skeptisch gemacht haben.

Die erste Ungereimtheit ergibt sich aus der Biographie von Dr. Quentin Atkinson. Eigentlich sollte man meinen, dass Sprachgeschichte hauptsächlich ein Gebiet innerhalb der Linguistik ist. Wie man diversen Seiten (z.B. http://www.psych.auckland.ac.nz/uoa/quentin-atkinson/) jedoch entnehmen kann, hatte sich Atkinson in seinem Leben wohl hauptsächlich mit Psychologie beschäftigt, bevor er drei Jahre lang am "Institut für kognitive und evolutionäre Anthropologie" arbeitete. Noch mehr Skepsis erzeugte bei mir jedoch die Behauptung, dass die "jahrzehntelange Streitfrage" jetzt beendet und seine Anatolien-Theorie bewiesen sei. So etwas gibt es in der Wissenschaft nicht. Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass fast jeder seine eigenen Thesen hat und diese zu belegen bzw. andere Thesen zu überprüfen versucht. Kein seriöser Wissenschaftler, der etwas von sich hält, würde je von sich behaupten, etwas "bewiesen" zu haben - als "bewiesen" gilt eine These erst dann, wenn sie von der großen Mehrheit der Fachwelt anerkannt wird und das ist hier nicht der Fall.

Nicht überraschenderweise bin ich mit meiner Skepsis nicht allein. Auch auf belleslettres.eu (die Seite dürfte inzwischen einigen hier sehr bekannt sein) gibt es ein Video-Tutorial, wo nicht nur meine Einwände ausführlich dargelegt werden (und ich kann euch versichern, dass ich meine Kritikpunkte nicht von Daniel Scholten übernommen habe, sondern noch vor dem Upload des Tutorials ähnliche Schlüsse gezogen habe), sondern noch viele Weitere Aspekte diskutiert werden, an die ich nicht gedacht habe.

Der Grund, dass ich diesen Thread aufgemacht habe, besteht darin, dass ich die Anatolien-These für ziemlich haltlosen Bullshit halte und die User, die diese These (wie auch gestern) weiterhin verbreiten, auf das Tutorial aufmerksam machen wollte. Schaut es euch einfach an (der Typ ist wesentlich eloquenter und kompetenter als ich) und bildet euch eure Meinung ;)

http://www.belleslettres.eu/artikel/urheimat-indogermanen-science-atkinson.php

Durkheim
11.11.2012, 13:38
Die Urheimat der Indogermanen liegt im zentralasiatischen Altai. Selbstverständlich spielt auch Anatolien eine sehr wichtige Rolle bei der Verbreitung des Indogermanischen, aber die Wurzeln und Ursprung sind in Zentralasien.

Sprecher
11.11.2012, 13:42
Die Urheimat der Indogermanen liegt im zentralasiatischen Altai. Selbstverständlich spielt auch Anatolien eine sehr wichtige Rolle bei der Verbreitung des Indogermanischen, aber die Wurzeln und Ursprung sind in Zentralasien.

In einem tundrenartigen Gebiet in dem es jeden Winter 50 grad unter null hat und wo kaum was wächst geschweige denn Landwirtschaft möglich ist? Scheint mir äußerst unwahrscheinlich.

dZUG
11.11.2012, 13:42
Die Deutschen sind schon 3.000 bis 2.500 Jahren da, wo sie jetzt sind. :-)
eher 2.500 Jahre, so genau kann man es nicht sagen.

PS: hehehehehe

Valdyn
11.11.2012, 13:46
In einem tundrenartigen Gebiet in dem es jeden Winter 50 grad unter null hat und wo kaum was wächst geschweige denn Landwirtschaft möglich ist? Scheint mir äußerst unwahrscheinlich.

Ich verstehe ohnehin nicht wie man das immer mit Gewissheit so sagen kann. Letztlich ist es doch nur unbewiesene Theorie und daher reiner Glaube. Nehmen wir mal einmal an, man fünde plötzlich menschliche Überreste von den heute so definierten Indogermanen in meinetwegen Island die sich viel weiter zurückdatieren lassen, als die in Zentralasien. Und plötzlich stimmt alles vorne und hinten nicht mehr.

Sprecher
11.11.2012, 14:32
Ich verstehe ohnehin nicht wie man das immer mit Gewissheit so sagen kann. Letztlich ist es doch nur unbewiesene Theorie und daher reiner Glaube. Nehmen wir mal einmal an, man fünde plötzlich menschliche Überreste von den heute so definierten Indogermanen in meinetwegen Island die sich viel weiter zurückdatieren lassen, als die in Zentralasien. Und plötzlich stimmt alles vorne und hinten nicht mehr.

Gerade die Anthropologie ist eine Wissenschaft die stark vom jeweils herrschenden Zeitgeist abhängig ist. Aus diesem Grunde wird ja auch die "out of Africa"-Theorie so vehement verteidigt.

Shahirrim
11.11.2012, 14:36
Die Deutschen sind schon 3.000 bis 2.500 Jahren da, wo sie jetzt sind. :-)
eher 2.500 Jahre, so genau kann man es nicht sagen.

PS: hehehehehe

Vielleicht sogar schon seit 4000 Jahren!

http://de.wikipedia.org/wiki/Trebeta

Ausonius
11.11.2012, 15:18
Vielleicht sogar schon seit 4000 Jahren!

http://de.wikipedia.org/wiki/Trebeta

Dass der sagenhafte Trebeta auf keinen Fall ein Deutscher war, müsste selbst dir einleuchten!

Ausonius
11.11.2012, 15:22
Es gibt nicht "die" indogermanische/indoeuropäische Urheimat. Man weiß so gut wie gar nichts über die Sprachwandlung in der späten Jungsteinzeit. Man kann nicht sagen, ob es ein "indogermanisch/indoeuropäisches" Urvolk gab (sehr unwahrscheinlich), ob es derer viele waren, oder ob sich einfach die Sprachen weiter verbreiteten.

Durkheim
11.11.2012, 15:39
In einem tundrenartigen Gebiet in dem es jeden Winter 50 grad unter null hat und wo kaum was wächst geschweige denn Landwirtschaft möglich ist? Scheint mir äußerst unwahrscheinlich.
Altai ist ein ziemlich grosses Gebiet. Grosse Teile des Altai sehen übrigens so aus und unterscheiden sich kaum vom Alpengebiet. Schau Dir den Altai genau an, da lässt es sich durchaus gut leben:
https://www.google.de/search?q=altai&oe=utf-8&aq=t&rls=org.mozilla:en-US:official&client=firefox-a&um=1&ie=UTF-8&hl=de&tbm=isch&source=og&sa=N&tab=wi&ei=R8afUN_1DJHOsgb43IHgCw&biw=1760&bih=864&sei=ZMafUPSqFMXAtAbP7IDYDg

Sprecher
11.11.2012, 15:43
Altai ist ein ziemlich grosses Gebiet. Grosse Teile des Altai sehen übrigens so aus und unterscheiden sich kaum vom Alpengebiet. Schau Dir den Altai genau an, da lässt es sich durchaus gut leben:
https://www.google.de/search?q=altai&oe=utf-8&aq=t&rls=org.mozilla:en-US:official&client=firefox-a&um=1&ie=UTF-8&hl=de&tbm=isch&source=og&sa=N&tab=wi&ei=R8afUN_1DJHOsgb43IHgCw&biw=1760&bih=864&sei=ZMafUPSqFMXAtAbP7IDYDg

Die Winter sind aber sehr viel kälter als in den Alpen. Landwirtschaft dürfte dort praktisch unmöglich sein, selbst in den Alpen ist Ackerbau ja nur in den tiefsten Tälern möglich.

Durkheim
12.11.2012, 08:20
Die Winter sind aber sehr viel kälter als in den Alpen. Landwirtschaft dürfte dort praktisch unmöglich sein, selbst in den Alpen ist Ackerbau ja nur in den tiefsten Tälern möglich.
Die Indogermanen in dem Gebiet haben auch keine Landwirtschaft betrieben, sondern waren Nomaden und lebten eher von Viehzucht. Das war bei den Germanen in Europa später immer noch so, dass sie keine Landwirtschaft betrieben, sondern Nomaden waren und von der Jagd und Viehzucht gelebt haben.

Die nomadische Lebensweise bei den Germanen war noch unter Karl des Grossen immer noch weit verbreitet.

Ali Ria Ashley
12.11.2012, 08:41
Die Urheimat der menschen ist selbstredend der Mars Ihr Helden :)

Agesilaos Megas
19.11.2012, 00:15
Es gibt nicht "die" indogermanische/indoeuropäische Urheimat. Man weiß so gut wie gar nichts über die Sprachwandlung in der späten Jungsteinzeit. Man kann nicht sagen, ob es ein "indogermanisch/indoeuropäisches" Urvolk gab (sehr unwahrscheinlich), ob es derer viele waren, oder ob sich einfach die Sprachen weiter verbreiteten.

Addendum: Höre Dir die Ausführungen des jungen Mannes (in #1 verlinkt) an; ab 10:30min. hörst Du auch, was ich Dir über die Terminologisierung innerhalb der dt. Indogermanistik einst dargelegt habe.

Dass man natürlich ein "Urvolk" bezweifeln mag, ist nicht inkorrekt und völlig berechtigt; vielmehr geht es aber hierbei um die abstrakte Urheimat und die ersten Indizien, die innerhalb unserer Wahrnehmung liegen. Über die Wanderungen und den Zustand eines Urvolkes, sowie die heftig diskutierte Aufteilung der indogermanischen Sprachen ("Ab wann?", "Welche sprachl. Verwandtschaften liegen bei best. lexikalischen Gruppen häufiger vor, welche weniger? Z.B. landwirtschaftl. Lexik") wird dabei nicht viel ausgeführt - soll auch nicht, kann auch nicht.

Agesilaos Megas
19.11.2012, 00:31
Die Urheimat der Indogermanen liegt im zentralasiatischen Altai.

Möglich, aber, wie für die Indogermanistik üblich, hypothetisch. Interessant wäre dann auch die Frage, ob westl. oder östl. Altai, sowie, ob sprachl. Verwandtschaft mit den altaischen Sprachen.

Ausonius
19.11.2012, 11:39
Dass man natürlich ein "Urvolk" bezweifeln mag, ist nicht inkorrekt und völlig berechtigt; vielmehr geht es aber hierbei um die abstrakte Urheimat und die ersten Indizien, die innerhalb unserer Wahrnehmung liegen. Über die Wanderungen und den Zustand eines Urvolkes, sowie die heftig diskutierte Aufteilung der indogermanischen Sprachen ("Ab wann?", "Welche sprachl. Verwandtschaften liegen bei best. lexikalischen Gruppen häufiger vor, welche weniger? Z.B. landwirtschaftl. Lexik") wird dabei nicht viel ausgeführt - soll auch nicht, kann auch nicht.

Das Video schaue ich mir vielleicht später erst mal an. Was die von dir genannten Fragen betrifft, und die Möglichkeit, diese zu beantworten, bin ich ja der gleichen Meinung. Es ist nur so, dass gerade diese Fragen am meisten das populärwissenschaftliche Interesse treffen, um ein vielfaches mehr als die Zusammenhänge zwischen Toponymen und Lexemen. Meist geht es dabei um Ethnogenesen und Nationalismen (zugespitzt auf die Frage: "wer war zuerst da?", worum es grundsätzlich auch in diesem Thread) geht, aber es gibt auch durchaus Theorien bzgl. der Indoeuropäer, die dann politisch gesehen eher unser linkes Lager bedienen. Das betrifft natürlich Marija Gimbutas und ihre Protoeuropäer, die sich übrigens schön mit dem im Eingangsbeitrag genannten Herrn Atkinson als einem ihrer geistigen Nachfolger verbinden lässt.

Mir ist es wichtig, bei solchen Themen darzulegen, dass die methodischen Möglichkeiten, die Antworten auf genannte Fragen zu treffen, sehr begrenzt sind.
Ich neige auch bei anderen frühgeschichtlichen Fragen mittlerweile zu der aktuellen Einstellung vieler Archäologen und Althistoriker, die Forschungshypothesen bewusst möglichst wenig interdisziplinär zu beantworten, dadurch methodische Fehler zu vermeiden und allgemein etwas vorsichtiger zu interpretieren.