Strandwanderer
07.07.2012, 20:01
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Ein - heute erschienener - ausgezeichneter Artikel des Historikers Stefan Scheil, der jeden nachdenklich machen sollte:
"Der Prozeß
„Jemand mußte die Bundesbürger verleumdet haben, denn ohne daß sie etwas Böses getan hätten, wurden sie eines Morgens verhaftet.“ So, oder so ähnlich hätte wohl schließlich der Anfangssatz jenes Buchprojekts gelautet, das ich Ende der 90er Jahre unter dem Arbeitstitel „Der Prozeß“ tatsächlich skizziert habe. Es sollte nach Motiven der gleichnamigen Erzählung von Franz Kafka eine zeitgeschichtlich-satirische Darstellung der europäischen Einigungspolitik werden. Der Begriff „Prozeß“ in seiner trefflichen Doppelbedeutung als Ausdruck sowohl für eine Entwicklung wie für ein Strafgericht hätte die moralisch aufgeladene wie sachlich begründete Motivlage dieser Politik eigentlich ganz gut erfassen können.
Vor allem aber hat Kafka mit seinem vieldeutigen Text auch eine Vorlage für die Szenerie geliefert, die nun die Bundesdeutschen tatsächlich in den letzten, mittlerweile zwei Jahrzehnten erleben konnten. Der EU-„Prozeß“ ist in der Tat so real wie der in der literarischen Vorlage. Hier wie dort kennt der Angeklagte dennoch seine Richter nicht. Josef K., der Angeklagte bei Kafka, weiß auch nicht, was ihm vorgeworfen wird. Das tödliche Ende des Prozesses ahnt er vage, doch verweigert er sich dem System nicht. Er unternimmt weder einen Fluchtversuch, noch leistet er Widerstand. Den Griff zur Waffe erwägt er nicht einmal. Wie so viele Figuren Kafkas läßt er sich die Regeln vorschreiben und befolgt sie. Er wartet brav vor Türen, ob man ihn nicht doch einmal hineinläßt. Am Ende geht er ruhig zur eigenen Ermordung. Sie wird von freundlichen Mördern vollzogen.
[ . . . ]
Ebenso gespenstisch die europäischen Nachtverhandlungen, bei denen dann frühmorgens stets das Gegenteil dessen verkündet wird, was gestern noch als absolute Norm galt und von dem vorgestern schon bekannt war, daß es bald überholt sein würde. Auf der einen Seite der ganze Hohn gegenüber dem Verfassungstext, der offenkundige Bruch gerade unterzeichneter internationaler Verträge, sowie die politische Ungreifbarkeit der richtenden Entscheidungsträger, gepaart mit ihrer absoluten Entschlossenheit, vor nichts zurückzuschrecken, um den Prozeß zu jenem Ende zu führen, das man schon vor zwanzig Jahren deutlich ahnen konnte, obwohl es öffentlich von allen bestritten wurde.
Dagegen die Harmlosigkeit der „Angeklagten“, die an Recht, Gesetz, Informationsfreiheit und Demokratie glauben, brav zur Wahl gehen und ihre staatliche Existenz widerstandslos aufgeben, obwohl sie zwar nicht wissen, was daran gut sein soll, sich aber persönlich doch irgendwie schuldig fühlen und jedenfalls die höhere Moral bei den Entscheidern in diesem Prozeß wähnen. Kafka schließt die Erzählung über Josef K. mit einem Satz, der sich doch auch als Motto auf dem Grabstein der BRD nicht schlecht machen würde: „Es war, als sollte die Scham ihn überleben.“"
vollständiger Text hier: http://www.jungefreiheit.de/Single-News-Display-mit-Komm.154+M52a492edf8d.0.html
Ein - heute erschienener - ausgezeichneter Artikel des Historikers Stefan Scheil, der jeden nachdenklich machen sollte:
"Der Prozeß
„Jemand mußte die Bundesbürger verleumdet haben, denn ohne daß sie etwas Böses getan hätten, wurden sie eines Morgens verhaftet.“ So, oder so ähnlich hätte wohl schließlich der Anfangssatz jenes Buchprojekts gelautet, das ich Ende der 90er Jahre unter dem Arbeitstitel „Der Prozeß“ tatsächlich skizziert habe. Es sollte nach Motiven der gleichnamigen Erzählung von Franz Kafka eine zeitgeschichtlich-satirische Darstellung der europäischen Einigungspolitik werden. Der Begriff „Prozeß“ in seiner trefflichen Doppelbedeutung als Ausdruck sowohl für eine Entwicklung wie für ein Strafgericht hätte die moralisch aufgeladene wie sachlich begründete Motivlage dieser Politik eigentlich ganz gut erfassen können.
Vor allem aber hat Kafka mit seinem vieldeutigen Text auch eine Vorlage für die Szenerie geliefert, die nun die Bundesdeutschen tatsächlich in den letzten, mittlerweile zwei Jahrzehnten erleben konnten. Der EU-„Prozeß“ ist in der Tat so real wie der in der literarischen Vorlage. Hier wie dort kennt der Angeklagte dennoch seine Richter nicht. Josef K., der Angeklagte bei Kafka, weiß auch nicht, was ihm vorgeworfen wird. Das tödliche Ende des Prozesses ahnt er vage, doch verweigert er sich dem System nicht. Er unternimmt weder einen Fluchtversuch, noch leistet er Widerstand. Den Griff zur Waffe erwägt er nicht einmal. Wie so viele Figuren Kafkas läßt er sich die Regeln vorschreiben und befolgt sie. Er wartet brav vor Türen, ob man ihn nicht doch einmal hineinläßt. Am Ende geht er ruhig zur eigenen Ermordung. Sie wird von freundlichen Mördern vollzogen.
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Ebenso gespenstisch die europäischen Nachtverhandlungen, bei denen dann frühmorgens stets das Gegenteil dessen verkündet wird, was gestern noch als absolute Norm galt und von dem vorgestern schon bekannt war, daß es bald überholt sein würde. Auf der einen Seite der ganze Hohn gegenüber dem Verfassungstext, der offenkundige Bruch gerade unterzeichneter internationaler Verträge, sowie die politische Ungreifbarkeit der richtenden Entscheidungsträger, gepaart mit ihrer absoluten Entschlossenheit, vor nichts zurückzuschrecken, um den Prozeß zu jenem Ende zu führen, das man schon vor zwanzig Jahren deutlich ahnen konnte, obwohl es öffentlich von allen bestritten wurde.
Dagegen die Harmlosigkeit der „Angeklagten“, die an Recht, Gesetz, Informationsfreiheit und Demokratie glauben, brav zur Wahl gehen und ihre staatliche Existenz widerstandslos aufgeben, obwohl sie zwar nicht wissen, was daran gut sein soll, sich aber persönlich doch irgendwie schuldig fühlen und jedenfalls die höhere Moral bei den Entscheidern in diesem Prozeß wähnen. Kafka schließt die Erzählung über Josef K. mit einem Satz, der sich doch auch als Motto auf dem Grabstein der BRD nicht schlecht machen würde: „Es war, als sollte die Scham ihn überleben.“"
vollständiger Text hier: http://www.jungefreiheit.de/Single-News-Display-mit-Komm.154+M52a492edf8d.0.html