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Vollständige Version anzeigen : Taoismus



Leo Navis
18.03.2012, 16:53
Jo dudes,

Das Daodejing ist eines der ältesten und wichtigsten Schriftstücke, das uns bis heute erhalten geblieben ist, und jeder, der sich bei dem Wort 'Daodejing' 'Das WAS?' gefragt hat, der gehört ausgepeitscht.

Man nennt es auch das Tao Te King oder Dao De Ging. Wie man es auch immer nennt; es ist ein großartiges Buch, und die hier übermittelte Spiritualität kann uns noch heute ein Leitsatz sein.

Lao Tse, der Verfasser des Buches, den es gar nicht gab, wahrscheinlich, war ein alter Weiser, der in die Berge flüchten wollte, wo er von einem Torwärter oder so etwas aufgehalten wurde, und dann die Zeilen des Tao Te King aufschreiben musste; so zumindest die Legende, die wohl nicht richtig ist. Tatsächlich ist das Daodejing wahrscheinlich schlichtweg eine Textsammlung von Texten verschiedener Denker zu der damaligen Zeit.

Fangen wir also an mit der Interpretation. Teil 1: Der Sinn.

1. Verkörperung des Sinns

Das Dao, der sich aussprechen lässt,
ist nicht das ewige Dao.
Das Jing, das sich nennen lässt,
ist nicht das ewige Jing.
"Nichtsein" nenne ich den Anfang von Himmel und Erde.
"Sein" nenne ich die Mutter der Einzelwesen.
Darum führt die Richtung auf das Nichtsein
Zum Schauen des wunderbaren Wesens,
die Richtung auf das Sein
Zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten.
Beides ist eins dem Ursprung nach
und nur verschieden durch das Jing.
In seiner Einheit heißt es das Geheimnis.
Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis
ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten.

Quelle: Tao Te King, Nikol Verlag, ISBN 978-3-86820-055-3

Dao ist hier der Sinn; Jing ist hier der Name.
Dao de Jing: Der Sinn und der Name.

Was finden wir hier? Vorerst: Der Sinn, der sich aussprechen, benennen lässt, ist nicht der ewige Sinn. Querreferenz zu unserem christlichen Gott: Der, der ist, aber sich nicht benennen lässt, keinen Namen (Jing) hat; Gott als das Dao, das Sein als das Jing.

Nichtsein sei der Anfang; Sein seien wir, die Einzelwesen. Klar: Das Dao, der Herr, erschafft die Einzelwesen, die im Bewusstsein sind, die sind. Das Dao aber ist im Nichtsein, wir aber sind beides: Wir sind geschaffen aus Himmel und Erde, also sind wir eigentlich gar nicht; und doch sind wir, weil wir dualistisch funktionieren. Beides ist eigentlich eins, doch wir spalten auf; warum, ist nicht egal, das Tao Te King zeigt jedoch fürs erste, dass dies überhaupt erst der Fall ist, und diese Spaltung ist dem Philosophen schmerzlich bewusst.

In der chinesischen Philosophie wird nun die Spaltung durch das Wu Wei überwunden, durch das Nicht-Handeln:

2. Pflege der Persönlichkeit:
...
Also auch der Berufene:
Er verweilt im Wirken ohne Handeln.
Er übt Belehrung ohne Reden.
Alle Wesen treten hervor,
und er verweigert sich ihnen nicht.
Er erzeugt und besitzt nicht.
Erwirkt und behält nicht.
Ist das Werk vollbracht,
so verharrt er nicht dabei.
Und eben weil er nicht verharrt,
bleibt er nicht verlassen.

...

Wir sehen hier das Ideal des Menschen in allen Religonen. Die Trennung wird durch die Handlung überwunden; doch zuerst muss ja eigentlich die Trennung überwunden werden, so mag sich der wache Geist fragen, denn wie, so fordert er, soll der wache Geist, der Berufene wissen, was zu tun ist, wenn er gar nicht weiß, ob er berufen ist oder nicht?

Der Widerspruch wird durch die Metapher gelöst, wie auch in der Bibel. Der Berufene ist ein Bild. Wirken ohne Handeln; wozu Handeln, wenn das Dao bereits von selbst handelt? Belehrung ohne Reden; wozu reden, wenn das Dao bereits selbst redet? Er verweigert sich ihnen nicht, wozu auch, auch er kann sich dem Dao nicht verweigern, denn er ist das Dao, ist, was war, was ist, und was sein wird.

3. Friede auf Erden

Die Tüchtigen nicht bevorzugen,
so macht man, dass das Volk nicht streitet.
Kostbarkeiten nicht schätzen,
so macht man, dass das Volk nicht stiehlt.
Nichts Begehrenswertes zeigen,
so macht man, dass des Volkes Herz nicht wirr wird.

...

Was wird uns hier gezeigt? Es wird gezeigt, wie dauerhafter und ewiger Friede eintreten kann. Wenn es nichts gäbe, was kostbar ist, warum sollte man dann stehlen wollen? Wenn es keinen größeren Lohn gibt, wenn man tüchtiger ist, wieso sollte man dann tüchtig sein, wenn nicht aus dem Grunde seines Herzens? Wenn es nichts Begehrenswertes gäbe, wieso sollte dann jemand irgendetwas begehren?

Wozu Kriege, wenn Land nicht kostbar ist; wozu Kriege, wenn Tüchtigkeit nichts weiter nützt?
Wozu Hass, wenn sich Liebe nicht kaufen lässt?

...

Darum regiert der Berufene also:
Er leert ihre Herzen und füllt ihren Leib.
Er schwächt ihren Willen und stärkt ihre Knochen
und macht, dass das Volk ohne Wissen
und ohne Wünsche bleibt,
und sorgt dafür,
dass jene Wissenden nicht zu handeln wagen.
Er macht das Nichtmachen,
so kommt alles in Ordnung.

...

Der Berufene ist wie ein Wassertropfen. Den Wassertropfen interessiert es wenig, ist er im Meer oder im Fluss; ihm ist egal, ob er verpestet ist, ob er hübsch ist oder hässlich, ihn interessiert es nicht, wird er angeschaut oder nicht, wird er getrunken oder versalzen. Selbst wenn er verdampft, verschwindet er nicht. Im ewigen Kreislauf des Lebens bleibt das Tröpfchen was es ist; bleibt der Berufene was er ist: Lediglich ein Tröpfchen im Uhrwerk des Lebens.

Leo Navis
18.03.2012, 17:45
Weiteres aus "2. Pflege der Persönlichkeit":

Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen,
so ist dadurch schon das Hässliche gesetzt.

...

Deutung: Erst dadurch, dass Menschen an das Schöne glauben, wird das Hässliche erschaffen.

...

Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen,
so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.

...

Deutung: Erst dadurch, dass Menschen an das Gute glauben, wird das Nichtgute erschaffen; doch mehr noch: Es wird gesetzt, mit anderen Worten, definiert. Der Mensch definiert durch das Gute das Schlechte und trennt das Dao in zwei; oder, um es mit den Worten des zweiten großen daoistischen Machworts, des Dschuang Dsis, auszudrücken: "Das, was sie lieben, ist das Eine; das, was sie aber nicht lieben, ist auch das Eine."

...

Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.

...

Ohne das Eine gäbe es das andere nicht; da aber das andere auch das Eine ist, ohne das Eine nicht das Eine, und der Kreissschluss ist perfekt, und unser wundervolles Philosophieren eine unglaublich schöne Scheindiskussion.

...

Schwer und Leicht vollenden einander.
Lang und Kurz gestalten einander.
Hoch und Tief verkehren einander.
Stimme und Ton sich vermählen einander.

...

Klar; aber jetzt kommt noch ein Hammer:

...

Vorher und Nachher folgen einander.

...

Selbst die Zeit ist im Daodejing lediglich gesetzt; definiert. Lediglich dadurch, dass es gutes gibt, gibt es nichtgutes; doch lediglich dadurch, dass es das vorher gibt, gibt es auch das nachher; mit anderen Worten: Alles basiert auf seinem Gegenstück.

Leo Navis
18.03.2012, 18:05
Und, um den völligen Agnostizismus des Taoismus zu beschließen, hier noch etwas aus dem wahren Buch des südlichen Blütenlandes unseres Freundes Zhuang Zis (Dschuang Dsi):

'Lückenbeißer fragte Keimwalter: "Wisst ihr, worin die Welt mit dem Ich übereinstimmt?"
Er sprach: "Wie sollte ich das wissen?"
"Wisst ihr, was Ihr nicht wisst?"
Er sprach: "Wie sollte ich das wissen?"
"Dann gibt es also kein Wissen der Dinge?"
Er sprach: "Wie sollte ich das wissen? Immerhin, ich will versuchen darüber zu reden!
Woher weiß ich, dass das, was ich Wissen nenne, nicht Nicht-Wissen ist?
Woher weiß ich, dass das, was ich Nicht-Wissen nenne, nicht Wissen ist?
Nun will ich Dich einmal fragen. Wenn die Menschen an einem feuchten Ort schlafen, so bekommen sie Hüftweh, und die ganze Seite stirbt ab; geht es aber einem Aale ebenso? Wenn sie auf einem Baum weilen, so zittern sie vor Furcht und sind ängstlich besorgt; geht es aber einem Affen ebenso?
Wer von diesen drei Geschöpfen nun weiß, welches der richtige Wohnort ist?
Die Menschen nähern sich von Mastvieh; die Hirsche nähren sich von Gras; der Tausendfuß liebt Würmer, und der Eule schmecken Mäuse. Welches dieser vier Geschöpfe weiß nun, was wirklich gut schmeckt?
Die Paviane gesellen sich zu Äffinnen, die HIrsche zu HIndinnnen, die Aale schwimmen mit den Fischen zusammen, und schöne Frauen erfreuen der Menschen Augen. Wenn die Fische sie sehen, so tauchen sie in die Tiefe, wenn die Vögel sie sehen, so fliegen sie in die Höhe, wenn die Hirsche sie sehen, so laufen sie davon. Welches von diesen Geschöpfen weiß nun, was wahre Schönheit unter dem Himmel ist?
Von meinem Standpunkt aus gesehen sind die Grundsätze von Sittlichkeit und Pflicht, die Pfade von Bejahung und Verneinung unentwirrbar verwickelt. Wie sollte ich ihre Unterscheidungen kennen?"
Lückenbeißer sprach: "Ihr kennt nicht Nutzen und Schaden; kennt aber auch der höchste Mensch nicht Nutzen und Schaden?"
Keimwalter sprach: "Der höchste Mensch ist Geist. Wenn das große Meer im Feuer aufginge, vermöchte es ihm nicht heiß zu machen; wenn alle Ströme gefrören, vermöchte ihm das nicht kalt zu machen; wenn heftiger Donner die Berge zerrisse und der Sturm den Ozean peitschte, vermöchte ihm das nicht Schrecken einzuflößen? Einer, der also ist, der fährt auf Luft und Wolken; er reitet auf Sonne und Mond und wandelt jenseits der Welt. Leben und Tod können selbst Selbst nicht verändern. Was erst sollen ihm da die Gedanken an Nutzen und Schaden sein?"

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Wer die Spaltung, die Trennung überwindet;
Der weiß, er ist Dao.
Was sollte der fürchten, und warum, wenn er ist der Anfang und das Ende?

Wer keine Angst vorm Tod kennt kennt gar keine Angst; wer nicht anhaftet an das Leben, der hat nichts zu verlieren. Demütigung beschleicht die Stolzen oft; wer wahrhaft stolz ist, der ist dauerhaft in echter Demut.

Und zuletzt, das berühmteste Teilchen aus dem Dschuang Dsi:


Schmetterlingstraum

Einst träumte Dschuang Dschou, dass er ein Schmetterling sei, ein flattender Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte, und nichts weiter wusste von Dschuang Dschou.
Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschaung Dschou.
Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Dschuang Dschou sei, obwohl doch zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.

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Ob zwischen dem Schmetterling und Dschuang Dschou wirklich ein Unterschied ist? :)