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Vollständige Version anzeigen : Russlanddeutsche - Importeure des Evangelikalismus' ?



Kosmopolit
10.03.2012, 21:35
Jesu Parallelgesellschaft

Gottes Wort ist Gesetz, kurze Röcke sind Teufelszeug. Zehntausende christliche Fundamentalisten leben in Deutschland, die meisten stammen aus Russland. Sie gelten als unpolitisch. Stimmt das?

Porta Westfalica, Minden

Die Begrüßung ist überraschend: Lassen Sie uns über Ihr Auftreten reden: Sind Ihre Haare lang? Gut, binden Sie sie zusammen. Tragen Sie einen langen Rock. Er muss mindestens übers Knie gehen. Halten Sie die Arme bedeckt, verzichten Sie auf einen tiefen Ausschnitt. Kein Schmuck, keine Schminke. Letztlich bleibt es natürlich Ihnen überlassen, aber Sie wollen doch mit diesen Leuten reden, nicht wahr?

Diese Leute sind Christen, keine Muslime, und die Kleiderordnung ist die Ansage für einen sonntäglichen Gottesdienst, keinen Moscheebesuch.

In Porta Westfalica, einem kleinen Ort an der nördlichen Spitze Nordrhein-Westfalens, hat die mennonitische Brudergemeinde russlanddeutscher Herkunft ihr Gemeindezentrum in einem kleinen Gewerbegebiet am Ortsausgang. Es ist zehn Uhr. Die Glocken läuten nicht, aber drinnen sind alle Plätze belegt. Rechts die Frauen, links die Männer. Vorne drei Prediger in dunklen Anzügen, daneben der Jugendchor. Es gilt: Mulier taceat in ecclesia das Weib hat in der Kirche zu schweigen (Paulus 1. Korinther-Brief 14, 34). Diese Vorschriften sind hier Gesetz. Denn diese Leute sind Fundamentalisten.

Christlichen Fundamentalisten ist die Bibel wörtliche Wahrheit: Jesus lief über Wasser und machte aus demselben Wein. Punkt. Absolute Bibeltreue prägt ihr Leben bis ins weltlichste Detail: Alkohol, Tabak, Fernsehen, Theater, Schwimmbäder, weltliche Musik, Kino, Zeitungen, Scheidung, Schmuck: verboten. Ohne Ausnahme. Abgefallenen droht der Entzug der Gemeinschaft, so steht es im Glaubensbekenntnis der Mennoniten. Dort steht auch: Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn. Denn der Mann ist das Haupt der Frau. Im Grundgesetz steht: Männer und Frauen sind gleichberechtigt.

Bedarf hier jemand der Nachhilfe in Sachen Gleichberechtigung und liberaler Weltsicht? Der deutsche Staat konzentriert sich bei der Werteerziehung vor allem auf den Islam. Muslime auf dem Integrationsgipfel im Kanzleramt, Muslimgipfel im Innenministerium, Einwanderungsbögen mit eindeutigem Zuschnitt. Dabei leben schätzungsweise 320000 russlanddeutsche Evangelikale mittlerweile in der Bundesrepublik, 70500 davon als getaufte Gemeindemitglieder.

Einige sind Baptisten, die meisten allerdings Mennoniten. Sie haben sich vor allem in Dörfern in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg niedergelassen und dominieren ganze Landstriche. Sie bauen Gotteshäuser und Schulen, sind fleißig, beten viel und bleiben unter sich. Gerhard Bleick, der russlanddeutsche Evangelikale für ein Projekt zur Religionsvielfalt untersucht hat, spricht von einem Hang zur Geheimniskrämerei. Haben sich diese deutschsprechenden, bildungsorientierten Fundamentalisten also integriert? Oder nutzen sie ihr Wissen, um sich von der Gesellschaft abzukapseln?

Thomas Kufen, Integrationsbeauftragter der nordrhein-westfälischen Landesregierung, zögert. Einerseits sprechen sie deutsch, haben meistens Arbeit, sind bildungsorientiert, also ja, sagt er.

Andererseits bauen einige fleißig parallelgesellschaftliche Strukturen auf, dann also nein. Warum spielen sie in der aktuellen Integrationsdebatte keine Rolle? Sie sind unpolitisch. Was unterscheidet sie von fundamentalistischen Muslimen? Sie sind unpolitisch. Kurzum: Sie setzten auf Mission statt auf Revolution zur Verbreitung ihrer Thesen.

Der Jugendchor singt lieblich melancholische Weisen. Russische Herzenstiefe mit christlichen Inhalten. Schau mir ins Herz, oh Herr, und erkenne mich, singen 50 junge Kehlen. Eine Frau, ein Mädchen fast, klein, rund, blond, aber mit dem Kopftuch verheirateter Frauen, tritt ans Mikrofon und erzählt ergriffen von einem Jungen, der einen lahmen Mann nachahmte und dafür selbst mit Lahmheit bestraft wurde.

Gott sagt uns, wir sollen andere nicht verspotten. Das ist die Moral der Geschicht. Ihre Stimme kippt. Sie hat sich selbst zu Tränen gerührt. Auch die Augen der Zuhörer sind feucht. Schau mir ins Herz, oh Herr, und erkenne mich, singt der Jugendchor.

Unsere jungen Leute sind anders. Moralisch sensibler, sagt Peter Nickel. Deshalb ertragen sie den Sexualkundeunterricht in der Schule nicht. Gerade hat er noch gepredigt. Es ging um den verlorenen Sohn und die Verlockungen der falschen Freiheit. Nun sitzt er in einem kleinen schmucken Nebenzimmer des Gemeindezentrums.

Fühlen Sie sich bedroht, Herr Nickel?

Spirituell schon, sagt er. Die teuflische Freiheit zerrt und lockt seine Schäflein. Vor allem die jungen. Doch ihr muss man widerstehen, denn wahre Freiheit findet nur, wer sich Gottes Regeln unterwirft.

Alles um ihn herum ist sauber, proper und neu. Selbst gebaut. Jeder packt hier an. Hat Zeit, gibt Geld. Darauf ist er stolz. Stolz ist er auch auf seine Tochter, die sich der Aufklärung im Biologieunterricht verweigerte. Diesen Sechser haben wir akzeptiert, sagt er. Unsere Kinder sind zarter. Zarter als die der anderen.

Parallelgesellschaft: eine nicht der Mehrheitsgesellschaft entsprechende Selbstorganisation einer Minderheit. Sie ist kulturell-religiös homogen, kapselt sich lebensweltlich, zivilgesellschaftlich und ökonomisch ab und schafft ihre eigenen Institutionen.

Sonntag, 9. Juli 2006. Deutschland steht, sitzt, kniet gar vor seinen Fernsehern. In Berlin läuft das WM-Finale, in Minden aber spricht Fred Hartmann über seine Schule, eine von sieben evangelikalen Schulen im Kreis Lippe. Rund 400 Kinder, Grundschüler bis Abiturienten, werden hier fundamentalistisch christlich erzogen. Insgesamt betreuen die Schulen des christlichen Schulvereins Lippe rund 2500 Kinder. Einen Schutzraum für junge Christen nennt Schulleiter Hartmann seine Institution. Sein Kollege Gerhard Wölk, Prediger und Lehrer, hat es so formuliert: Lehrer dürfen erwarten, dass Kinder zwischen 13 und 15 Jahren eine Entscheidung für den Herrn treffen. Das Herz ist in diesen Jahren hungrig. Deshalb wohl lässt das pädagogische Konzept keine Fragen offen. Beispiel Evolutionstheorie. Natürlich erklären wir Darwins Lehre, sagt Hartmann. Dann aber lesen wir nach, was die Bibel dazu sagt, und stellen fest, was wir für richtig halten. Nach diesem Prinzip werden alle heißen Eisen behandelt: Gleichberechtigung die Frau ist Gehilfin des Mannes, Sexualität zwischen Ehepartnern zur Fortpflanzung, Homosexualität nicht von Gott gewollt, also Sünde. 2500 Kinder, die in der Schule lernen, dass die Errungenschaften der freiheitlichen Gesellschaft des Teufels sind.

Tendenz steigend.

Und längst nicht alle Kinder kommen aus evangelikalem Elternhaus. Die Schulen haben den Ruf, Disziplin und Respekt vor den Eltern zu lehren.

Deshalb melden immer mehr ungläubige Familien ihren Nachwuchs dort an. Manche finden dabei sogar zu Gott. So wie jene, deren Sohn nach drei Schultagen zunächst einmal beurlaubt wurde. Er hatte am ersten Tag pornografische Bildchen mitgebracht, am zweiten gotteslästerliche Rockmusik, am dritten Alkohol. Schulleiter Hartmann schickte die Familie daraufhin zu einer christlichen Therapeutin. Wenige Wochen später waren alle missioniert. Christliche Therapeutin? Vielleicht ist Seelsorgerin der bessere Ausdruck, korrigiert er sich.

Was würden Sie ändern, wenn Sie und Ihre Glaubensbrüder politische Macht hätten, Herr Hartmann?

Er zögert. Nun ja, Homo-Ehe gäbe es bei uns sicherlich nicht. Fred Hartmann ist ein ruhiger, freundlicher Mann. Er sitzt in seinem hellen fernsehlosen Wohnzimmer, rückt die Brille zurecht und möchte unter keinen Umständen missverstanden werden. Er hat sich schon oft missverstanden gefühlt. Vor allem von der Presse, die immer nur schreibt, dass er Harry Potter für Okkultismus hält. Es gibt ja schließlich auch Waldorfschulen, sagt er. Jeder könne wählen. Jeder seine Meinung vertreten. Auch fundamentalistische Christen reklamieren ihr Recht auf den Schutz einer liberalen Gesellschaft, deren Werte sie letztlich ablehnen. Aber unpolitisch sind sie. Das ist ihr großer Vorteil.

Dass man sich von der Politik besser fernhält, gehört zu den ältesten kollektiven Gewissheiten der Mennoniten. Ihre Gründer waren radikale spirituelle Freidenker. Sie lehnten jede staatliche, kirchliche, militärische Staatsmacht ab und erklärten die Bibel als einzigen Weg zu Gott. Katharina die Große holte sie als Bauern nach Russland. Die Kommunisten wiederum verfolgten sie. Ihrer deutschen Wurzeln wegen durften sie von den siebziger Jahren an nach Deutschland auswandern.

Die große Welle der Übersiedlungen setzte aber erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein. Die Welt um sie herum hatte sich gedreht, doch die Mennoniten hatten sich Wandel immer schon widersetzt. In der UdSSR waren sie Deutsche und Christen gewesen. In Deutschland wurden sie als Deutsche und Christen empfangen. Doch ihr Deutsch- und Christsein passte nicht zu Deutschland und seinen Christen. Erste Integrationsversuche in deutsche evangelikale Gemeinden scheiterten. Sie gründeten eigene Gemeinden. Sie fingen an, am deutschen Lehrplan zu kritteln. Manche nahmen ihre Kinder aus der Schule, forderten das Recht auf Heimschulung und lernten die Grenzen der Toleranz des deutschen Staates kennen. Sie riefen Verfolgung und bedienten vertraute Motive. Nun betreiben sie fleißig Kirchenvereine und Schulvereine, karitative und missionarische Einrichtungen, eigene Verlage und theologische Ausbildungszentren. Die Rhetorik wurde geschliffen. Kommt einer und fragt nach, sitzen die Argumente perfekt: Religions- und Meinungsfreiheit, Kinderschutz, Traditionsbewahrung.

Wer kann dazu schon nein sagen? Und während über die Muslime der 11.

September 2001 hereinbrach und sie sich seitdem alle, auch die gemäßigten, unter dem Brennglas der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit wissen, haben sich die russlanddeutschen Evangelikalen in ihrer Nische eingerichtet.

Die Zeit arbeitet für die Integration, glaubt Integrationsbeauftragter Kufen. Sie können nicht alle immer kontrollieren. Irgendwann gehen die Jungen beispielsweise zur Uni.

Wenn sie dürfen.

Schau mir ins Herz, oh Herr, und erkenne mich, singt der Jugendchor.

Die Röcke der Mädchen sind lang, die Arme bedeckt. Aber der Stoff liegt so eng. Kleine Fluchten. Sie scheinen vertraut. Wo hat man die noch mal gesehen? Ach ja, bei Musliminnen.

(Quelle: http://www.zeit.de/2006/31/Jesu_Parallelgesellschaft)