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Vollständige Version anzeigen : And He Built a Crooked House - Das 4D-Haus



Gothaur
15.12.2011, 13:57
Die folgende Kurzgeschichte von Robert A. Heinlein handelt vom Tessarakt, also einem 4 dimensionalen Würfel. Die Geschichte ist in Heinleins Buch "Entführung in die Zukunft" u.a. nachzulesen, und so alt und unbekannt, daß ich der Meinung bin, sie hier ruhig mal - abgeschrieben - wiederzugeben.
Schwarze Riesenlöcher, gekrümmte Räume, Neutrinos schneller als Licht, - da glaube ich, daß ein 4D-Haus hier durchaus seinen berechtigten Platz findet. :)

Das 4-D-Haus, von Robert A. Heinlein, 1940
Amerikaner werden auf der ganzen Welt für verrückt gehalten. Sie geben meistens zu, daß dieser Vorwurf berechtigt ist, verweisen aber gleichzeitig auf Kalifornien als Infektionsherd. Kalifornier behaupten, ihr schlechter Ruf beruhe nur auf dem Verhalten der Einwohner von Los Angeles County. Angelenos leugnen das meistens nicht einmal, fügen jedoch hastig hinzu:"Daran ist Hollywood schuld. Wir können nichts dafür - das wollten wir nicht; Hollywood ist einfach von selbst gewachsen."
Den Bewohnern von Hollywsood ist das gleichgültig; sie genießen ihre Rolle sogar. Sie fahren interessierte Besucher in den Laurel-Canon hinauf - "wo die ganz Verrückten wohnen". Die Canonbewohner lächeln ihrerseits über alle anderen, wei sie genau wissen, daß nur sie allein richtig zu leben verstehen.
Lookout-Mountain-Avenue heißt ein Seitencanon, der vom Laurel-Canon aus in die Höhe führt. Die anderen Canonbewohner sprechen nicht gern von ihm, denn schließlich muß es irgendwo eine Grenze geben!
Hoch oben auf dem Lookout Mountain stand das Haus Nummer 8775 gegenüber der Zuflucht des Eremiten - des echten Eremiten von Hollywood, dort wohnte Quintus Teal, graduierter Architekt, der die architektonischen Versuche seiner Kollegen für lau, unentschlossen und mutlos hielt.

"Was ist ein Haus?" wollte Teal von seinem Freund Homer Bailey wissen.
"Hmm", meinte Bailey vorsichtig, "ich sehe Häuser ganz allgemein als ein Vorrichtung an, die vor Regen schützt."
"Quatsch! Du bist so schlimm, wie alle anderen."
"Ich habe nicht behauptet, daß meine Definition vollständig ist...."
"Vollständig! Sie zielt nicht einmal in die richtige Richtung. Von diesem Standpunkt aus könnten wir ebensogut in Höhlen hocken. Aber ich mache dir daraus keinen Vorwurf", fuhr Teal großzügiig fort, "Du bist auch nicht schlimmer als die Idioten, die heutzutage Häuser bauen. Selbst die sogenannten Modernen....pah! Neutra! Schindler! Wright! Was haben diese Kerle mir voraus?"
"Aufträge", antwortete sein Freund.
"Ha? Was war das?" Teal schluckte kurz und erholte sich dann. "Aufträge. Ganz recht, und warum? Weil ich Häuser nicht als gepolsterte Höhlen ansehe; ich sehe sie als Wohnmaschine, als ein lebendes, dynamisches Ding, das sich den Stimmungen seiner Bewohner anpaßt - nicht als einen toten, statischen, übergroßen Sarg. Warum sollten wir uns von den steingewordenen Auffassungen unserer Vorfahren behindern lassen? Jeder Schwachsinnige kann ein gewöhnliches Haus konstruieren. Aber ist Euklids statische Geometrie die einzige Möglichkeit? Sollen wir die Picard-Vessiot-Theorie völlig außer acht lassen? Wie steht es mit Modularsystemen - ganz zu schweigen von dem Formenreichtum der Stereochemie? Gibt es in der Archtiektur keinen Platz für Transformation, Homomorphologie und aktionale Strukturen?"
"Keine Ahnung", gab Bailey zu. "Davon verstehe ich so weinig wie von der vierten Dimension."
"Und warum sollten wir uns auf drei beschränken, anstatt....he!" Teal starrt in die Ferne. "Homer, das war eine blendende Idee! Wenn ich mir vorstelle, welche Möglichkeiten in vier Dimensionen stecken...." Er stand ganz still; nur seine blaß-blauen Augen blinzelten nachdenklich.
Baile rüttelt ihn an der Schulter. "He, wach auf! Was soll der Unsinn mit vier Dimensionen? Die Zeit ist die vierte Dimension; mir ihr kannst du unmöglich bauen."
"Klar, klar", murmelte Teal. "Die Zeit ist eine vierte Dimension, aber ich denke an eine räumliche vierte wie Länge, Höhe und Tiefe. Eine materialsparende Konstruktion mit idealer Raumzuordnung - und alles auf kleinstem Grundriß. Ich denke dabei an ein Tesserakt..."
"Was ist ein Tesserakt?"
"Hast du in der Schule geschlafen? Ein Tesserakt ist ein Hyperwürfel, ein quadratischer Körper mit vier Dimensionen, wie ein Würfel drei und ein Quadrat zwei haben. Pauf auf, ich zeige dir, was ich meine." Teal lief in die Küche seines Apartements und kam mit einer Schachtel Zahnstocher zurück, die er auf den Tische leerte, nachdem er Gläser und eine Ginflasche zur Seite geschoben hatte.
"Jetzt brauche ich Plastilin.... ich habe letzte Woch noch welches hier gehabt." Er zog die Schreibtischschubladen auf. "Ah, bei mir geht eben nichts verloren!"
"Was hast du vor?"
"Das wirst du gleich sehen." Teal machte erbsengroße Plastilinkugeln und verband mit ihnen vier Zahnstocher zu einem Quadrat.
"Da! Das ist ein Quadrat!" - "Offensichtlich."
"Ein zweites Quadrat und vier weitere Zahnstocher ergeben einen Würfel." Die Plastilinkugeln hielten die Ecken zusammen.
"Jetzt machen wir einen zweiten Würfel wie den ersten, und die beiden bilden die zwei Seiten des Tessereakts." Er arbeitete rasch weiter. "Jetzt paß auf, Homer! Man öffnet eine Ecke des ersten Würfels, verbindet ihn dort mit dem zweiten und schließt die Ecker wieder. Dann nimmt man weitere acht Zahnstocher und verbindet den Boden des zweiten. Die obere Fläche des ersten wird auf gleiche Weise mit der oberen des zweiten verbunden."
"Was soll das dann sein?" erkundigte Bailey sich mißtrauisch.
"Das ist ein Tesserakt - acht Würfel bilden die Seiten eines vierdimensionalen Hyperwürfels."
"Oh? Ich sehe aber nur zwei Würfel. Wo sind die anderen sechs?"
"Hast Du keine Phantasie, Mann? Sie dir die oberen Flächen des ersten und zweiten Würfels an - sie bilden den dritten. Dann die beiden Bodenflächen, die Vorderseiten, hinten, links und rechts - insgesamt acht Würfel." Er zeigte sie Baily.
"Ja, ich sehe sie. Aber das sind keine Würfel; das sind.....Prismen. Sie sind nicht quadratisch."
"Das liegt nur an der Perspektive, Homer. Wenn du einen Würfel zeichnest, sind die Seitenflächen auch verschoben, nicht wahr? Eine vierdimensionale Figur sieht in der dritten Dimension natürlich verzerrt aus. Aber as sind trotzdem alles Würfel."
"Vielleicht für dich - aber für mich sind sie schief."

Ende des ersten Teils, Fortsetzung folgt!
Gruß

Gothaur
16.12.2011, 14:15
Weiter gehts:
Teil 2
Teal überhörte diesen Einwand.
"Stell dir das als Gerüst eines Achzimmerhauses vor, Homer. Im Erdgeschoß haben wir einen Raum - Heizung, Garage und so weiter. Im nächsten Geschoß sind es sechs: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Eßzimmer, Bad und dergleichen. Und ganz oben liegt dein Arbeitszimmer mit Fenstern an allen vier Seiten. Na, wie gefällt dir das?"
"Ich glaube, daß die Badewanne aus der Decke im Wohnzimmer hängt. Diese Räume sind wie Krakenarme ineinander verschlungen."
"Nur in der Perspektive, nur in der Perspektive. Hier, ich zeige es dir anders." Diesmal baute Teal einen Würfel aus Zahnstochern und einen zweiten aus halben Zahnstochern, den er mit Hilfe von abgebrochenen Zahnstochern genau in der Mitte des ersten befestigte.
"Der große Würfel ist das Erdgeschoß, der kleine stellt dein Arbeitszimmer dar. Die sechs übrigen sind Wohnräume. Siehst du das?"
Bailey studierte die Anordnung und schüttelte den Kopf. "ich sehe nur einen großen und einen kleinen Würfel. Die anderen Körper sind diesmal pyramidenförmig - aber trotzdem keine Wüfel."
Weil du sie in anderer Perspektive siehst."
"Hmm, vielleicht. Aber dieser Raum hier ist völlig eingeschlossen. Dabei sollte er doch vier Fenster haben?"
"Die hat er auch - er wirkt nur eingeschlossen. In einem Tesserakthaus liegt jedes zimmer an der Außenseite, aber jede Wand dient zwei Räumen, und ein Achtzimmerhaus braucht nur ein Fundament in der Größe eines Zimmers. Das ist revolutionär."
"Glaubst du? Das ist verrückt, mein Lieber; das kann man nicht bauen. Dieses Zimmer liegt in der Mitte - und dort bleibt es."
Teal beherschte sich mühsam. "Leute wie du verhindern eine Weiterentwicklung der Architektur. Wie viele Seiten hat ein Würfel?"
"Sechs!"
"Wieviele liegen außen?"
"Alle."
"Gut, Hör zu - ein Tesserakt hat acht quadratische Seiten, die alle außen liegen. Ich klappe es jetzt auseinander, damit du siehst, was ich meine." Teal baute rasch einen Körper aus vier übereinanderstehenden Würfeln und fügte an jeder Seite des zweiten Würfels einen weiteren Würfel an. Der Bau schwankte etwas, weil die Plastilinkugeln nachgaben, aber er blieb stehen.
"Ist dir die Anordnung jetzt klar? Alles ruht auf dem untersten Raum, dann kommen die sechs Wohnräume - und hier ganz oben ist dein Arbeitszimmer."
Bailey nickte langsam. "Das verstehe ich wenigstens. Ist das auch ein Tesserakt?"
"Das ist ein in drei Dimensionen aufgeklappter Tesserakt. Um ihn wiederherzustellen, steckt man den obersten Würfel in den unteren und klappt die seitlichen ein. Das alles geschieht natürlich in der vierten Dimension; man verändert die Würfel nicht und schiebt sie keineswegs nur ineinander."
Bailey betrachtete die wacklige Konstruktion eingehend. "Hör zu", meinte er schließlich, "warum läßt du die vierte Dimension nicht einfach sausen - mit der kommst du ohnehin nicht zurecht - und baust ein Haus wie das hier?"
"Wieso komme ich nicht mit ihr zurecht? Das ist nur eine simple mathematische Aufgabe...."
"Ruhig Blut, mein Freund! Die Aufgabe mag simpel sein, aber ein vierdimensionales Haus würde nie genehmigt. Andererseits hätte eines dieser Art unbestreitbare Vorteile..."
Teal studierte das Modell. "Hmm, vielleicht hast du recht. Die Zahl der Räume und die Fundamentgröße bleiben gleich. Die außen liegenden Zimmer lassen sich so anordnen, daß sie möglichst viel Sonne bekommen. Die Mittelachse ist für die Zentralheizung ideal. Wir legen das Eßzimmer nach Nordosten und die Küche nach Südwesten - und alle Räume bekommen große Fenster. Okay, Homer, wird gemacht! Wo soll das haus gebaut werden?"
"Augenblick! Ich habe nicht gesagt, daß du es für mich bauen sollst..."
"Natürlich! Für wen sonst? Deine FRau will doch ein neues Haus - bitte sehr!"
"Sie will ein Haus im Kolonialstil!"
"Das bildet sie sich nur ein. Frauen wissen nie, was sie wollen."
"Meine Frau weiß es immer."
"Diese Flausen hat ihr irgendein altmodischer Architekt in den Kopf gesetzt. Sie fährt einen neuen Wagen und kleidet sich modern, nicht wahr? Warum sollte sie dann ein einem Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert wohnen wollen? Paß auf, dieses Haus wird die Sensation des Jahres!"
"Hmm....ich muß aber erst mit ihr reden."
"Nichts mußt du! Das wir eine Übereraschung für sie. Trink noch einen Schluck."
"Ich kann ohnehin nichts entscheiden. Mein Frau und ich fahren morgen nach Bakersfield. Dort beginnen neue Bohrungen, weißt du."
"Das ist die beste Gelegenheit! Wir überraschen sie bei eurer Rückkehr mit dem Haus. Scheib gleich einen Scheck aus - dann bist du alle Sorgen los."
"Ich müßte sie wirklich erst fragen. Das paßt ihr bestimmt nicht."
"Sag mal, wer hat eigentlich in deiner Familie die Hosen an?"
Der Scheck wurde ausgestellt, bevor die nächste Flasche Gin halb geleert war.
In Südkalifornien geh alles schnell. Gewöhnliche Häuser werden innerhalb weniger Wochen gebaut, und Teal brachte es fertig, die Arbeit so anzutreiben, daß das Tesserakt-Haus in Tagen statt Wochen in die Höhe wuchs. Zuerst gab es wegen der nach allen Himmelsrichtungen hinausragenden Räume Schwierigkeiten mit der Baugenehmigung, aber Teal überwand sie durch massive Stahlträger und massive Bestechung der Verantwortlichen.
Einen Tag nach der Rückkehr der Baileys erschien Teal vor ihrer Villa und bestätigte nachdrücklich die Mehrklanghupe seines Wagens. Bailey riß die Haustür auf. "Warum klingelst du nicht?"
"Zu langsam", antwortete Teal unbekümmert. "Ich bin ein Mann der Tat. ist deine Frau fertig? Ah, guten Morgen, Mrs. Bailey! Steigen Sie ein, wir haben eine Überraschung für Sie!"
"Du kennst doch Teal, Liebste", warf Bailey unbehaglich ein.
Mrs. Bailey rümpfte die Nase. "Allerdings! Wir fahren in unserem Wagen, Homer."
"Natürlich, Liebste."
"Prima Idee", stimmte Teal zu, "damit kommen wir schneller voran. Am besten fahre ich selbst; ich kenne den Weg." Er nahm Bailey die Schlüssel ab und setzte sich ans Steuer, bevor Mrs. Bailey sich von ihrer Überraschung erholt hatte.
"Ich bin ein völlig sicherer Fahrer", erklärte Teal Mrs. Bailey und drehte sich nach ihr um, während er in Richtung Sunset Boulevard raste. "Ich habe noch keinen schweren Unfall gehabt."
"Sie haben bestimmt nur einen", entgegenete sie bissig. "Sehen Sie bitte nach vorn!"
Teal wollte etwas sagen, aber Bailey unterbrach ihn. "Wo ist das Haus, Quintus?"
"Haus?" fragte mrs Bailey mißtrauisch. "Was soll das; Homer? Hast du mir etwas verschwiegen?"
"Ganz recht, es handelt sich um ein Haus, meine Liebe Mrs Bailey", warf Teal diplomatisch ein. "Eine Überraschung, die ihr Mann sich ausgedacht hat! Warten Sie nur, bis Sie es selbst sehen..."
Das muß ich wohl", stimmte sie grimmig zu. "In welchem Stil ist es gebaut?"
"Dieses Haus verkörpert einen ganz neuen Stil. Es ist neuartig, es ist neuer als die nächste Woche! Man muß es sehen, um diesen Fortschritt richtig würdigen zu können. Da fällt mir übrigens noch etwas ein", fuhr er rasch fort, ohne eine Reaktion abzuwarten, "haben Sie heute Nacht das Erdbeben gespürt?"
"Nur einen kleinen Erdstoß", fügte Teal beruhigend hinzu.
"Gegen zwei Uhr morgens, Wenn ich nicht wach gewesen wäre, hätte ich gar nichts gemerkt."
Mrs. Bailey fuhr zusammen. "Entsetzlich! Hast du das gehört, Homer? Wir hätten in unseren Betten umkommen können, ohne etwas davon zu merken. Warum habe ich mich nur dazu überreden lassen, Iowa zu verlassen?"
"Aber du wolltest doch nach Kalifornien, Liebste", wandte Bailey hoffnungslos ein. "In Des Moines hat es dir nicht mehr gefallen."
"Davon brauchen wir jetzt nicht zu sprechen", erklärte sie ihm. "Du bist ein Mann; du hättest solche Dinge voraussehen müssen. Erdbeben!"
"Davor brauchen Sie in ihrem neuen Haus keine Angst zu haben, Mrs. Bailey", warf Teal ein. "Es ist absolut erdbebensicher!"
"Na, das hoffe ich sehr. Wo steht es überhaupt?"
"Gleich um die nächste Ecke. Hier ist schon die Ankündigung."
Teal zeigte auf eine Reklametafel mit ungewöhnlich großer Schrift:
DAS HAUS DER ZUKUNFT!
KOLOSSAL - NEU - ERSTAUNLICH
REVOLUTIONÄR
Sehen Sie, wie ihre Enkel leben werden!
Q. Teal, Architekt

Fortsetzung folgt!
Gruß

Gothaur
19.12.2011, 11:44
Weiter gehts:
Teil 3
"Die Tafel verschwindet natürlich, bevor Sie einziehen", fügte er hastig hinzu, als er Mrs. Baileys Gesichtsausdruck sah. Er bog um die Ecke und hielt vor dem Haus der Zukunft.
"Voilà!" Er beobachtete die Reaktion der Baileys.
Bailey starrte ungläubig aus dem Fenster, seine Frau verzog angewidert das Gesicht. Sie sahen einen einfachen Würfel mit Fenstern und Türen, der mit mathematischen Symbolen verziert war.
"Was soll das, Teal?" fragte Bailey langsam.
Teal drehte sich nach dem Haus um. Der seltsame Turm war verschwunden. Die Sieben Räume über dem Erdgeschoß fehlten. Nur der unterste ruhte noch auf seinem Fundament.
"Verdammt nochmal!" rief Teal aus. "Ich bin bestohlen worden!"
Er rannte los.
Aber das half nichts. Der Anblick blieb auf allen Seiten gleich: die anderen sieben Räume waren verschwunden. Bailey holte ihn ein und hielt ihn fest.
"Was soll das? Wieso bist du bestohlen worden? Warum hast Du nicht gebaut, was wir vereinbart hatten?"
"Das habe ich ja getan! Ein Achtzimmerhaus als aufgeklappter Tessarakt. Sabotage! Meine sauberen Kollegen wollten sich die Konkurrenz vom Hals schaffen!"
"Wann warst Du zuletzt hier?"
"Gestern nachmittag."
"Und da war noch alles in Ordnung?"
"Ja. Die Gärtner waren fast fertig."
Bailey betrachtete den wunderbar angelegten Garten. "Ich verstehe nicht, wie sieben Räume demontiert und weggeschafft worden sein sollen, ohne daß der Garten darunter gelitten hat."
Teal sah sich um. "Sieht nicht danach aus, was? Das begreife ich auch nicht!"
Mrs. Bailey kam heran. "Na, ich soll mich wohl allein amüsieren? Warum sehen wir es uns nicht wenigstens an? Aber ich warne dich, Homer - es gefällt mir bestimmt nicht."
"Okay", stimmte Teal zu und holte die Schlüssel aus der Tasche. "Vielleicht entdecken wir wenigstens die Spuren der Täter."
Die große Diele im Erdgeschoß schien völlig in Ordnung zu sein; die Schiebetüren zur Garage standen offen, so daß der ganze Raum zu überblicken war.
"Scheint in Ordnung zu sein", stellte Bailey fest. "Vielleicht sehen wir vom Dach aus, was passiert sein muß. Wo ist die Treppe? Oder haben sie die auch gestohlen?"
"Nein, nein", versicherte Teal ihm. Er drückte auf einen Knopf unter dem Lichtschalter; die Treppe sank lautlos von der Decke herab - eine silberglänzende Aluminiumkonstruktion mit schwarzen Plastikstufen. Teal lächelte triumphierend, währen Mrs. Bailey sichtlich auftaute.
"Nicht übel", gab Bailey zu. "Aber sie scheint nirgends hinzuführen..."
"Oh..." Teal folgte seinem Blick. "Die Abdeckung hebt sich automatisch. Offene Treppenhäuser sind ein Anachronismus. Komm!" Er hatte recht. Die Decke über ihnen öffnete sich tatsächlich geräuschlos und ließ sie die nächste Ebene erreichen, die jedoch wider Erwarten nicht aus dem Dach des einzelnen Raumes gebildet wurde. Sie standen in der Mitte eines der fünf Zimmer, die das zweite Geschoß der ursprünglichen Anlage bildeten.
Teal war zum erstenmal in seinem Leben sprachlos. Bailey folgte seinem Beispiel und kaute auf seiner Zigarre herum. Vor ihnen und durch einen offenen Bogen erreichbar lag die Küche - ein Meisterwerk der Innenarchitektur, bei dessen Anblick jede Hausfrau in Verzückung geraten mußte. Links von ihnen erwartete das vornehm, aber trotzdem behaglich möblierte Speisezimmer die ersten Gäste.
Noch bevor Teal den Kopf drehte, wußte er genau, daß der Salon und das Wohnzimmer dort lagen, wo sie sich eigentlich gar nicht befinden konnten.
"Wirklich hübsch, das muß ich zugeben", stellte Mrs. Bailey anerkennend fest, "und die Küche ist geradezu phantastisch - obwohl ich nie gedacht hätte, daß einem Haus dieser Größe im ersten Stock soviel Platz sein würde. Aber manche Änderungen sind natürlich unvermeidlich. Wenn wir das Sofa hierher stellen, damit die...."
"Halt die Klappe, Mathilda", unterbrach Bailey sie grob. "Was hälst du davon, Teal?"
"Homer Bailey! Wie kommst du dazu, mir...."
"Halt die Klappe, habe ich gesagt. Na, Teal?"
Der Architekt zuckte unbehaglich mit den Schultern. "Das sage ich lieber noch nicht. Kommt, wir gehen weiter hinauf."
"Wie denn?"
"So." Teal drückte auf einen Knopf; die nächste Treppe senkte sich herab. Sie stiegen hinauf, ohne auf Mrs. Bailey zu achten, die ihnen schimpfend folgte, und befanden sich im Schlafzimmer.
Auch hier waren die Vorhänge wie im ersten Stock geschlossen, aber die indirekte Beleuchtung wurde automatisch eingeschaltet. Teal drückte sofort auf den Knopf für die nächste Treppe, und sie eilten in das Arbeitzimmer hinaus.
"Hör zu, Teal", schlug Bailey vor, als er Atem geschöpft hatte, "können wir aufs Dach über diesen Raum hinaus? Dann könnten wir uns umsehen."
"Klar - dort oben befindet sich eine Beobachtungsplattform."
Sie stiegen die vierte Treppe hinauf, aber als die Abdeckung sich hob, um sie die nächste Ebene betreten zu lassen, standen sie nicht auf dem Dach - sondern in dem Raum im Erdgeschoß, durch den sie das Haus betreten hatten.
Mr. Bailey wurde blaß. "Alle Heiligen, helft mir!" rief er. "In diesem Haus spukt es. Komm, wir bleiben keine Sekunde länger hier!" Er zog seine Frau hinter sich her, riß die Haustür auf und stürmte hinaus.
Teal war zu beschäftigt, um auf ihren Abgang zu achten. Er überlegte noch, ob er seinen fünf Sinnen trauen sollte, als er irgendwo über sich Rufe hörte. Er ließ die Treppe herab und eilte nach oben. Bailey stand in dem mittleren Raum über seine Frau gebeugt, die ohnmächtig geworden war. Teal lief zur Hausbar und kam mit einem Glas Cognac zurück, das er Bailey gab. "Da - das hilft bestimmt."
Bailey trank den Cognac. "Der war für deine Frau", sagte Teal.
"Schon gut", knurrte Bailey. "Hol ihr noch einen." Teal war vorsichtig genug, erst selbst einen zu kippen. Als er mit dem Glas zurückkam, schlug Mrs. Bailey eben die Augen auf.
"Hier, Mrs. Bailey", beruhigte er sie. "Das hilft Ihnen auf die Beine."
"Ich trinke nie Alkohol", protestierte sie - und leerte das Glas mit einem Zug.
"Was ist eigentlich passiert?" erkundigte Teal sich. "Ich dachte, ihr wärt gegangen."
"Das wollten wir auch" Wir sind aus der Haustür getreten und waren plötzlich hier oben..."
"Unmöglich! Hm, Augenblick." Teal ging in den Salon. Dort stand das große Fenster offen. Er sah vorsichtig hinaus und hatte nicht die kalifornische Landschaft, sondern den Raum im Erdgeschoß vor sich - oder eine täuschend ähnliche Nachbildung. Er ging schweigend zur Treppe. Der Raum lag unter ihm. Irgendwie brachte er es fertig, gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten auf zwei Ebenen zu sein.
Teal kam in den mittleren Raum zrück, ließt sich den Baileys gegenüber in einen Sessel fallen und zog die knochigen Knie hoch. "Homer", begann er, "weißt du, was passiert ist?"
"Nein, das weiß ich nicht - aber wenn ich es nicht bald erfahre, passiert ein Unglück!"
"Homer, meine Theorien sind bestätigt. Dieses Haus ist ein echter Tesserakt.
"Was meint er, Homer?"
"Warte, Mathilda.....nein, das ist lächerlich, Teal. Du hast dir diesen Streich ausgedacht, um uns zu ängstigen. Aber das lassen wir uns nicht gefallen, verstehst du? Wir wollen hinaus!"
"Du kannst nur für dich sprechen, Homer", warf seine Frau ein. "Ich habe keine Angst gehabt; mir war nur ein bißchen komisch. Das liegt in der Familie - wir sind alle zart und empfindlich. Was ist also mit diesem Tessy-Ding, Mr. Teal? Los, reden Sie schon.!"
Teal erklärte ihr, so gut er das wegen zahlreicher Unterbrechungen konnte, auf welcher Theorie die Konstruktion des Hauses beruhte. "Wie ich jetzt sehe, Mrs. Bailey", schloß er, "war dieses Haus, das in drei Dimensionen völlig stabil ist, in vier Dimensionen bedauerlicherweise labil. Ich hatte es als aufgeklappten Tesserakt gebaut, aber irgendein heftiger Stoß hat bewirkt, daß es zusammenklappte."
Er schnalzte plötzlich mit den Fingern.
"Ich hab's - das Erdbeben!"
"Erdbeben?"
"Ja, ja, der kleine Erdstoß von heute nacht. Vom vierdimensionalen Standpunkt aus war das Haus so labil, daß ein Stoß genügte, um es zu einer stabilen dreidimensionalen Figur zusammenfallen zu lassen."
"Ich dachte, Sie hätten vorhin erwähnt, wie sicher dieses Haus ist..."
"Das ist es auch - dreidimensional!"
"Ich nenne ein Haus aber nicht sicher", stellte Bailey aufgebracht fest, " das beim ersten kleinen Stoß umfällt."
"Sieh dich doch um!" protestierte Teal. "nichts ist verändert, kein Stück Prozellan ist angeknackst. Die Rotation durch die vierte Dimension beeinflußt eine dreidimensionale Konfiguration überhaupt nicht. Ihr hätte nichts davon gemerkt, wenn ihr hier geschlafen hättet.
"Das fürchte ich eben! Ist dir übrigens schon eingefallen, wie wir hier wieder herauskommen?"

Fortsetzung folgt!

Gruß

Gothaur
21.12.2011, 10:48
Weiter gehts:
Teil 4
"Was?", sagte Teal, " Oh, ganz recht. Ihr wolltet gehen und seid hier oben gelandet, nicht wahr? Aber es gibt bestimmt eine Möglichkeit - wir sind hereingekommen, wir können hinaus. Ich werde es gleich versuchen." Er eilte die Treppe hinab, riß die Haustür auf, trat über die Schwelle - und stand den Baileys im ersten Stock des Hauses gegenüber. "Hmm, das scheint ein gewisses Problem zu sein", gab er zu. "Aber wir können noch immer durch ein Fenster hinaus."
Er trat an die großen Fenstertüren des Salons und zog den Vorhang zurück. "Hmm", meinte er dann, "interessant, sehr interessant."
"Warum?" fragte Bailey und kam näher.
"Darum!" Das Fenster führte genau ins Speisezimmer statt ins Freie. Bailey ging rückwärts bis zu der Ecke, wo Salon und Speisezimmer in einem Winkel von neuzig Grad an den zentralen Raum anstießen.
"Aber das ist doch unmöglich!" protestierte er. "Das Fenster ist fünf, sechs Meter vom Speisezimmer entfernt."
"Nicht in einem Tesserakt", verbesserte Teal ihn. "Paß auf!" Er öffnete das Fenster, trat hindurch und sprach dabei über seine Schulter hinweg mit Bailey.
Von den Baileys aus verschwand er einfach.
Aber nicht von seinem eigenen Standpunkt aus. Er brauchte einige Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen. Dann arbeitete er sich mühsam aus einem Rosenbeet hervor, faßte den Entschluß, nie wieder Gärten mit Rosen anlegen zu lassen, und sah sich um.
Er befand sich außerhalb des Huses. Die massigen Mauern des Erdgeschosses ragten neben ihm auf. Offenbar war er vom Dach gefallen.
Teal lief ums Haus, riß die Tür auf und rannte in den ersten Stock. "Homer!" rief er. "Mrs. Bailey! Ich haben einen Ausgang entdeckt!"
Bailey wirkte eher wütend als erleichtert. "Wo hst Du gesteckt?" wollt er wissen.
"Ich bin hinausgefallen. Ich war draußen. Das könnt ihr auch - ihr braucht nur durch diese Fenstertür zu gehen. Aber paßt auf die Rosen auf, solange wir noch keine Treppe gebaut haben."
"Wie bist du wieder hereingekommen?"
"Durch die Haustür."
"Dann gehen wir dort hinaus. Komm, Liebste". Bailey setzte sich seinen Hut auf und marschierte mit seiner Frau die Treppe hinunter.
Teal erwartete sie im Salon. "Ich hätte euch sagen können, daß das nicht klappen würde", behauptete er. "Aber ich habe mir die Sache inzwischen überlegt:wie ich sehe, hat ein dreidimensionaler Mensch in einem vierdimensionalen Haus jeweils zwei Möglichkeiten zur Wahl, wenn er eine Verbindungslinie wie eine Mauer, oder einen Schwelle überquert. Normalerweise biegt er im rechten Winkel durch die vierte Dimension ab, obwohl er das in der dritten nicht spürt. Sehr her!" Er trat durch die gleiche Fenstertür wie vorhin. Aber diesmal fiel er nicht, sondern tauchte im Speisezimmer auf.
"Ich habe auf den Weg geachtet und bin dort angekommen, wohin ich wollte." Teal kam in den Salon zurück. "Vorher habe ich nicht aufgepaßt und bin im Normalraum aus dem Haus gefallen. Das scheint eine Frage der unbewußten Orientierung zu sein."
"Ich möchte aber nicht von unbewußter Orientierung abhängig sein, wenn ich die Morgenzeitung hereinhole!"
"Das geht später ganz automatisch", beruhigte Teal ihn. "Wenn Sie das Haus verlassen wollen, Mrs. Bailey, brauchen Sie sich nur mit dem Rücken zu diesem Fenster zu stellen und hinauszuspringen. Ich bin davon überzeugt, daß Sie im Garten landen werden.
Mrs. Bailey Gesichtsausdruck zeigte, was sie von Teal und seinen Ideen hielt. "Homer Bailey", keifte sie, "willst du etwa zulassen, daß ich...."
"Wir können Sie natürlich anseilen, und..."
"Schlage dir das aus dem Kopf, Teal", unterbrach Bailey ihn.
"Wir müssen eine bessere Möglichkeit finden. Meine Frau und ich springen nicht aus dem Fenstern".
Teal dachte angestrengt nach, bis Bailey das folgende Schweigen mit der Frage unterbrach: "Hast du das gehört, Teal? Irgendwo hat jemand gesprochen. Glaubst du, daß andere Leute im Hause sind und uns Streiche spielen?"
"Ausgeschlossen! Ich habe alle Schlüssel."
"Aber ich bin davon überzeugt", warf Mrs. Bailey ein. "Ich habe die Stimmen gleich gehört. Homer, das halte ich nicht aus. Tu endlich etwas!"
"Nur keine Aufregung, Mrs. Bailey", beschwichtigte Teal sie.
"Hier kann sonst niemand sein, aber ich sehe trotzdem gleich nach. Homer, du bleibst bei deiner Frau und beobachtest die Zimmer im ersten Stock."
Er ging aus dem Salon ins Erdgeschoß und von dort aus durch die Küche ins Schafzimmer weiter. Dadurch kam er auf geradem Wege in den Salon zurück - er war immer geradeaus gegangen und befand sich nun wieder am Ausgangspunkt.
"Niemand da", berichtete er. "Ich habe alle Fenster und Türen geöffnet - nur das hier nicht." Er trat an das Fenster, das der Fenstertür, durch die er vorhin gefallen ar, genau gegenüberlag, und zog den Vorhang zurück.
Teal sah vier Räume weiter einen Mann stehen, der ihm den Rücken zukehrte. Er riß das Fenster auf, kletterte hindurch und rief dabei: "Da ist er.! Haltet den Dieb!"
Der Mann schien ihn gehört zu haben; er floh eilig. Teal verfolgte ihn durch Wohnzimmer, Küche, Speisezimmer, Salon... durch Raum nach Raum, ohne ihn einholen zu können. Der Vorsprung des anderen betrug immer vier Räume.
Er sah den Verfolgten ungelenk durch ein Fenster klettern, wobei er seinen Hut verlor. Als er diese Stelle erreichte, hob er die Kopfbedeckung auf und war froh, endlich Atem schöpfen zu können. E stand wieder im Salon.
"Der Kerl ist mir entwischt!" gab er zu. "Aber ich habe seinen Hut. Vielleicht können wir ihn dadurch identifizieren."
Bailey betrachtete den Hut, schnaubte verächtlich und setzte ihn Teal auf. Der Hut paßte. Teal nahm ihn verwirrt ab, sah hinein und entdeckte das monogramm Q.T. auf dem Schweißband.
Der Hut gehört ihm.
Teal ging ein Licht auf. Er trat wieder an das Fenster, sah in die gleiche Richtung und schien dabei Winksignale mit den Armen zu geben. "Was tust du da?" wollte Bailey wissen.
"Sehr euch das an!" Die Baileys kamen heran und folgten seinem Blick. Vier Räume weiter sahen sie drei Gestalten von hinten: zwei Männer und eine Frau. Der größere hagere Mann wedelte komisch mit den Armen.
Mrs. Bailey kreischte auf und fiel wieder in Ohnmacht.

Fortsetzung, Teil 5 und letzter Teil folgt.

Gruß

Sathington Willoughby
21.12.2011, 11:35
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hier ein passendes Bild. Nette Geschichte!

Gothaur
22.12.2011, 14:10
Weiter gehts:
Teil 5, und letzter Teil
Einige Minuten später, als Mrs. Bailey wiederbelebt und beruhigt worden war, diskutierten Bailey und Teal die Lage.
"Ich möchte dir jetzt keine Vorwürfe machen, Teal", sagte Bailey. "Sie wären zwecklos, und ich bin davon überzeugt, daß du das alles nicht vorausgesehen hast. Aber du siehst doch ein, wie ernst unsere Situation ist? Wie sollen wir wieder hinauskommen? Wahrscheinlich müssen wir hier verhungern, denn jeder Raum führt in einen anderen.
"Du bis zu pessimistisch, Homer. ich war doch schon einmal im Freien."
"Ja, aber du kannst den Trick nicht wiederholen!"
"Außerdem haben wir es noch nicht mit allen Zimmern versucht. Ich denke, dabei auch an das Arbeitszimmer..."
"Glaubst du, daß wir dort durch die Fenster hinauskönnen?"
"Wer weiß? Mathematisch müßten sie zu den vier Nebenräumen dieses Stockwerks führen. Aber wir haben die Vorhänge noch nicht geöffnet; vielleicht sollten wir das einmal tun."
"Meintwegen. Liebste, du bleibst am besten hier und ruhst dich aus, während wir..."
"Ich soll hier allein bleiben? Kommt nicht in Frage!" Mrs. Bailey war plötzlich wieder auf den Beinen.
Sie gingen ins Arbeitszimmer hinauf. Teal trat an das nächste Fenster. "Schön, sehen wir also hinaus. Theoretisch müßten wir die Küche vor uns haben." Er zog an der Schnur, der Vorhang glitt zur Seite.
Das Fenster führte nicht in die Küche hinaus. Ein Blick genügte, um sie schwindlig werden zu lassen, denn sie sahen nicht hinaus, sondern aus großer Höhe hinab. Teal brachte es mit gewaltiger Anstrengung fertig, den Vorhang wieder zu schließen.
Mrs. Bailey war erneut ohnmächtig geworden.
Teal holte Cognac, während Bailey sich um sie bemühte. Als sie zu sich gekommen war, ging er an das Fenster und schob den Vorhang etwas zur Seite. Dann winkte er Bailey heran. "Sieh dir das an, Homer. Erkennst du das?"
"Du bleibst hier, Homer Bailey!"
"Ich bin ganz vorsichtig, Mathilda". Bailey trat neben Teal.
"Siehst du die Wolkenkratzer? Das ist das Chrysler Building. und dort liegen der East River und Brooklyn." Die beiden Männer sahen an der Außenwand eines Gebäudes herab, das nur das Empire State Building sein konnte. Unter ihnen ersteckten sich die Häuserschluchten New Yorks.
"Was ist das?" fragte Bailey. "Eine Luftspiegelung?"
"Nein, dazu sind alle Details zu perfekt. Ich glaube, daß der Raum hier in der vierten Dimension gefaltet ist - und wir sehen an der Falte vorbei."
"Wir sehen New York also nicht wirklich?"
"Doch, wir sehen es! Ich weiß nicht, was passieren würde, wen wir aus dem Fenster klettern würden, aber ich möchte es nicht versuchen. Die Aussicht! Fabelhaft! Komm, wir sehen auch aus den anderen Fenstern.
Sie näherten sich dem nächsten Fenster mit gebührender Vorsicht. Diesmal sahen sie ein offenes Meer unter blauem Himmel - aber das Wasser war oben und der Himmel unten. Teal und Bailey wurden bei diesem Anblick fast seekrank und schlossen rasch den Vorhang, bevor Mrs. Bailey reagieren konnte.
Teal sah zu dem dritten Fenster hinüber. "Hast du noch Mut, Homer?"
"Hmm....na, wir finden doch keine Ruhe, wenn wir es nicht versuchen. Aber sei vorsichtig!" Teal schob den Vorhang zur Seite und sah nichts. Er öffnete ihn weiter - noch immer nichts. Er zog ihn langsam ganz auf. Sie sahen - nichts. Vor dem Fenster erstreckte sich ein formloses, farbloses Nichts.
Bailey nahm seine Zigarre aus dem Mund. "Wie erklärst du dir das, Teal?"
Teals Gelassenheit hatte einen erheblichen Knacks bekommen. "Dafür habe ich keine Erklärung, Homer. Aber ich glaube, daß es besser wäre, dieses Fenster zuzumauern." Er starrte den geschlossenen Vorhang an. "Wahrscheinlich haben wir einen Teil des vierdimensionalen Raumes gesehen, der überhaupt nicht existiert. Wir haben um eine Ecke gesehen - aber dort war nichts." Er rieb sich die Augen. "Ich habe Kopfschmerzen."
Sie warteten einige Zeit, bevor sie es mit dem vierten Fenster versuchten. Bailey öffnete den Vorhang selbst, obwohl seine Frau dagegen protestierte.
Es war nicht so schlimm. Vor ihnen erstreckte sich eine Landschaft in der gleichen Höhe mit dem Fenster des Arbeitszimmers. Aber die Szenerie war entschieden unfreundlich.
Eine heiße Sonne brannte aus dem grauen Himmel herab. Der Erdboden war ausgedörrt, sandig und steril. Die einzigen Planzen waren knorrige Bäume mit spitzen Blättern an den aäußersten Enden ihrer Zweige.
"Wo ist das?! fragte Bailey erstaunt.
"Teal zuckte schweigend mit den Schultern.
"Das sieht gar nicht wie die Erde aus. Vielleicht ist es der Mars."
"Keine Ahnung, Homer. Aber vielleicht ist alles noch schlimmer. Vielleicht liegt das gar nicht mehr in unserer Galaxis. Ich weiß nicht, ob das unsere Sonne ist. Sie kommt mir zu hell vor."
Mrs Bailley war zögernd herangekommen und betrachtete jetzt die fremdartige Landschaft. "Homer", sagte sie leise, "ich fürchte mich for diesen scheußlichen Bäumen."
Er tätschelte ihre Hand.
Teal trat näher an das Fenster heran.
"Was hast du vor?" wollte Bailey wissen.
"ich stecke den Kopf ins Freie - vielleichgt sehe ich dann mehr."
"Gut, meinetwegen", stimmte Bailey zu. "Aber sei vorsichtig!"
Teal öffnete das Fenster einen Spalt weit und atmete prüfend ein. "Na, wenigstens die Luft ist in Ordnung." Er öffnete das Fenster ganz.
Bevor er seine Absicht verwirklichen konnte, wurde er abgelenkt. Ein leichtes Zittern lief durch das Haus und klang wieder ab.
"Ein Erdbeben!" sagten sie alle gleichzeitig. Mrs. Bailey umklammerte schluchzend ihren Mann.
"Nur keine Aufregung, Mrs. Bailey!" sagte Teal. "In diesem Haus sind sie völlig sicher. Das war nur ein harmloses Nachbeben". Er hatte eben ein beruhigendes Gesicht gemacht, als der zweite Stoß kam, der die Wände schwanken ließ.
In jedem Kalifornier schlummert ein Reflex, der ihn dazu bringt, bei einem Erdbeben um jeden Preis ins Freie zu streben. In diesem Fall landeten Teal und Bailey auf Mrs. Bailey, die offenbar als erste aus dem Fenster gesprungen war. Diese Reihenfolge beruhte sicher nicht auf der Höflichkeit der beiden Gentlemen; wir müssen vielmehr annehmen, daß Mrs. Bailey sich nur in günstigerer Ausgangsposition befand.
Sie rappelten sich auf, rieben sich Sand aus den Augen und waren froh, festen Boden unter den Füßen zu haben. Dann merkte Bailey etwas, das selbst Mrs Bailey sprachlos machte.
"Wo ist das Haus?"
Es war spurlos verschwunden. Sie standen inmitten der trostlosen Landschaft, die sie vom Fenster aus gesehen hatten. Bailey sah sich um und wandte sich dann an den Architekten. "Wie erklärst du dir das?" fragte er drohend.
Teal zuckte hilflos mit den Schultern. "Voräufig gar nicht", gab er zu. "ich weiß nicht einmal, ob wir noch auf der Erde sind".
"Hier können wir nichtg stehenbleiben", entschied Bailey, "welche Richtung, Teal?"
"Irgendeine. Wir mÜssen uns nach dem Sonenstand orientieren."

Sie hatten eine größere Strecke zurückgelegt, als Mrs. Bailey rasten wollte. Teal nahm Bailey beiseite und fragte. "Ist dir schon etwas eingefallen?"
"Nein, noch nichts...Sag mal, hörst du das?"
Teal nickte. "Ein Auto - falls wir nicht schon phantasieren."
"Das ist ein Auto !" versicherte Bailey ihm.
Bis zur Straße waren es weniger als hundert Meter. Das Auto kam heran und erwies sich als ein alter Lieferwagen mit einem Rancher am Steuer. Der Fahrer hielt, als sie winkten. "Wir liegen hier fest. Können Sie uns mitnehmen?"
"Klar. Steigt nur ein!"
"Wohin fahren Sie?"
"Los Angeles."
"Wo sind wir hier überhaupt?"
"Mitten im Yucca-Nationalpark."

Ihre Rückkehr war so entmutigend wie Npoleons Rückzug aus Moskau. Mr. und Mrs. Bailey saßen vorn neben dem Fahrer, während Teal auf der offenen Ladefläche hockte. kräftig durchgeschüttelt wurde und seinen Kopf vor der Sonne zu schützten versuchte. Bailey gab dem freundlichen Rancher ein Trinkgeld, damit er einen Umweg zu dem Tesserakt-Haus machte - aber nicht etwa, weil sie es wiedersehen wollten, sondern um ihren dort geparkten Wagen zu holen.
Schließlich bog der Lieferwagen um die Ecke, hinter der ihr Abenteuer begonnen hatte. Aber das Haus stand nicht mehr dort. Selbst der Erdgeschoßraum war nicht mehr zu sehen. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Die Baileys stocherten gemeinsam im Teal im Fundament herum.
"Kannst du dir das erklären, Teal?" fragte Bailey.
"Ich nehme an, daß das Haus bei dem letzten Stoß einfach in einen anderen Raum gefallen ist. Offenbar hätte ich es besser im Fundament verankern sollen."
"Das ist nicht alles, was du hättest tun sollen!"
"Hör zu, ich sehe nicht ein, weshalb du so deprimiert bist. Das Haus war versichert, und wir haben Erstaunliches gelernt. Stell dir die Möglichkeiten vor, Mann, diese Möglichkeiten! Ich habe schon jetzt eine Idee, wie man ein revolutionäres neuartiges Haus bauen kann, das..."
Teal duckte sich rechtzeitig, so daß Baileys Schwinger ihn verfehlte.

Ende

Und nicht vergessen, die Story wurde 1940 geschrieben. :)
Gruß