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Vollständige Version anzeigen : Über die Krise: Was nun?



Gawen
07.06.2011, 07:28
Der alte Trotzki hat mir gestern mal wieder ein Grinsen auf die Lippen gezaubert... :D

"Der deutsche Kapitalismus offenbart sich in der gegenwärtigen Krise aus dem entgegengesetzten Grunde als das schwächste Glied: er ist der fortgeschrittenste Kapitalismus unter den Bedingungen der europäischen Ausweglosigkeit. Je größer die innere dynamische Kraft der Produktivkräfte Deutschlands ist, desto mehr wird sie durch das europäische Staatensystem erdrosselt, das dem Käfig-System einer zusammengeschrumpften Provinzmenagerie gleicht. Jede Konjunkturschwankung stellt den deutschen Kapitalismus vor jene Aufgaben, die er mittels des Krieges zu lösen versucht hatte. Unter dem Hohenzollern-Regime [1] war die deutsche Bourgeoisie darangegangen, „Europa zu organisieren“. Durch die Regierung Brüning-Curtius [2] unternahm sie den Versuch der ... Zollunion mit Österreich. Welch schrecklicher Niedergang der Aufgaben, Möglichkeiten und Perspektiven! Aber auch auf diese Union mußte man verzichten. Das ganze europäische System steht auf schwachen Beinen. Die große, heilbringende Hegemonie Frankreichs könnte zusammenstürzen, wenn sich einige Millionen Österreicher Deutschland anschließen.

Für Europa und vor allem für Deutschland gibt es kein Vorwärts auf kapitalistischem Wege. Eine vorübergehende Überwindung der gegenwärtigen Krise durch das automatische Kräftespiel des Kapitalismus selbst – auf den Knochen der Arbeiter – würde die Reproduktion der Widersprüche auf der nächsten Etappe bedeuten, nur in noch konzentrierterer Gestalt.

Europas spezifisches Gewicht in der Weltwirtschaft kann nur abnehmen. Von der Stirn Europas verschwinden ohnehin schon nicht die amerikanischen Etiketten: Dawesplan, Youngplan, Hoovermoratorium. [3] Europa ist gründlich auf amerikanische Ration gesetzt.

Die Fäulnis des Kapitalismus bedeutet soziale und kulturelle Fäulnis. Der fälligen Differenzierung der Nation, dem Wachstum des Proletariats auf Kosten der Zwischenklassen ist der Weg verlegt. Das weitere Anhalten der sozialen Krise kann nur Pauperisierung der Kleinbourgeoisie und lumpenproletarische Entartung immer größerer Schichten der Arbeiterklasse bedeuten. Diese Gefahr sitzt – einschneidender als alles andere – dem fortschrittlichen Deutschland an der Gurgel.

Der verfaulteste Teil des faulenden kapitalistischen Europa ist die sozialdemokratische Bürokratie. Sie hatte ihren historischen Weg unter Marxens und Engels’ Banner angetreten und sich den Sturz der bürgerlichen Herrschaft zum Ziel gestellt. Der machtvolle Aufschwung des Kapitalismus nahm von ihr Besitz und schleifte sie hinter sich her."

http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1932/wasnun/vorwort.htm


Brilliante Situationsanalyse. Irgendwie könnte man das mit ein paar kleinen Änderungen glatt von 1931 auf heute übertragen...

RUMPEL
10.06.2011, 22:14
Der alte Trotzki hat mir gestern mal wieder ein Grinsen auf die Lippen gezaubert... :D

"Der deutsche Kapitalismus offenbart sich in der gegenwärtigen Krise aus dem entgegengesetzten Grunde als das schwächste Glied: er ist der fortgeschrittenste Kapitalismus unter den Bedingungen der europäischen Ausweglosigkeit. Je größer die innere dynamische Kraft der Produktivkräfte Deutschlands ist, desto mehr wird sie durch das europäische Staatensystem erdrosselt, das dem Käfig-System einer zusammengeschrumpften Provinzmenagerie gleicht. Jede Konjunkturschwankung stellt den deutschen Kapitalismus vor jene Aufgaben, die er mittels des Krieges zu lösen versucht hatte. Unter dem Hohenzollern-Regime [1] war die deutsche Bourgeoisie darangegangen, „Europa zu organisieren“. Durch die Regierung Brüning-Curtius [2] unternahm sie den Versuch der ... Zollunion mit Österreich. Welch schrecklicher Niedergang der Aufgaben, Möglichkeiten und Perspektiven! Aber auch auf diese Union mußte man verzichten. Das ganze europäische System steht auf schwachen Beinen. Die große, heilbringende Hegemonie Frankreichs könnte zusammenstürzen, wenn sich einige Millionen Österreicher Deutschland anschließen.

Für Europa und vor allem für Deutschland gibt es kein Vorwärts auf kapitalistischem Wege. Eine vorübergehende Überwindung der gegenwärtigen Krise durch das automatische Kräftespiel des Kapitalismus selbst – auf den Knochen der Arbeiter – würde die Reproduktion der Widersprüche auf der nächsten Etappe bedeuten, nur in noch konzentrierterer Gestalt.

Europas spezifisches Gewicht in der Weltwirtschaft kann nur abnehmen. Von der Stirn Europas verschwinden ohnehin schon nicht die amerikanischen Etiketten: Dawesplan, Youngplan, Hoovermoratorium. [3] Europa ist gründlich auf amerikanische Ration gesetzt.

Die Fäulnis des Kapitalismus bedeutet soziale und kulturelle Fäulnis. Der fälligen Differenzierung der Nation, dem Wachstum des Proletariats auf Kosten der Zwischenklassen ist der Weg verlegt. Das weitere Anhalten der sozialen Krise kann nur Pauperisierung der Kleinbourgeoisie und lumpenproletarische Entartung immer größerer Schichten der Arbeiterklasse bedeuten. Diese Gefahr sitzt – einschneidender als alles andere – dem fortschrittlichen Deutschland an der Gurgel.

Der verfaulteste Teil des faulenden kapitalistischen Europa ist die sozialdemokratische Bürokratie. Sie hatte ihren historischen Weg unter Marxens und Engels’ Banner angetreten und sich den Sturz der bürgerlichen Herrschaft zum Ziel gestellt. Der machtvolle Aufschwung des Kapitalismus nahm von ihr Besitz und schleifte sie hinter sich her."

http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1932/wasnun/vorwort.htm


Brilliante Situationsanalyse. Irgendwie könnte man das mit ein paar kleinen Änderungen glatt von 1931 auf heute übertragen...

Seit 1990 schleift der Kapitalismus die sozialdemokratische Bürokratie oder gleich gar die ganze Sozialdemokratie hinter sich her. Die Arbeiterschaft sah es mit Staunen.. und meistens mit Grausen, war sich aber trotzdem nicht zu blöd, "ihrem" Kaschmir-Kanzler zu applaudieren und ihm Ovationen darzubieten wo immer sie seiner ansichtig wurde.

Wo der "alte Trotzki" recht hat, hat er recht... was nichts daran ändert, dass gerade ER dem geschmähten Kapitalismus nahezu alles, einschliesslich der gelungenen Revolution, zu verdanken hat.