marc
22.03.2011, 05:21
Moin,
In den 60er-Jahren begannen jüdische und christliche Theologen mit dem Versuch, den "Gottesbegriff nach Auschwitz" (Hans Jonas) zu systematisieren und prägten den Begriff der "Theologie nach Auschwitz", den man -wenn man sich die Resultate anschaut- durchaus mit dem Titel des berühmten Buches von Hans Jonas "Das Elend der Theologie" kombinieren kann. Zumindest kam mir dieser Gedanke, als ich gestern einen Text gelesen habe (Link lädt .doc-Datei herunter (http://www.google.de/url?sa=t&source=web&cd=2&ved=0CCUQFjAB&url=http%3A%2F%2Fwww.theology.de%2Fdownloads%2Fhol ocausttheologie.doc&rct=j&q=theologie%20nach%20auschwitz&ei=6R6ITdj2A4PtOZap0PQN&usg=AFQjCNG-b74YMP2CDcPvoflq9mHDNtnXsg)), in dem die Positionen verschiedener Theologen von jüdischer und christlicher Seite vorgestellt wurden.
Es lässt sich natürlich einwenden, daß es einer expliziten Theologie nach Auschwitz insofern nicht bedürfe, weil schon vor dem Holocaust genug passiert ist, um von einer "Theologie nach der Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner", einer "Theologie nach den Kongogräueln", einer "Theologie nach dem Völkermord an den Armeniern" usw. usf. zu sprechen, aber erstens würde das Problem Völkermord als zugespitztes Teilproblem der Theodizee ja weiterhin bestehen, zweitens ist die Shoah theologisch insofern vertrackter, weil es sich um das "auserwählte Volk" etc. handelt, und drittens ... err: können wir über Singularität (Ja, Nein, Inwiefern) an anderer Stelle diskutieren.
Jedenfalls lassen sich die Deutungs- und Erklärungsversuche folgendermaßen zusammenfassen:
1.) JHWHs Strafe für den Zionismus
So sagt Joel Teitelbaum, die Shoah sei das göttliche Strafgericht für die Sünde des Zionismus. Der Zionismus verkörpere den Abfall Israels von Gottes Weisung, geduldig in der Verbannung auszuharren, bis der Messias das Reich Davids wieder hergestellt habe und die Juden von allen 4 Enden der Erde sammle.
2.) JHWHs Strafe für Assimiliation und/oder Gottlosigkeit der Juden.
Umgekehrt sagt der Rabbiner Issaschar Schlomo Teichtal, die Shoah sei die Strafe für die Assimilation. Gerade in Deutschland, wo die religiöse Anpassung sich am stärksten ausgeprägt hat, sei die Verfolgung am härtesten gewesen.
3.) JHWHs Strafe für wiedergeborene Seelen, die dereinst gesündigt hatten.
Der jetzige Oberrabbiner von Jerusalem Ovadia Yosef hat die gewagteste Erklärung des Holocaust: Die Ermordeten von Auschwitz seien die wiedergeborenen Seelen, die in früheren Generationen gesündigt haben.
Ovadia Yosef ist übrigens auch der Mensch, der den Palästinensern sprichwörtlich die Pest an den Hals wünschte und erklärte, daß die Goyim nur geschaffen worden seien, um dem auserwählten Volk zu dienen.
4.) JHWH/Gott ist (seit der Schöpfung) nicht (mehr) allmächtig.
Dies wird so häufig vertreten, daß es müßig ist, sämtliche Verfechter anzuführen. Differenzen bestehen hinsichtlich der Frage, ob sich Gott erst nach der Schöpfung "zurückgezogen" hat (Hans Jonas), ob er prinzipiell nur "werbende Impulse" (Ein katholischer Theologe) ausübe, oder ob er gar nur "Angebote von innerer Kraft" machen würde, die Menschen dann benutzen könnten, um zu einer Art Mitschöpfer zu werden - also ein bißchen so wie bei den Jedi-Rittern. (Ebenfalls katholischer T.)
5.) JHWH/Gott war ebenfalls leidendes Opfer in Auschwitz und ist jetzt tot. ("Gott-ist-tot-Theologie")
"Gott ist tot und wir haben ihn getötet." - Friedrich Hitler
Die Steigerung von Position 4, bei der die Grenzen zwischen Religiösität und Atheismus verschwimmen. Ein weites Feld, das ich nicht überblicke.
6.) JHWH/Gott war ebenfalls leidendes Opfer in Auschwitz, hat aber überlebt.
Im Gegensatz zu 4 und 5 ist unter orthodoxen Religiösen diese Überlegung am weitesten verbreitet. Es gibt dutzende Zitate, die Gott währenddessen am Kreuz hängen sehen (Papst Benedikt), als ermordetes Kind (Eli Wiesel), als weinendes Kind, als weinenden Gott, der mit-leidet usw. usf. Der Nachteil ist freilich, daß es nichts erklärt.
7.) JHWH/Gott hat helle (Gründung Israels) und dunkle (Holocaust) Seite.
Etwas weiter kann uns Eliezer Berkovitz helfen. Dieser orthodoxe Rabbiner (...) sagt ganz deutlich, Gott habe zwei Seiten, eine dunkle und eine helle. Das sei sein unerforschliches Wesen. Manchmal wende er sich von der Welt ab, manchmal wieder ihr zu. So stelle die Gründung des Staates Israel „ein Lächeln auf dem Antlitz Gottes“ dar.
8.) JHWH/Gott(es Wille) ist allgemein unerforschlich.
Ebenfalls eine sehr weitverbreitete Theorie, die keiner weiteren Erklärung bedarf.
Interessant ist aber, daß die Unerforschlichkeit von Gottes Willen zwar auf Völkermorde u. Ä. zutrifft, sein Wille bezüglich des Sexualverhaltens von Menschen aber nicht präzise genug formuliert werden kann.
Aber manchmal muss man halt Prioritäten setzen...
9.) Gottes Strafe für Ablehnung von Jesus als den Messias.
Ein Klassiker, der an die besten Werte des christlich-jüdischen Abendlands anknüpft:
Arthur Kaatz (ein Judenchrist aus Amerika, oder, wie man heute sagt, ein messianischer Jude) denkt noch in den Kategorien von Schuld der Menschen, in diesem Falle Schuld der Juden und Strafe Gottes, Kategorien, die m.E. in der Shoah zerbrochen sind (s.o.). Die Shoah sei die Strafe dafür, dass das jüdische Volk den Messias Jesus abgelehnt habe.
10.) Holocaust war eine "Heiligung des Namens Gottes" durch Martyrium
Michael Wyschogrod (...) weiß mit der ganzen jüdischen Tradition, dass das Martyrium eine Heiligung des Namens Gottes ist, und dass dieses Martyrium vor allem bei Zwang zum Götzendienst und zum Mord geboten ist. Er transformiert es so: Ich möchte in Gott leben und in Gott sterben und mich in Gott lebend begraben.
Ich weiß zwar nicht genau, was es bedeutet, sich in Gott "lebend begraben" zu lassen, aber mein Übersetzungsversuch lautet eben: "Holocaust war eine 'Heiligung des Namens Gottes' durch Martyrium."
11.) Israel musste stellvertrend für die Sünden der ganzen Welt leiden.
Israel ist so eine Art kollektiver Jesus:
Ähnlich wie Greenberg bezieht sich Ignaz Maybaum auf Jesaja 53, aber er behauptet entgegen Greenberg, aber im Rahmen der jüdischen Märtyrertheologie eine erlösende Funktion des Gottesknechtes und zwar für die Welt. Israel, der Gottesknecht, hat im Holocaust, sozusagen in der Zerstörung des 3. Tempels, wie er sagt, stellvertretend die Sünden der ganzen Welt getragen.
http://img28.imageshack.us/img28/9950/insidemaus.jpg (http://img28.imageshack.us/i/insidemaus.jpg/)
+
Frage:
Welche dieser Erklärungs- und Deutungsversuche haltet ihr aus Sicht der jeweiligen Religion (Falls ihr einer dieser Religionen angehört also aus eurer Sicht.) für überzeugend?
Den Allmachtsanspruch aufzugeben halte ich nicht für überzeugend, aber wenn man die textlichen Grundlagen betrachtet, auf die sich diese Religionen beziehen, dann ist "Strafe für Sünde" keine schlechte Erklärung. Den Holocaust geschehen zu lassen, damit der Staat Israel gegründet werden kann ("Helle und dunkle Seite"), würde aber ebenfalls zu JHWH passen. Wenn ich aber Theologe wäre, dann würde ich wahrscheinlich eine pragmatische Sichtweise vertreten, der zufolge wir Gottes Willen nicht erkennen können und uns nun darum bemühen müssen, aktuelle Völkermorde zu verhindern. Allerdings ist es aus theologischer Sicht natürlich gefährlich, erstmal damit anzufangen, daß wir Gottes Willen nicht entziffern könnten - denn irgendwann fangen Menschen an sich zu denken, daß Theologen und religiöse Autoritäten vielleicht auch anderweite Willensentschlüsse doch eigentlich nicht entziffern könnten... die Büchse der Pandora also.
In den 60er-Jahren begannen jüdische und christliche Theologen mit dem Versuch, den "Gottesbegriff nach Auschwitz" (Hans Jonas) zu systematisieren und prägten den Begriff der "Theologie nach Auschwitz", den man -wenn man sich die Resultate anschaut- durchaus mit dem Titel des berühmten Buches von Hans Jonas "Das Elend der Theologie" kombinieren kann. Zumindest kam mir dieser Gedanke, als ich gestern einen Text gelesen habe (Link lädt .doc-Datei herunter (http://www.google.de/url?sa=t&source=web&cd=2&ved=0CCUQFjAB&url=http%3A%2F%2Fwww.theology.de%2Fdownloads%2Fhol ocausttheologie.doc&rct=j&q=theologie%20nach%20auschwitz&ei=6R6ITdj2A4PtOZap0PQN&usg=AFQjCNG-b74YMP2CDcPvoflq9mHDNtnXsg)), in dem die Positionen verschiedener Theologen von jüdischer und christlicher Seite vorgestellt wurden.
Es lässt sich natürlich einwenden, daß es einer expliziten Theologie nach Auschwitz insofern nicht bedürfe, weil schon vor dem Holocaust genug passiert ist, um von einer "Theologie nach der Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner", einer "Theologie nach den Kongogräueln", einer "Theologie nach dem Völkermord an den Armeniern" usw. usf. zu sprechen, aber erstens würde das Problem Völkermord als zugespitztes Teilproblem der Theodizee ja weiterhin bestehen, zweitens ist die Shoah theologisch insofern vertrackter, weil es sich um das "auserwählte Volk" etc. handelt, und drittens ... err: können wir über Singularität (Ja, Nein, Inwiefern) an anderer Stelle diskutieren.
Jedenfalls lassen sich die Deutungs- und Erklärungsversuche folgendermaßen zusammenfassen:
1.) JHWHs Strafe für den Zionismus
So sagt Joel Teitelbaum, die Shoah sei das göttliche Strafgericht für die Sünde des Zionismus. Der Zionismus verkörpere den Abfall Israels von Gottes Weisung, geduldig in der Verbannung auszuharren, bis der Messias das Reich Davids wieder hergestellt habe und die Juden von allen 4 Enden der Erde sammle.
2.) JHWHs Strafe für Assimiliation und/oder Gottlosigkeit der Juden.
Umgekehrt sagt der Rabbiner Issaschar Schlomo Teichtal, die Shoah sei die Strafe für die Assimilation. Gerade in Deutschland, wo die religiöse Anpassung sich am stärksten ausgeprägt hat, sei die Verfolgung am härtesten gewesen.
3.) JHWHs Strafe für wiedergeborene Seelen, die dereinst gesündigt hatten.
Der jetzige Oberrabbiner von Jerusalem Ovadia Yosef hat die gewagteste Erklärung des Holocaust: Die Ermordeten von Auschwitz seien die wiedergeborenen Seelen, die in früheren Generationen gesündigt haben.
Ovadia Yosef ist übrigens auch der Mensch, der den Palästinensern sprichwörtlich die Pest an den Hals wünschte und erklärte, daß die Goyim nur geschaffen worden seien, um dem auserwählten Volk zu dienen.
4.) JHWH/Gott ist (seit der Schöpfung) nicht (mehr) allmächtig.
Dies wird so häufig vertreten, daß es müßig ist, sämtliche Verfechter anzuführen. Differenzen bestehen hinsichtlich der Frage, ob sich Gott erst nach der Schöpfung "zurückgezogen" hat (Hans Jonas), ob er prinzipiell nur "werbende Impulse" (Ein katholischer Theologe) ausübe, oder ob er gar nur "Angebote von innerer Kraft" machen würde, die Menschen dann benutzen könnten, um zu einer Art Mitschöpfer zu werden - also ein bißchen so wie bei den Jedi-Rittern. (Ebenfalls katholischer T.)
5.) JHWH/Gott war ebenfalls leidendes Opfer in Auschwitz und ist jetzt tot. ("Gott-ist-tot-Theologie")
"Gott ist tot und wir haben ihn getötet." - Friedrich Hitler
Die Steigerung von Position 4, bei der die Grenzen zwischen Religiösität und Atheismus verschwimmen. Ein weites Feld, das ich nicht überblicke.
6.) JHWH/Gott war ebenfalls leidendes Opfer in Auschwitz, hat aber überlebt.
Im Gegensatz zu 4 und 5 ist unter orthodoxen Religiösen diese Überlegung am weitesten verbreitet. Es gibt dutzende Zitate, die Gott währenddessen am Kreuz hängen sehen (Papst Benedikt), als ermordetes Kind (Eli Wiesel), als weinendes Kind, als weinenden Gott, der mit-leidet usw. usf. Der Nachteil ist freilich, daß es nichts erklärt.
7.) JHWH/Gott hat helle (Gründung Israels) und dunkle (Holocaust) Seite.
Etwas weiter kann uns Eliezer Berkovitz helfen. Dieser orthodoxe Rabbiner (...) sagt ganz deutlich, Gott habe zwei Seiten, eine dunkle und eine helle. Das sei sein unerforschliches Wesen. Manchmal wende er sich von der Welt ab, manchmal wieder ihr zu. So stelle die Gründung des Staates Israel „ein Lächeln auf dem Antlitz Gottes“ dar.
8.) JHWH/Gott(es Wille) ist allgemein unerforschlich.
Ebenfalls eine sehr weitverbreitete Theorie, die keiner weiteren Erklärung bedarf.
Interessant ist aber, daß die Unerforschlichkeit von Gottes Willen zwar auf Völkermorde u. Ä. zutrifft, sein Wille bezüglich des Sexualverhaltens von Menschen aber nicht präzise genug formuliert werden kann.
Aber manchmal muss man halt Prioritäten setzen...
9.) Gottes Strafe für Ablehnung von Jesus als den Messias.
Ein Klassiker, der an die besten Werte des christlich-jüdischen Abendlands anknüpft:
Arthur Kaatz (ein Judenchrist aus Amerika, oder, wie man heute sagt, ein messianischer Jude) denkt noch in den Kategorien von Schuld der Menschen, in diesem Falle Schuld der Juden und Strafe Gottes, Kategorien, die m.E. in der Shoah zerbrochen sind (s.o.). Die Shoah sei die Strafe dafür, dass das jüdische Volk den Messias Jesus abgelehnt habe.
10.) Holocaust war eine "Heiligung des Namens Gottes" durch Martyrium
Michael Wyschogrod (...) weiß mit der ganzen jüdischen Tradition, dass das Martyrium eine Heiligung des Namens Gottes ist, und dass dieses Martyrium vor allem bei Zwang zum Götzendienst und zum Mord geboten ist. Er transformiert es so: Ich möchte in Gott leben und in Gott sterben und mich in Gott lebend begraben.
Ich weiß zwar nicht genau, was es bedeutet, sich in Gott "lebend begraben" zu lassen, aber mein Übersetzungsversuch lautet eben: "Holocaust war eine 'Heiligung des Namens Gottes' durch Martyrium."
11.) Israel musste stellvertrend für die Sünden der ganzen Welt leiden.
Israel ist so eine Art kollektiver Jesus:
Ähnlich wie Greenberg bezieht sich Ignaz Maybaum auf Jesaja 53, aber er behauptet entgegen Greenberg, aber im Rahmen der jüdischen Märtyrertheologie eine erlösende Funktion des Gottesknechtes und zwar für die Welt. Israel, der Gottesknecht, hat im Holocaust, sozusagen in der Zerstörung des 3. Tempels, wie er sagt, stellvertretend die Sünden der ganzen Welt getragen.
http://img28.imageshack.us/img28/9950/insidemaus.jpg (http://img28.imageshack.us/i/insidemaus.jpg/)
+
Frage:
Welche dieser Erklärungs- und Deutungsversuche haltet ihr aus Sicht der jeweiligen Religion (Falls ihr einer dieser Religionen angehört also aus eurer Sicht.) für überzeugend?
Den Allmachtsanspruch aufzugeben halte ich nicht für überzeugend, aber wenn man die textlichen Grundlagen betrachtet, auf die sich diese Religionen beziehen, dann ist "Strafe für Sünde" keine schlechte Erklärung. Den Holocaust geschehen zu lassen, damit der Staat Israel gegründet werden kann ("Helle und dunkle Seite"), würde aber ebenfalls zu JHWH passen. Wenn ich aber Theologe wäre, dann würde ich wahrscheinlich eine pragmatische Sichtweise vertreten, der zufolge wir Gottes Willen nicht erkennen können und uns nun darum bemühen müssen, aktuelle Völkermorde zu verhindern. Allerdings ist es aus theologischer Sicht natürlich gefährlich, erstmal damit anzufangen, daß wir Gottes Willen nicht entziffern könnten - denn irgendwann fangen Menschen an sich zu denken, daß Theologen und religiöse Autoritäten vielleicht auch anderweite Willensentschlüsse doch eigentlich nicht entziffern könnten... die Büchse der Pandora also.