marc
14.02.2011, 08:07
Gestern habe ich kurz in den Strang über den möglichen gesellschaftlichen Nutzen von Religionen geschaut und bin durch einen Wortwechsel zwischen Zoon und Dachs auf die Idee gekommen, hier mal prinzipiell zur Diskussion zu stellen, ob Religiösität ein reines Kulturmerkmal ist, eine Art Neben- oder Abfallprodukt adaptiver Merkmale (wie zum Beispiel der Sprache), oder ob sie selber adaptiv ist.
Damit Religiösität eine "Adaption" wäre, müsste sie die evolutionäre Fitness eines Individuums oder eines Kollektivs erhöhen, sich also positiv auf dessen (oder deren) Überlebens- und/oder Fortpflanzungserfolg auswirken.
(Dabei ist natürlich nicht leicht zu bestimmen, wann eine Adaption als Adaption gelten kann - denn was wäre zum Beispiel mit Eigenschaften, die auch schädliche Nebenwirkungen haben? Inwiefern muss etwas genetisch vererbar sein, um als Adaption zu gelten? Und welche Bedeutung wird dem kulturellen beigemeßen? Das Vertrackte ist ja, daß der Mensch "von Natur" ein Kulturwesen ist, und er zu seiner "ersten Natur" erst durch die zweite kommt - d.h. z.B., daß der Mensch zu dem, was er von Natur ist, erst durch die Sprache wird, die nicht von Natur ist.)
Damit Religiösität ein Nebenprodukt adaptiver Merkmale wäre, müsste sie -wie Dachs ja schon geschrieben hat- zum Beispiel ein "Abfallprodukt" des großen Evolutionsvorteils Sprache sein, die eine kulturelle Tradierung erlaubt hat, von der wie ein Parasit auch religiöse Überlieferungen profitiert haben.
Es könnte aber auch sein, daß Religiösität eine Exaptation ist, was auf ein Mittelding zwischen Nebenprodukt und Adaption hinauslaufen würde - auf eine "kreative Zweckentfremdung" ähnlich der Musikalität, von der Charles Darwin meinte, daß sie zwar für das Überleben des Menschen keinerlei Vorteile berge, aber vielleicht für die Partnerwahl von Bedeutung sei ... bis sie dann womöglich selber zur Adaption geworden ist.
+
Was würde das überhaupt bedeuten?
Eckardt Voland schrieb vor kurzem, daß religiöse Menschen mit der "möglicherweise kränkenden Einsicht" fertig werden müssten, daß ihre Religion ein durch und durch irdisches Phänomen mit profanen, biologischen Nützlichkeitszwecken sei. Worauf das naturwissenschaftliche Fachmagazin kreuz.net erwiderte, daß "der Schöpfer uns als Lebenshilfe eine Ahnung des Übernatürlichen eingepflanzt" habe. Man sieht also, daß unterschiedliche Schlüße möglich sind.
Der Trend in der Moderne scheint mir aber schon in die Richtung zu gehen, Naturgesetze als Profanisierung zu verstehen. Insofern vermute ich, daß der "Durchschnittsmensch" die Erklärung von Religiösität als biologischen Nützlichkeitszweck als ein Argument gegen die Existenz Gottes aufassen würde.
Andererseits gibt es natürlich die nicht zu unterschätzende Gegentendenz, zwar nicht mehr an Gott aber dafür an den Glauben zu glauben. (Wobei ich mich immer frage, wie eine Gesellschaft aussehen sollte, in der lauter religiös unmusikalische Bolze und Habermaße leben würde, die selber ungläubig sind und dann ... die ideale Reißbrett-Religion im interdisziplinären Kolloquium entwerfen?)
Außerdem fällt mir Wittgenstein ein, der in seinem "Traktat" schreibt: "Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien."
Insofern denke ich, daß die Frage zwar interessant ist, sie aber insofern überbewertet wird, weil jede Antwort weder ein Argument für noch ein Argument gegen die Existenz eines bestimmten Gottes wäre. Mal abgesehen davon, daß etwas, das nützlich ist oder halt "in der Natur liegt", deswegen noch lange nicht gut seien muss.
+
Södele.
Jetzt hoffe ich mal, daß ich alles korrekt dargestellt habe.
Wenn nicht, lasse ich mich auch gerne eines besseren belehren.
+
Links:
Religiösität ist nur ein Nebenprodukt:
http://hpd.de/node/7545?page=0,3
Religiösität ist entweder eine Adaption oder eine Exaptation:
http://www.chronologs.de/chrono/blog/natur-des-glaubens/grundlagen/2010-10-09/ist-religiosit-t-eine-adaption
Zusammenfassung:
http://www.darwin-jahr.de/evo-magazin/gott-gene-und-gehirn-evolution-religiositaet?page=0,0
http://img35.imageshack.us/img35/3865/tabelle1.png (http://img35.imageshack.us/i/tabelle1.png/)
Fazit: Die Hypothese, dass Religiosität oder die damit verbundenden Merkmale eine evolutionäre Anpassung darstellen, ist beim gegenwärtigen Forschungsstand noch nicht zu entscheiden. Es gibt einige Argumente dafür, aber auch Probleme. Dasselbe gilt für die Deutung von Religiosität als – vielleicht unvermeidliches – Nebenprodukt anderweitig selektierter und somit adaptiver Merkmale.
Wenn religiöse Merkmale kein reines Neben- oder Kulturprodukt wären, sondern adaptive Eigenschaften hätten, bliebe immer noch zu klären, ob es eine ausbalancierte Selektion ist („nicht zu viel und nicht zu wenig Religiosität wäre am besten“) oder eine einseitig gerichtete („je religiöser, umso besser“). Beispielsweise könnte „ein bisschen“ abergläubisch zu sein Vorteile haben (Mustererkennung, Kreativität), aber zu viel schwere Nachteile (bis hin zu pathologischen Psychosen). Und eine gewisse Glaubensfestigkeit mag vor der Absurdität des Daseins schützen (oder ablenken), aber ein fundamentalistischer Wahrheitsanspruch kann Konflikte hervorrufen, die den Glaubenden selbst oder Anders- und Ungläubigen das Leben kosten. Denn selbst wenn etwas in der Vergangenheit nützlich war, kann es heute oder künftig schädlich sein!
Damit Religiösität eine "Adaption" wäre, müsste sie die evolutionäre Fitness eines Individuums oder eines Kollektivs erhöhen, sich also positiv auf dessen (oder deren) Überlebens- und/oder Fortpflanzungserfolg auswirken.
(Dabei ist natürlich nicht leicht zu bestimmen, wann eine Adaption als Adaption gelten kann - denn was wäre zum Beispiel mit Eigenschaften, die auch schädliche Nebenwirkungen haben? Inwiefern muss etwas genetisch vererbar sein, um als Adaption zu gelten? Und welche Bedeutung wird dem kulturellen beigemeßen? Das Vertrackte ist ja, daß der Mensch "von Natur" ein Kulturwesen ist, und er zu seiner "ersten Natur" erst durch die zweite kommt - d.h. z.B., daß der Mensch zu dem, was er von Natur ist, erst durch die Sprache wird, die nicht von Natur ist.)
Damit Religiösität ein Nebenprodukt adaptiver Merkmale wäre, müsste sie -wie Dachs ja schon geschrieben hat- zum Beispiel ein "Abfallprodukt" des großen Evolutionsvorteils Sprache sein, die eine kulturelle Tradierung erlaubt hat, von der wie ein Parasit auch religiöse Überlieferungen profitiert haben.
Es könnte aber auch sein, daß Religiösität eine Exaptation ist, was auf ein Mittelding zwischen Nebenprodukt und Adaption hinauslaufen würde - auf eine "kreative Zweckentfremdung" ähnlich der Musikalität, von der Charles Darwin meinte, daß sie zwar für das Überleben des Menschen keinerlei Vorteile berge, aber vielleicht für die Partnerwahl von Bedeutung sei ... bis sie dann womöglich selber zur Adaption geworden ist.
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Was würde das überhaupt bedeuten?
Eckardt Voland schrieb vor kurzem, daß religiöse Menschen mit der "möglicherweise kränkenden Einsicht" fertig werden müssten, daß ihre Religion ein durch und durch irdisches Phänomen mit profanen, biologischen Nützlichkeitszwecken sei. Worauf das naturwissenschaftliche Fachmagazin kreuz.net erwiderte, daß "der Schöpfer uns als Lebenshilfe eine Ahnung des Übernatürlichen eingepflanzt" habe. Man sieht also, daß unterschiedliche Schlüße möglich sind.
Der Trend in der Moderne scheint mir aber schon in die Richtung zu gehen, Naturgesetze als Profanisierung zu verstehen. Insofern vermute ich, daß der "Durchschnittsmensch" die Erklärung von Religiösität als biologischen Nützlichkeitszweck als ein Argument gegen die Existenz Gottes aufassen würde.
Andererseits gibt es natürlich die nicht zu unterschätzende Gegentendenz, zwar nicht mehr an Gott aber dafür an den Glauben zu glauben. (Wobei ich mich immer frage, wie eine Gesellschaft aussehen sollte, in der lauter religiös unmusikalische Bolze und Habermaße leben würde, die selber ungläubig sind und dann ... die ideale Reißbrett-Religion im interdisziplinären Kolloquium entwerfen?)
Außerdem fällt mir Wittgenstein ein, der in seinem "Traktat" schreibt: "Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien."
Insofern denke ich, daß die Frage zwar interessant ist, sie aber insofern überbewertet wird, weil jede Antwort weder ein Argument für noch ein Argument gegen die Existenz eines bestimmten Gottes wäre. Mal abgesehen davon, daß etwas, das nützlich ist oder halt "in der Natur liegt", deswegen noch lange nicht gut seien muss.
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Södele.
Jetzt hoffe ich mal, daß ich alles korrekt dargestellt habe.
Wenn nicht, lasse ich mich auch gerne eines besseren belehren.
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Links:
Religiösität ist nur ein Nebenprodukt:
http://hpd.de/node/7545?page=0,3
Religiösität ist entweder eine Adaption oder eine Exaptation:
http://www.chronologs.de/chrono/blog/natur-des-glaubens/grundlagen/2010-10-09/ist-religiosit-t-eine-adaption
Zusammenfassung:
http://www.darwin-jahr.de/evo-magazin/gott-gene-und-gehirn-evolution-religiositaet?page=0,0
http://img35.imageshack.us/img35/3865/tabelle1.png (http://img35.imageshack.us/i/tabelle1.png/)
Fazit: Die Hypothese, dass Religiosität oder die damit verbundenden Merkmale eine evolutionäre Anpassung darstellen, ist beim gegenwärtigen Forschungsstand noch nicht zu entscheiden. Es gibt einige Argumente dafür, aber auch Probleme. Dasselbe gilt für die Deutung von Religiosität als – vielleicht unvermeidliches – Nebenprodukt anderweitig selektierter und somit adaptiver Merkmale.
Wenn religiöse Merkmale kein reines Neben- oder Kulturprodukt wären, sondern adaptive Eigenschaften hätten, bliebe immer noch zu klären, ob es eine ausbalancierte Selektion ist („nicht zu viel und nicht zu wenig Religiosität wäre am besten“) oder eine einseitig gerichtete („je religiöser, umso besser“). Beispielsweise könnte „ein bisschen“ abergläubisch zu sein Vorteile haben (Mustererkennung, Kreativität), aber zu viel schwere Nachteile (bis hin zu pathologischen Psychosen). Und eine gewisse Glaubensfestigkeit mag vor der Absurdität des Daseins schützen (oder ablenken), aber ein fundamentalistischer Wahrheitsanspruch kann Konflikte hervorrufen, die den Glaubenden selbst oder Anders- und Ungläubigen das Leben kosten. Denn selbst wenn etwas in der Vergangenheit nützlich war, kann es heute oder künftig schädlich sein!