Sven71
02.02.2011, 22:13
Nichts schwächt eine Gesellschaft so sehr wie die Zerstörung ihrer gemeinsamen Basis, ihrer Zersplitterung in einander bekämpfende Interessengruppen, die Pervertierung und Banalisierung ihrer Kultur und am Ende der - ungewollten - Beförderung eines gemeinsamen Gegners.
Die Grabenkämpfe führen auch auf Ebene dieses Forums am Ende nie zu einem konstruktiven Ergebnis oder einer Entwicklung. In Unschuld bade ich selbst in dieser Hinsicht keineswegs.
Gerade das ist heute der Anlaß zur Weiterreichung eines m. E. wichtigen und nachdenkenswerten Textes, der allen Forenfraktionen zur besonnenen Lektüre zugedacht ist und der in diesem Thread zu einem ausnahmsweise einmal unaufgeregten Dialog ohne die ideologischen Säulenheiligen führen möge. Oder einfach nur zur schweigenden Selbstreflexion:
Christian P. Hoffmann (http://www.schweizermonatshefte.ch/index.php?nav=atrn&autor=595):
Die grossen Geschäfte
Alle Jahre wieder: das World Economic Forum (WEF). Was verbindet die demonstrierenden Globalisierungskritiker mit den mächtigen Vertretern globalisierter Konzerne?
Den Kapitalismus zivilisieren. Dies ist das Ziel einer weltweiten Bewegung, die im ungezügelten «Raubtier-» und «Kasino-Kapitalismus» die grösste Bedrohung der Gegenwart zu erkennen glaubt. Die Schweiz erlebt alle Jahre wieder, wie diese Bewegung ihren Frust in – zum Teil gewalttätigen – Demonstrationen gegen das World Economic Forum in Davos kundtut.
Dabei haben die Kapitalismuskritiker nicht in erster Linie die anonymen Marktkräfte im Blick, sondern spezifische Akteure: global tätige Grossunternehmen. Lieblingsgegner der Globalisierungs- und Marktskeptiker sind Konzerne wie McDonald’s, Coca-Cola oder Microsoft. Je grösser diese «Multinationalen», desto grösser ist auch die Sorge angesichts ihrer Macht.
Und in der Tat. Wirtschaftsgiganten wie der Mineralölkonzern Exxon Mobil setzen mit über 400 Mrd. Dollar inzwischen mehr um, als was das EU-Mitglied Österreich an Bruttosozialprodukt generiert. Internationale Konzerne mit ihrer gewaltigen Infrastruktur übernehmen zusehends regierungsähnliche Funktionen; der Einzelhändler Wal-Mart beispielsweise unterhält ein eigenes Satellitennetzwerk und verfügt über das weltweit grösste IT-Rechenzentrum nach dem US-Pentagon. Firmen wie Infosys schaffen in Entwicklungsländern eine zuverlässige Infrastruktur, wozu sich die öffentliche Hand in diesen Ländern nicht in der Lage sieht. Kann es deshalb verwundern, dass eine solche Machtfülle auf viele Bürger beängstigend wirkt?
Die betroffenen Unternehmen tun sich derweil schwer damit, angemessen auf gesellschaftliche Kritik zu reagieren. Tatsächlich stecken sie in einer Zwickmühle. Einerseits ist das stetige Wachstum von Umsatz und Gewinn tief in der DNS der Konzerne verwurzelt. Anderseits ist es genau die so erlangte Grösse, die Bedenken hervorruft. Das ist «Big Business» – das amerikanische Schlagwort bringt das Dilemma auf den Punkt.
Wer ist für die Führung solcher Konzerne verantwortlich? Wie lässt sich ihre Macht begrenzen und kontrollieren? Unter dem Banner der corporate governance untersuchen Ökonomen, ob und wie die Interessen des Managements mit jenen der Eigentümer in Übereinstimmung gebracht werden können. Etablierte Institutionen, wie Generalversammlungen, Verwaltungs- oder Aufsichtsräte, sollen hier eine Machtteilung sicherstellen. Zugleich lässt sich jedoch beobachten, wie die Aktionärsbasis gerade grosser Konzerne zunehmend zersplittert – je schwieriger es ist, den Eigentümer eines Unternehmens auszumachen, desto geringer wird naturgemäss dessen Einfluss auf die Unternehmensführung.
Nicht zuletzt deshalb gewinnt die Frage nach der corporate social responsibility (CSR) internationaler Unternehmen an Popularität. Wenn die Unternehmensführungen immer weniger ihren Gesellschaftern und Aktionären verpflichtet sind, liesse sich da ja vielleicht stattdessen eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft als ganzer etablieren? Dies gilt umso mehr, als Unternehmen immer mehr Funktionen übernehmen, die in der öffentlichen Wahrnehmung traditionellerweise der Regierung zugeschrieben wurden – sei es die Versorgung mit Energie, Bildung, Strassen, Wasser, oder gar die Sicherheit. Die prominente Globalisierungsskeptikerin Naomi Klein veröffentlichte unter dem Titel «Die Schockstrategie» eine Streitschrift gegen eine solche Privatisierung der öffentlichen Infrastrukturversorgung, mit der sie vor allem bei der politischen Linken auf rege Resonanz stiess. Es zeigt sich mithin, dass – proportional zur Verdrängung von Regierungen durch Unternehmen – Forderungen nach einer Demokratisierung und sozialen oder ökologischen Verpflichtung dieser Unternehmen laut werden.
Anders die politische Rechte. Sie sieht für gewöhnlich keine Gefahr in grossen Unternehmen. Industriemagnate wie J.P. Morgan, John D. Rockefeller oder in der Schweiz Alfred Escher und Gottlieb Duttweiler gelten als Helden des Kapitalismus. Die erzliberale russisch-amerikanische Autorin Ayn Rand zelebriert in ihren populären Romanen, wie «Atlas Shrugged» oder «The Fountainhead», den Urtyp dieses durchsetzungsstarken Unternehmers. Auf die klare Ablehnung der Bürgerlichen stösst vielmehr das «Big Government», das stetige Anwachsen des bürokratischen Staatsapparates. Der klassische Liberalismus hat daher seit Montesquieu seine Energie darauf verwandt, die Macht des Staates zu begrenzen, zu kontrollieren und dem öffentlichen Wohl zu verpflichten.
Ayn Rand und Naomi Klein – es kristallisieren sich Gemeinsamkeiten zwischen diesen Antipodinnen heraus, die beide weder bei den Bürgerlichen noch bei Antikapitalisten nennenswerte Aufmerksamkeit geniessen: die Angst vor Macht, vor schierer Grösse und der Versuch einer Begrenzung und Kontrolle ebendieser Macht. Was aber, wenn Big Business und Big Government nicht nur Ähnlichkeiten oder Parallelen aufweisen, sondern zutiefst miteinander verwandt sind?
Der aus Südafrika stammende Piet-Hein Van Eeghen gehört zu den interessanten Ökonomen, die die These vertreten (in der «Review of Social Economy» und dem «Journal of Libertarian Studies»), dass das moderne Unternehmen – genauer die Kapitalgesellschaft mit begrenzter Haftung – ein direktes Derivat des Staates sei. Dass ein Unternehmen als juristische Person ein rechtliches Eigenleben führt und als solche ihre Eigentümer von Verantwortung und persönlicher Haftung befreit, das ist ihm zufolge nichts anderes als in die Privatwirtschaft übertragener Etatismus. Eine provokative These, da die moderne Kapitalgesellschaft ohne Haftungsbegrenzung nicht denkbar ist – und zugleich eine notwendige Grundlage für die Heranbildung gigantischer, kapitalintensiver multinationaler Konzerne.
Van Eeghen weist darauf hin, dass es ursprünglich der Staat ist, der als juristische Person unabhängig von handelnden Individuen auftritt – und diese damit von Verantwortung befreit. Noch heute ist die Forderung weitverbreitet, ein politisches Amt unabhängig von dessen Inhaber zu beurteilen und zu respektieren. Das Gesellschaftsrecht – nach Van Eeghen ein staatlich garantiertes Privileg – überträgt dieses Konzept in Form der Kapitalgesellschaft auf den privaten Geschäftsverkehr, indem es Gesellschafter von persönlicher Haftung befreit. Damit wird einerseits die Aufnahme von Kapital erleichtert und die Übernahme von Risiken gefördert – anderseits löst sich zugleich die unmittelbare Verantwortung des formellen Eigentümers für seinen Besitz auf.
Frühe Formen der Kapitalgesellschaft waren demnach – nicht zufällig – staatliche Agenturen: die englische East India Company und die Niederländische Ostindien-Kompanie nutzten im 17. Jahrhundert das ihnen von ihren Staaten übertragene Handelsmonopol in Kolonien. Von ähnlichen staatlichen Privilegien profitierte die Bank of England, die durch die Ausgabe von Geldnoten den britischen Staat finanzierte. Solche Kapitalgesellschaften hatten erstmals die Eigenschaft, dass nicht mehr eine natürliche Person über wirtschaftlich eingesetzte Ressourcen verfügte (und für diese haftete), sondern eine rechtliche Fiktion: die juristische Person. Der Staat entpuppt sich damit als Vorlage und Garant der modernen Kapitalgesellschaft. Wie im demokratischen Staat, haben die formellen Eigentümer hier nurmehr einen begrenzten Zugriff auf die Führung der Organisation. Ihre Macht beruht eben auf den im Rahmen der corporate governance vereinbarten Spielregeln, bezüglich der Wahl des Führungspersonals oder der Lancierung substantieller Initiativen.
Big Business und Big Government gehören zusammen. Diese These vertritt auch der amerikanische Ökonom Tyler Cowen, wobei er nuanciert argumentiert. Er zeigt in seinen neuen Studien, dass das enorme Wachstum der Staaten seit dem 19. Jahrhundert die Folge der Herausbildung grosser Konzerne sei. Und dies gleich auf zweierlei Weise.
Zum einen führten verschiedene technische Innovationen, in den Bereichen der Energieversorgung, Kommunikation und Logistik, zu einer dramatischen Senkung sogenannter Transaktions- und Koordinationskosten. Es wurde also möglich, hochkomplexe Produktionsprozesse unter zahlreichen Beteiligten zu standardisieren und massenhaft unter dem Dach einer einzigen Organisation durchzuführen. Die frühen amerikanischen Konzerne wie Ford oder Standard Oil symbolisieren diese Entwicklung. Die so vorangetriebene Konzentration von Wohlstand und Ressourcen erleichterte dem Staat zugleich die Erzeugung und Abschöpfung von Einkommen. Cowen hält fest: «Grosse und unbewegliche Anlagen sind ein verführerisches Ziel der Besteuerung und Regulierung. Sie generieren auch einen ausreichenden Überschuss, um eine hohe Steuerbelastung ohne die Gefahr eines Aufstands zu ermöglichen. Solange ein Grossteil der Bevölkerung dagegen von einer kleinteiligen, natural-tauschbasierten Subsistenzlandwirtschaft lebte, war es sehr viel schwieriger, Steuern zu erheben – und auszugeben.»*
Big Business ist jedoch noch auf eine weitere Weise Treiber von Big Government. Grosse, international tätige Organisationen haben ein Interesse an einheitlichen Normen und Standards. Grosskonzerne sind daher traditionell Befürworter von Zentralisierungen und starken politischen Einheiten, und mit ihnen viele Bürgerliche. Der Schweizer Freisinn (FDP) repräsentiert dieses Phänomen im nationalen Kontext. Auf Ebene der EU zählen selbst sich «liberal» nennende Parteien zu den entschiedensten Befürwortern europäischer «Harmonisierungen». Zentralisierte politische Einheiten werden für effizienter gehalten. Zweifellos: sie erleichtern den Grossunternehmen eine Anpassung an und eine Beeinflussung politischer Rahmenbedingungen. Und was als «wirtschaftsfreundlich» erscheint, gilt vielen auch als «liberal».
Die enge Zusammenarbeit zwischen Big Business und Big Government geht noch weiter. Sie erstreckt sich tatsächlich bis weit in den – vermeintlich linken – Wohlfahrtsstaat. Grosse Konzerne vermeiden gerne massive Risiken, wie die Kranken- oder Altersversicherungen ihrer vieltausend Angestellten sie darstellen. Schon seit Bismarcks Zeiten zählt Big Business darum zu den entschiedensten Befürwortern zentraler, staatlich administrierter Sozialversicherungen. So lässt sich auch manche auf den ersten Blick überraschende Parolenfassung der schweizerischen Arbeitgeber erklären. Nicht von ungefähr setzen grosse Unternehmen schliesslich gezielt und erfolgreich Lobbyisten ein, um mittels staatlicher Privilegien Wettbewerbsvorteile zu erringen – in Brüssel allein sind heute ca. 20’000 Lobbyisten tätig, darunter viele tausend Vertreter grosser Unternehmen, die die Bürokratie zu ihren Gunsten beeinflussen.
So ergibt sich eine erstaunliche Erkenntnis: Big Business und Big Government sind keineswegs Gegensätze; sie sind in Wahrheit so etwas wie Zwillingsbrüder. Beide fördern einander, profitieren voneinander. Mehr noch, möglicherweise bedingen beide Machtzentren gar einander – das eine ist nicht ohne das andere denkbar. Daraus folgt wiederum der überraschende Schluss: antikapitalistische Konzerngegner und antietatistische Regierungsskeptiker vertreten gemeinsame Ideale – und bekämpfen gemeinsame Feinde. Sie wissen es nur nicht.
Was würden die hier angestellten Überlegungen für jene WEF-Demonstranten und Attac-Mitglieder bedeuten, die die Macht des Staates gegen jene der Konzerne einsetzen wollen? Und umgekehrt: was wären die Implikationen für jene Bürgerlichen, die sich für «Privatisierungen» einsetzen, nur um dergestalt Grosskonzerne in der Luftfahrt-, Telekommunikations- oder Energiebranche zu schaffen? Kann der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben werden? Naomi Klein und Ayn Rand entpuppen sich als Schwestern im Geiste. Und doch ist damit zu rechnen, dass Rechte wie Linke auch in Zukunft ihre spezifischen Animositäten pflegen werden, nicht wissend (oder wissen wollend), dass sie im selben Boot sitzen. Schliesslich gilt: nichts ist so schmerzhaft, wie der Verlust eines Feindbilds.
* www.mps2009.org/files/Cowen.pdf (http://www.mps2009.org/files/Cowen.pdf)
Christian P. Hoffmann, geboren 1978, ist promovierter Ökonom, Projektleiter an der Universität St. Gallen und Forschungsleiter am Liberalen Institut in Zürich.
Die Grabenkämpfe führen auch auf Ebene dieses Forums am Ende nie zu einem konstruktiven Ergebnis oder einer Entwicklung. In Unschuld bade ich selbst in dieser Hinsicht keineswegs.
Gerade das ist heute der Anlaß zur Weiterreichung eines m. E. wichtigen und nachdenkenswerten Textes, der allen Forenfraktionen zur besonnenen Lektüre zugedacht ist und der in diesem Thread zu einem ausnahmsweise einmal unaufgeregten Dialog ohne die ideologischen Säulenheiligen führen möge. Oder einfach nur zur schweigenden Selbstreflexion:
Christian P. Hoffmann (http://www.schweizermonatshefte.ch/index.php?nav=atrn&autor=595):
Die grossen Geschäfte
Alle Jahre wieder: das World Economic Forum (WEF). Was verbindet die demonstrierenden Globalisierungskritiker mit den mächtigen Vertretern globalisierter Konzerne?
Den Kapitalismus zivilisieren. Dies ist das Ziel einer weltweiten Bewegung, die im ungezügelten «Raubtier-» und «Kasino-Kapitalismus» die grösste Bedrohung der Gegenwart zu erkennen glaubt. Die Schweiz erlebt alle Jahre wieder, wie diese Bewegung ihren Frust in – zum Teil gewalttätigen – Demonstrationen gegen das World Economic Forum in Davos kundtut.
Dabei haben die Kapitalismuskritiker nicht in erster Linie die anonymen Marktkräfte im Blick, sondern spezifische Akteure: global tätige Grossunternehmen. Lieblingsgegner der Globalisierungs- und Marktskeptiker sind Konzerne wie McDonald’s, Coca-Cola oder Microsoft. Je grösser diese «Multinationalen», desto grösser ist auch die Sorge angesichts ihrer Macht.
Und in der Tat. Wirtschaftsgiganten wie der Mineralölkonzern Exxon Mobil setzen mit über 400 Mrd. Dollar inzwischen mehr um, als was das EU-Mitglied Österreich an Bruttosozialprodukt generiert. Internationale Konzerne mit ihrer gewaltigen Infrastruktur übernehmen zusehends regierungsähnliche Funktionen; der Einzelhändler Wal-Mart beispielsweise unterhält ein eigenes Satellitennetzwerk und verfügt über das weltweit grösste IT-Rechenzentrum nach dem US-Pentagon. Firmen wie Infosys schaffen in Entwicklungsländern eine zuverlässige Infrastruktur, wozu sich die öffentliche Hand in diesen Ländern nicht in der Lage sieht. Kann es deshalb verwundern, dass eine solche Machtfülle auf viele Bürger beängstigend wirkt?
Die betroffenen Unternehmen tun sich derweil schwer damit, angemessen auf gesellschaftliche Kritik zu reagieren. Tatsächlich stecken sie in einer Zwickmühle. Einerseits ist das stetige Wachstum von Umsatz und Gewinn tief in der DNS der Konzerne verwurzelt. Anderseits ist es genau die so erlangte Grösse, die Bedenken hervorruft. Das ist «Big Business» – das amerikanische Schlagwort bringt das Dilemma auf den Punkt.
Wer ist für die Führung solcher Konzerne verantwortlich? Wie lässt sich ihre Macht begrenzen und kontrollieren? Unter dem Banner der corporate governance untersuchen Ökonomen, ob und wie die Interessen des Managements mit jenen der Eigentümer in Übereinstimmung gebracht werden können. Etablierte Institutionen, wie Generalversammlungen, Verwaltungs- oder Aufsichtsräte, sollen hier eine Machtteilung sicherstellen. Zugleich lässt sich jedoch beobachten, wie die Aktionärsbasis gerade grosser Konzerne zunehmend zersplittert – je schwieriger es ist, den Eigentümer eines Unternehmens auszumachen, desto geringer wird naturgemäss dessen Einfluss auf die Unternehmensführung.
Nicht zuletzt deshalb gewinnt die Frage nach der corporate social responsibility (CSR) internationaler Unternehmen an Popularität. Wenn die Unternehmensführungen immer weniger ihren Gesellschaftern und Aktionären verpflichtet sind, liesse sich da ja vielleicht stattdessen eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft als ganzer etablieren? Dies gilt umso mehr, als Unternehmen immer mehr Funktionen übernehmen, die in der öffentlichen Wahrnehmung traditionellerweise der Regierung zugeschrieben wurden – sei es die Versorgung mit Energie, Bildung, Strassen, Wasser, oder gar die Sicherheit. Die prominente Globalisierungsskeptikerin Naomi Klein veröffentlichte unter dem Titel «Die Schockstrategie» eine Streitschrift gegen eine solche Privatisierung der öffentlichen Infrastrukturversorgung, mit der sie vor allem bei der politischen Linken auf rege Resonanz stiess. Es zeigt sich mithin, dass – proportional zur Verdrängung von Regierungen durch Unternehmen – Forderungen nach einer Demokratisierung und sozialen oder ökologischen Verpflichtung dieser Unternehmen laut werden.
Anders die politische Rechte. Sie sieht für gewöhnlich keine Gefahr in grossen Unternehmen. Industriemagnate wie J.P. Morgan, John D. Rockefeller oder in der Schweiz Alfred Escher und Gottlieb Duttweiler gelten als Helden des Kapitalismus. Die erzliberale russisch-amerikanische Autorin Ayn Rand zelebriert in ihren populären Romanen, wie «Atlas Shrugged» oder «The Fountainhead», den Urtyp dieses durchsetzungsstarken Unternehmers. Auf die klare Ablehnung der Bürgerlichen stösst vielmehr das «Big Government», das stetige Anwachsen des bürokratischen Staatsapparates. Der klassische Liberalismus hat daher seit Montesquieu seine Energie darauf verwandt, die Macht des Staates zu begrenzen, zu kontrollieren und dem öffentlichen Wohl zu verpflichten.
Ayn Rand und Naomi Klein – es kristallisieren sich Gemeinsamkeiten zwischen diesen Antipodinnen heraus, die beide weder bei den Bürgerlichen noch bei Antikapitalisten nennenswerte Aufmerksamkeit geniessen: die Angst vor Macht, vor schierer Grösse und der Versuch einer Begrenzung und Kontrolle ebendieser Macht. Was aber, wenn Big Business und Big Government nicht nur Ähnlichkeiten oder Parallelen aufweisen, sondern zutiefst miteinander verwandt sind?
Der aus Südafrika stammende Piet-Hein Van Eeghen gehört zu den interessanten Ökonomen, die die These vertreten (in der «Review of Social Economy» und dem «Journal of Libertarian Studies»), dass das moderne Unternehmen – genauer die Kapitalgesellschaft mit begrenzter Haftung – ein direktes Derivat des Staates sei. Dass ein Unternehmen als juristische Person ein rechtliches Eigenleben führt und als solche ihre Eigentümer von Verantwortung und persönlicher Haftung befreit, das ist ihm zufolge nichts anderes als in die Privatwirtschaft übertragener Etatismus. Eine provokative These, da die moderne Kapitalgesellschaft ohne Haftungsbegrenzung nicht denkbar ist – und zugleich eine notwendige Grundlage für die Heranbildung gigantischer, kapitalintensiver multinationaler Konzerne.
Van Eeghen weist darauf hin, dass es ursprünglich der Staat ist, der als juristische Person unabhängig von handelnden Individuen auftritt – und diese damit von Verantwortung befreit. Noch heute ist die Forderung weitverbreitet, ein politisches Amt unabhängig von dessen Inhaber zu beurteilen und zu respektieren. Das Gesellschaftsrecht – nach Van Eeghen ein staatlich garantiertes Privileg – überträgt dieses Konzept in Form der Kapitalgesellschaft auf den privaten Geschäftsverkehr, indem es Gesellschafter von persönlicher Haftung befreit. Damit wird einerseits die Aufnahme von Kapital erleichtert und die Übernahme von Risiken gefördert – anderseits löst sich zugleich die unmittelbare Verantwortung des formellen Eigentümers für seinen Besitz auf.
Frühe Formen der Kapitalgesellschaft waren demnach – nicht zufällig – staatliche Agenturen: die englische East India Company und die Niederländische Ostindien-Kompanie nutzten im 17. Jahrhundert das ihnen von ihren Staaten übertragene Handelsmonopol in Kolonien. Von ähnlichen staatlichen Privilegien profitierte die Bank of England, die durch die Ausgabe von Geldnoten den britischen Staat finanzierte. Solche Kapitalgesellschaften hatten erstmals die Eigenschaft, dass nicht mehr eine natürliche Person über wirtschaftlich eingesetzte Ressourcen verfügte (und für diese haftete), sondern eine rechtliche Fiktion: die juristische Person. Der Staat entpuppt sich damit als Vorlage und Garant der modernen Kapitalgesellschaft. Wie im demokratischen Staat, haben die formellen Eigentümer hier nurmehr einen begrenzten Zugriff auf die Führung der Organisation. Ihre Macht beruht eben auf den im Rahmen der corporate governance vereinbarten Spielregeln, bezüglich der Wahl des Führungspersonals oder der Lancierung substantieller Initiativen.
Big Business und Big Government gehören zusammen. Diese These vertritt auch der amerikanische Ökonom Tyler Cowen, wobei er nuanciert argumentiert. Er zeigt in seinen neuen Studien, dass das enorme Wachstum der Staaten seit dem 19. Jahrhundert die Folge der Herausbildung grosser Konzerne sei. Und dies gleich auf zweierlei Weise.
Zum einen führten verschiedene technische Innovationen, in den Bereichen der Energieversorgung, Kommunikation und Logistik, zu einer dramatischen Senkung sogenannter Transaktions- und Koordinationskosten. Es wurde also möglich, hochkomplexe Produktionsprozesse unter zahlreichen Beteiligten zu standardisieren und massenhaft unter dem Dach einer einzigen Organisation durchzuführen. Die frühen amerikanischen Konzerne wie Ford oder Standard Oil symbolisieren diese Entwicklung. Die so vorangetriebene Konzentration von Wohlstand und Ressourcen erleichterte dem Staat zugleich die Erzeugung und Abschöpfung von Einkommen. Cowen hält fest: «Grosse und unbewegliche Anlagen sind ein verführerisches Ziel der Besteuerung und Regulierung. Sie generieren auch einen ausreichenden Überschuss, um eine hohe Steuerbelastung ohne die Gefahr eines Aufstands zu ermöglichen. Solange ein Grossteil der Bevölkerung dagegen von einer kleinteiligen, natural-tauschbasierten Subsistenzlandwirtschaft lebte, war es sehr viel schwieriger, Steuern zu erheben – und auszugeben.»*
Big Business ist jedoch noch auf eine weitere Weise Treiber von Big Government. Grosse, international tätige Organisationen haben ein Interesse an einheitlichen Normen und Standards. Grosskonzerne sind daher traditionell Befürworter von Zentralisierungen und starken politischen Einheiten, und mit ihnen viele Bürgerliche. Der Schweizer Freisinn (FDP) repräsentiert dieses Phänomen im nationalen Kontext. Auf Ebene der EU zählen selbst sich «liberal» nennende Parteien zu den entschiedensten Befürwortern europäischer «Harmonisierungen». Zentralisierte politische Einheiten werden für effizienter gehalten. Zweifellos: sie erleichtern den Grossunternehmen eine Anpassung an und eine Beeinflussung politischer Rahmenbedingungen. Und was als «wirtschaftsfreundlich» erscheint, gilt vielen auch als «liberal».
Die enge Zusammenarbeit zwischen Big Business und Big Government geht noch weiter. Sie erstreckt sich tatsächlich bis weit in den – vermeintlich linken – Wohlfahrtsstaat. Grosse Konzerne vermeiden gerne massive Risiken, wie die Kranken- oder Altersversicherungen ihrer vieltausend Angestellten sie darstellen. Schon seit Bismarcks Zeiten zählt Big Business darum zu den entschiedensten Befürwortern zentraler, staatlich administrierter Sozialversicherungen. So lässt sich auch manche auf den ersten Blick überraschende Parolenfassung der schweizerischen Arbeitgeber erklären. Nicht von ungefähr setzen grosse Unternehmen schliesslich gezielt und erfolgreich Lobbyisten ein, um mittels staatlicher Privilegien Wettbewerbsvorteile zu erringen – in Brüssel allein sind heute ca. 20’000 Lobbyisten tätig, darunter viele tausend Vertreter grosser Unternehmen, die die Bürokratie zu ihren Gunsten beeinflussen.
So ergibt sich eine erstaunliche Erkenntnis: Big Business und Big Government sind keineswegs Gegensätze; sie sind in Wahrheit so etwas wie Zwillingsbrüder. Beide fördern einander, profitieren voneinander. Mehr noch, möglicherweise bedingen beide Machtzentren gar einander – das eine ist nicht ohne das andere denkbar. Daraus folgt wiederum der überraschende Schluss: antikapitalistische Konzerngegner und antietatistische Regierungsskeptiker vertreten gemeinsame Ideale – und bekämpfen gemeinsame Feinde. Sie wissen es nur nicht.
Was würden die hier angestellten Überlegungen für jene WEF-Demonstranten und Attac-Mitglieder bedeuten, die die Macht des Staates gegen jene der Konzerne einsetzen wollen? Und umgekehrt: was wären die Implikationen für jene Bürgerlichen, die sich für «Privatisierungen» einsetzen, nur um dergestalt Grosskonzerne in der Luftfahrt-, Telekommunikations- oder Energiebranche zu schaffen? Kann der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben werden? Naomi Klein und Ayn Rand entpuppen sich als Schwestern im Geiste. Und doch ist damit zu rechnen, dass Rechte wie Linke auch in Zukunft ihre spezifischen Animositäten pflegen werden, nicht wissend (oder wissen wollend), dass sie im selben Boot sitzen. Schliesslich gilt: nichts ist so schmerzhaft, wie der Verlust eines Feindbilds.
* www.mps2009.org/files/Cowen.pdf (http://www.mps2009.org/files/Cowen.pdf)
Christian P. Hoffmann, geboren 1978, ist promovierter Ökonom, Projektleiter an der Universität St. Gallen und Forschungsleiter am Liberalen Institut in Zürich.